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Jenseits der Liberalisierungsthese. Individualität in Westberlin zwischen Kriegsende und Mauerbau
(2010)
Die Konzepte der Individualität und Individualisierung nehmen in der deutschen Zeitgeschichtsforschung eine wichtige, doch wenig reflektierte Stellung ein. Eine Reihe von Autoren sieht die Hinwendung zum Individuum als zentralen Aspekt der Abwendung vom nationalsozialistischen Autoritäts- und Kollektivitätsdenken, sei es in der letzten Kriegsphase, als die Deutschen „Autonomie, Eigeninteresse und Überlebenswillen“ entdeckten, oder erst in den 1950er-Jahren, als sich das Verständnis von Vaterschaft demokratisierte, Gymnasiasten und Studenten für Jazz schwärmten und sich Wünsche auf den Konsum von Waren statt auf die Eroberung anderer Länder richteten.
Mein Ziel in diesem Essay ist es, die lokale Perspektive zu nutzen, um über die Begriffe »Ostalgie« und »Nostalgie« hinauszugehen. Der genauere Blick auf lokale Räume und Praktiken bietet die Möglichkeit, Erinnerungen, die gemeinhin als Nostalgie qualifiziert werden, als Teil einer schon länger bestehenden örtlichen Erinnerungskultur zu verstehen. Wie das Beispiel des sächsischen Dorfes Neukirch zeigt – vor und nach 1989/90 –, war eine ambivalente Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes ein Mittel, um die Stärke der Gemeinschaft zu beschwören. Entgegen der in Wissenschaft und Öffentlichkeit präsenten Überzeugung erscheint Nostalgie hier nicht als eine Flucht in die Vergangenheit, sondern als ein aktives Auseinandersetzen mit der Geschichte und ihren Auswirkungen in der Gegenwart.
Jenseits des Integrationsparadigmas? Aktuelle Konzepte und Ansätze in der Migrationsforschung
(2018)
Nicht erst seit dem »langen Sommer der Migration« 2015 spielen Flucht und Zuwanderung in Politik und Wissenschaft eine zentrale Rolle. Der Migrations-
forschung kommt dabei die Aufgabe zu, das über Migration zirkulierende Wissen – zu dem sie maßgeblich beiträgt – kritisch zu reflektieren. Wie auch in anderen Ländern zeichnete sich die Migrationsforschung in der Bundesrepublik lange Zeit durch ihre starke Policy-Nähe aus. Sie hat sich in der Bundesrepublik seit den frühen 1970er-Jahren dem »Ausländerproblem« zugewendet beziehungsweise es als solches mit konstituiert, und zwar in den Parametern der Politik, des Arbeits- und Wohnungsmarkts und sukzessive weiterer gesellschaftlicher Teilbereiche. Einflussreiche Migrationsforscherinnen und -forscher wie der Soziologe Hartmut Esser fungierten als »Berater und Stichwortgeber der Politik« und lieferten anwendungsorientiertes Wissen für die staatliche Steuerung und Regulierung von Migration. In diesem Sinne ist Michael Bommes und Dietrich Thränhardt zuzustimmen, wenn sie Migrationsforschung als »rather a part of the complex of problems that it claims to describe and explain« beschreiben. Die neueren Debatten über Migration in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften zielen daher verstärkt auf eine kritische Reflexion des gegenwärtigen Verständnisses von und des Umgangs mit Migration ab und beziehen auch die eigene Wissensproduktion in diese Reflexion ein.
Jenseits von Brutalisierung oder Zivilisierung. Schule und Gewalt in der Bundesrepublik (1970–2000)
(2018)
Gewalt an Schulen wird regelmäßig skandalisiert und erscheint oftmals als Symptom einer allgemeinen Verrohung von Gesellschaft. Demgegenüber haben viele Historiker/innen gerade die Schule in das Zentrum einer Zivilisierungsgeschichte der westdeutschen Gesellschaft seit 1945 gestellt. Der Beitrag nimmt diesen Deutungswiderspruch zum Ausgangspunkt einer Analyse schulischer Gewalt zwischen den frühen 1970er-Jahren und der Jahrtausendwende. Vorgeschlagen wird eine neue Lesart, die den Gegensatz der konkurrierenden Thesen von Gewaltzunahme und Gewaltabnahme aufhebt und stattdessen die sich wandelnden Vorstellungen dessen untersucht, was »Gewalt« eigentlich sei und wie sie überwunden werden könne. Seit den 1970er-Jahren mehrten sich die Arten von Gewalt, die mit Schule in Verbindung gebracht wurden. Eine Sensibilisierung gegenüber sehr unterschiedlichen Gewaltphänomenen war verbunden mit neuen Ansprüchen an Schule und schulische Kommunikation – Erwartungen, die von Lehrer/innen und Eltern als Fortschritt erfahren werden konnten, aber auch als Zumutung und Überforderung.
Das Ende des Kalten Krieges oder wie man alt wird. Man wird unwillkürlich zum Historiker der Zeit, deren Zeitgenosse man gewesen ist. Eine Epoche ist zu Ende gegangen, und wenn man diese beschreibt, beschreibt man zugleich auch ein Stück des eigenen Lebens, und umgekehrt: Das individuelle Leben fällt mit der historischen Zeit zusammen. Das hat nichts mit Selbstliebe oder Selbstüberschätzung zu tun. Man merkt es, wenn man mit jungen Leuten zusammen ist, mit denen man über Ereignisse spricht, die vor ihrer Geburt liegen, die man selbst aber miterlebt hat. Man berichtet aus der eigenen Zeit, die ihre Vorzeit ist. Es ist lohnend, sich dieser Zeit genau zu erinnern. Die subjektive Erinnerung bewahrt Details, Nuancen, Valeurs, die im Betrieb der Geschichtsforschung entweder gar nicht vorkommen oder später, wenn man deren Fehlen bemerkt, mühsam rekonstruiert werden müssen.
Jenseits von Zeit und Raum. Flugreisewerbung in den USA und Westdeutschland während der 1970er-Jahre
(2017)
»Getaway. To places you always wanted to see but never thought you could«, lautete die Überschrift einer Werbekampagne der amerikanischen Fluggesellschaft Trans World Airlines (TWA) im Jahr 1971. In großformatigen, mit Farbfiltern hervorgehobenen Bildern von Sehenswürdigkeiten wie dem britischen Parlamentsgebäude in London, dem amerikanischen Grand Canyon oder dem Taj-Mahal-Mausoleum im indischen Agra bewarb sie Reiseziele auf verschiedenen Kontinenten.
Als reale und symbolische Grenze zwischen Ost und West im Kalten Krieg hat die Berliner Mauer internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie ist historisch gut erforscht, und seit 2011 gibt es eine mehrfach prämierte Mauer-App, die Informationen über Bau und Verlauf der Mauer, über Fluchtversuche und das Grenzregime der DDR bietet. Die Jerusalemer Mauer – in weiten Teilen eher ein Stacheldrahtzaun –, erscheint dagegen als Marginalie: Sie markierte keine global bedeutsame Blockgrenze im Kalten Krieg, sondern »nur« die Grenze zwischen dem neuen jüdischen Staat und seinen arabischen Nachbarn. Ihre Lebensdauer war mit 19 Jahren auch kürzer als diejenige ihres Berliner Pendants. Seit die israelische Regierung 2002 mit dem Bau einer Mauer zwischen Jerusalem und dem palästinensisch verwalteten Westjordanland begann, ist diese erste Mauer weitgehend in Vergessenheit geraten.
Der Massenmord an den europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg gehört heute zu den am gründlichsten erforschten Themen der Neueren Geschichte. Vor der Publikation von Raul Hilbergs Dissertation »The Destruction of the European Jews« aus dem Jahr 1954, die erst 1961 im Druck erschien und noch heute zu Recht als Standardwerk der Holocaust-Forschung gilt, fehlte es zwar nicht an Untersuchungen zum Thema, doch waren diese zunächst ganz überwiegend aus einer nationalgeschichtlichen Perspektive verfasst und deckten daher immer nur Teilbereiche des Gesamtphänomens ab. Zu den wenigen Ausnahmen im deutschen Sprachraum, die früh die politischen Aspekte des Völkermordes in Südosteuropa analysierten und damit nachdrücklich auf dessen europäische Dimension aufmerksam machten, gehörte eine heute vergessene juristische Doktorarbeit, die im akademischen Jahr 1957/58 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. angefertigt wurde.
Anhand einer Anwaltsgruppe um Kurt Rosenfeld und Theodor Liebknecht wird gezeigt, wie sozialistische Anwälte Gerichtsverfahren sowie deren öffentliche Wahrnehmung mitprägten und im Sinne der eigenen politischen Bewegung nutzbar machen konnten. Wie setzten sie juristische Verfahrensmöglichkeiten für weitergehende Ziele ein? Nach Hinweisen zu den Ursprüngen dieses Anwaltstypus und den biographischen Hintergründen der Anwälte fokussiert der Beitrag das Fallbeispiel der Berliner »Spartakusprozesse«. In diesen Verfahren gegen (angebliche) Beteiligte am Januaraufstand 1919 klagten die untersuchten Anwälte die Rechtsprechung, die neue Regierung und die bewaffnete Macht an. Schon hier stellten sie die für die Weimarer Republik zentralen Fragen nach der Legitimität und Legalität der Regierung sowie nach einer alternativen Ordnung. Deutlich wird ferner der besondere Resonanzraum für politische Strafverteidigung in Umbruchszeiten und für Anwälte, die zugleich als Politiker öffentlichkeitswirksam arbeiteten. Sozialistische Anwälte können folglich nicht auf die Rolle von Kronzeugen gegen die einseitige Justiz der Weimarer Republik reduziert werden, sondern sie waren selbstbewusste Akteure, die zur Debatte um den rechtlichen und politischen Charakter der neuen Ordnung wesentlich beitrugen.
In der Fülle an Literatur über Strafprozesse gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher nimmt ein Buch einen besonderen Platz ein: Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“. Kaum ein anderes Werk zu diesem Thema hat derart kontrovers geführte und lange nachwirkende Diskussionen ausgelöst. Bis heute wird Arendts Buch als eines der ersten zur Hand genommen, wenn es um den 1961 in Jerusalem durchgeführten Prozess gegen Adolf Eichmann geht, den ehemaligen SS-Obersturmbannführer und Leiter des für die Organisation der Vertreibung und Deportation der Juden zuständigen Referats des Reichssicherheitshauptamtes. Viele andere Arbeiten über den Fall Eichmann sind heute dagegen nahezu vergessen oder nur einem engeren Publikum bekannt.