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Woher eigentlich wissen Menschen, was sie fotografieren sollen, welche Bilder sie auswählen und wie Fotos in Alben eingeklebt und als individuelle Lebenserzählung gestaltet werden?
Die soziale Praxis des Sammelns von Bildern in Fotoalben folgt sowohl familiären als auch persönlichen Vorbildern und Vorlieben. Trotzdem weist ein großer Teil der mir bekannten Alben eine relativ hohe Ähnlichkeit in Struktur, Gestaltung und Inhalt auf. Es gibt also traditionelle Konventionen, die der Gestaltung eines Albums häufig zugrunde gelegt werden. Aber es gibt auch individuelle Eigenheiten innerhalb eines Albums, den Versuch, das Album zu einer geschlossenen Erzählung, häufig mit einem konkreten Anfang und einem Ende, zusammenzufügen. Diese „Handschrift“ des/der Albenautors*in bleibt auch über historische Zäsuren hinweg wie 1945 erstaunlich gleichförmig: nicht selten sitzen die gleichen Personen nur minimal verändert an der heimischen Kaffeetafel. Häufig sind die Motivationen und der Zeitpunkt ein Fotoalbum rückblickend zu erstellen der bilanzierende Abschluss einer Lebenszeit oder der Beginn einer neuen Phase, deren Bedeutung für das eigene Leben als hoch eingeschätzt wird, etwa die Militärzeit, die Hochzeit oder die eigene Familiengründung.
Im Geist der fotografischen Amateurbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehen einige private Fotograf*innen über die Produktion privater Erinnerung und persönliche Bilanzierung der sinngebenden Lebensleistung hinaus und machen das Fotografieren selbst zu ihrem leidenschaftlich ausgeübten Hobby. Diese engagierten Fotoamateur*innen setzen sich gezielt von vermeintlich unambitionierten Knipser*innen ab. Ihre Fotos haben einen halböffentlichen Charakter und erreichen ein größeres Publikum als die Familie und engste Freund*innen. Die fotografierenden Amateur*innen bemühen sich um Austausch untereinander und um Anerkennung von ästhetischer Gestaltung und technischer Beherrschung der Kamera und des fotografischen Prozesses. Einige organisieren sich in fotografischen Vereinen und Zirkeln und lesen spezielle Zeitschriften, Fach- und Ratgeberliteratur und streben nach der Optimierung ihrer Bilder.
Wer die lange Geschichte der „Wende“ und den Zusammenhang von Lebenswelt und Systemwechsel erforschen will, sieht sich mit einer Zweiteilung der Quellenüberlieferung konfrontiert. Während für die Phase bis 1989 und auch die Epochenzäsur 1989/90 häufig klassische Archivakten bereitstehen, ist die Überlieferung für die Zeit danach überwiegend von den Forschungsdaten der Sozialwissenschaften geprägt. Es ist also interdisziplinäres Arbeiten gefragt. Dabei geht es nicht nur um die geschichtswissenschaftliche Nutzung und Interpretation „fachfremder“ Quellen oder den Rückgriff auf Methoden anderer Disziplinen, sondern auch um die Weiterentwicklung von Methoden gemeinsam mit Wissenschaftler*innen anderer Fachrichtungen. Drei Szenarien seien hier skizziert.
In demokratischen Gesellschaften ist Courage wohlfeil - obwohl es selbst dann für Wissenschaftler und (andere) Intellektuelle durchaus Mut braucht, kritische Positionen gegen den Mainstream zu formulieren, wenn der Arbeitsmarkt überfüllt ist und Anpassung mit Karriere honoriert wird. In Zeiten der Unfreiheit riskieren couragierte Menschen die ökonomische Existenz und manchmal auch Leib und Leben. Die Zeit der größten Unfreiheit in der deutschen Geschichte waren ohne Zweifel die zwölf Jahre, die das "Tausendjährige Reich" überdauerte. Ich werde mich im Folgenden einer Persönlichkeit zuwenden, deren hohes wissenschaftliches Renommee unbestritten ist, deren politisch-moralische Positionierung zwischen 1933 und 1945 jedoch in einem merkwürdigen Halbdunkel verschwimmt. Es geht um Max Planck, den weltberühmten Physiker, der auch während der NS-Zeit wichtige wissenschaftspolitische Ämter innehatte. Nämlich von 1930 bis 1937 als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KGW) amtierte und nach 1933 innerhalb der Preußischen Akademie der Wissenschaften seine Funktion als einer der vier beständigen Sekretäre, in die er am 23. März 1912 für die mathematisch-physikalischen Klasse gewählt worden war, beibehielt.
Wie der Marxismus-Leninismus die Ideengeschichte des Bildes prägte, ist in der Forschung bislang kaum gefragt worden. Auch oder gerade in den vergangenen zwanzig Jahren nach dem Mauerfall war für Probleme dieser Art nur sehr vereinzelt Platz.
Fehlte der nötige historische Abstand, um in den politisch sensiblen, stets xistentielle Fragen der Identität berührenden Debatten der deutschen Wiedervereinigung subtile Fragen dieser Art an den Kalten Krieg zu richten? Bedarf es überhaupt dieser Abstände und des Pathos der Distanz, um sich politischen Phänomenen und aktuellen Ereignissen als Historiker wissenschaftlich stellen zu können? Das vorläufige Ausbleiben des Interesses am politischen Bild nach 1990 ist wissenschaftsgeschichtlich aus mehrerer Hinsicht interessant und wirft ein Licht auf die asynchron verlaufende Entwicklung von
Bildpraktiken, Bildpolitiken und Forschungsparadigmen.
Anthropozän
(2022)
Seit der Jahrtausendwende wird das „Anthropozän“ in den Natur- und Geisteswissenschaften sowie in Medien und Kunst breit und kontrovers diskutiert. Ariane Tanner erläutert die Begriffsgeschichte und zeigt auf, wie das Konzept Anthropozän der Zeitgeschichte erlaubt, über Zeitlichkeit und Akteur*innen der Geschichte neu nachzudenken und ihre Forschungsfragen, Methoden und Narrative auszuweiten.
Der Beitrag gibt einen Überblick über die Begriffsgeschichte des Antifaschismus und das dazugehörige Forschungsfeld. Ziel der Ausführungen ist es, einige Entwicklungen der internationalen Literatur und Potenziale des „transnational turn“ in Bezug auf das Thema herauszuarbeiten. Räumlich konzentriert sich der Beitrag auf die historischen Ursprungsländer Italien und Deutschland. Zugleich öffnen europäische und globale Seitenblicke vergleichende und beziehungsgeschichtliche Perspektiven.
Antikommunismus
(2017)
Mit der Ausbreitung des Kommunismus, mit der Diffusion von Ideologien und Bewegungen waren Abstoßungseffekte, d.h. die Entstehung von Gegenideologien und Gegenbewegungen verbunden. Der Beitrag von Bernd Faulenbach behandelt „Antikommunismus” als historische Kategorie. Er thematisiert zunächst seine Entstehung seit 1917, dann werden die Epochen des Antikommunismus dargestellt bis hin zur Auseinandersetzung mit dem Kommunismus seit der Epochenwende 1989-91. Abschließend erörtert er den Forschungsstand und offene Fragen.
Der Kalte Krieg war konstitutiv für die Mentalität der frühen Bundesrepublik Deutschland. In den 1950er Jahren war die innere Entwicklung Westdeutschlands - politische Konsolidierung, gesellschaftliche Stabilisierung, ideelle Institutionalisierung etc. — untrennbar verbunden mit den spezifischen Bedingungen und Vorgaben der Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West. Dies bezog sich etwa auf das zunächst noch überlebensnotwendige Interesse der USA an dem ehemaligen Feindstaat einschließlich massiver ökonomischer, außenpolitischer und sozialpsychologischer Unterstützung der neuen westdeutschen Eliten, was in einer (relativ) bedingungslosen Westintegration mitsamt einem auf der „Politik der Stärke“ fußenden System der militärisch-strategischen Einbindung umgesetzt wurde. Die Vorstrukturierung der außen- wie innenpolitischen Optionen durch die bipolare Weltordnung schloss daneben Zurückwendungen in die Taktiken der Vorkriegsdiplomatie, aber auch alle politischen Experimente im Sinne eines „Dritten Weges“ aus. Schließlich konnten durch die fundamentale Ablehnung des sowjetisch dominierten Diktatursystems auch erste, wenngleich nur provisorische Grenzen zum NS-System gezogen werden; diese - theoretisch mit Totalitarismuskonzepten unterfütterten - Demarkationen ermöglichten den demokratischen Institutionen zunächst relativ sichere, wenngleich nur bescheidene und eindimensionale Entwicklungsspielräume.
Der polnische Antiliberalismus der 1920er- und 1930er-Jahre versteckte sich in den Formen des polnischen „Patriotismus“, des klassischen „Unabhängigkeitskämpfers“, in dem Wunsch, staatliche Souveränität durch Teilföderationen mit den Nachbarländern abzusichern. Politische Eliten im Polen der Zwischenkriegszeit haben keine Alternative dazu gesehen, mit Europa anders zu sprechen als aus der Position eines „starken“ Partners. Und diese Position glaubten sie nicht durch demokratische Reformen erreichen zu können, nicht durch einen liberalen Umgang mit den Minderheiten, nicht durch bilaterale oder transnationale Zusammenarbeit, sondern durch die Wiederbelebung der Idee der multinationalen Jagiellonischen Union. Sie war ihnen als „Vorstufe“ einer europäischen Integration genug. Näher erläutert werden zwei konkurrierende Varianten der antiliberalen Grundtendenz: Roman Dmowskis nationalistischer, pro-westlicher Entwurf einer mitteleuropäischen Föderation sowie Jozef Piłsudskis autoritärer Entwurf eines slawischen Großraums zwischen Deutschland und Russland.
Die Historiographie zur Entwicklung des heutigen Europa wird vom Fluchtpunkt unserer Gegenwart bestimmt, d.h. vom gegenwärtigen Leitbild europäischer Integration: ein demokratisches, rechtsstaatlich geordnetes, auf wirtschaftlichen Freiheiten, wachsendem Wohlstand und freiwilliger Mitgliedschaft beruhendes politisches Gebilde, das von gemeinsamen Werten im Kanon klassischer Freiheitsrechte und der Verpflichtung zum Frieden bestimmt ist. Darin spiegelt sich die Abkehr von der extremen Gewalt, dem scharfen Nationalismus und der freiheitsvernichtenden staatlichen Lenkungspolitik während der ersten Jahrhunderthälfte.
Antisemit und Autokönig. Henry Fords Autobiographie und ihre deutsche Rezeption in den 1920er-Jahren
(2010)
Henry Ford gilt als ein Symbol der Moderne – er gab einer kapitalistischen Wirtschaftsform, dem Fordismus, den Namen. Fords Prominenz ist nicht zuletzt auf zwei Bücher zurückzuführen, die nach dem Ersten Weltkrieg unter seinem Namen erschienen und breit rezipiert wurden: „Der internationale Jude“ sowie „Mein Leben und Werk“. Beide Bücher verdanken sich Fords politischem Ehrgeiz und wurden als Vorschläge zur Gesellschaftsreform diskutiert. Ein Kernelement des Ford’schen Programms war massiver Antisemitismus: Erst eine auf der Betriebsgemeinschaft aufgebaute Gesellschaft ohne Händler, Bankiers und Intellektuelle – die mit Juden gleichgesetzt wurden – könne gerecht sein. Die Rezeption dieser Gesellschaftsvision in deutschsprachigen Zeitschriften der 1920er-Jahre legt die breite Akzeptanz von Antisemitismus und autoritären Strukturen offen. Während Ford seinen Antisemitismus nie verbarg, wird er auch in der seit 1945 geführten Diskussion über Fordismus nur als „Autokönig“ gesehen.
Als im Herbst 2017 der Berliner Antisemitika-Sammler Wolfgang Haney starb, wurden verschiedene Personen und Institutionen unruhig. Was wird aus der Sammlung? Kommt sie auf den Markt und geht als Gesamtwerk verloren? Welche Akteure und Logiken treten auf den Plan und konkurrieren um die ganze Sammlung oder um Einzelobjekte? Werden die Dauerleihgaben, die in großen Museen gezeigt werden, auf der Stelle zurückverlangt? Gibt es für öffentliche Einrichtungen Handlungsspielraum? Können, dürfen, sollen Steuergelder in den Ankauf judenfeindlicher Artefakte fließen? Wie werden sich die Erben verhalten?
Als im Mai 2018 die „Süddeutsche Zeitung“ eine Karikatur des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu veröffentlichte, waren zahlreiche Leser*innen schockiert. Sie sahen in der Zeichnung einen Wiedergänger einer „Stürmer“-Zeichnung in einem Leitmedium der deutschen Presselandschaft. Andere konnten darin keinen Antisemitismus erkennen, sondern beurteilten die Zeichnung als israelkritisch, nicht jedoch als antisemitisch. Vor allem Tagespresse und soziale Medien führten diese Auseinandersetzung, mehrere Beschwerden gingen beim deutschen Presserat ein. In der medialen und presserechtlichen Auseinandersetzung wurde die jeweilige Klassifikation mit verschiedenen Argumenten begründet, ohne grundsätzliche Kriterien für die Beurteilung einer karikaturistischen Darstellung als antisemitisch oder nicht zu formulieren. Dies verwundert nicht: Skandalisierung bzw. Legitimierung waren die Ziele in den unmittelbaren Reaktionen auf die Karikatur und nicht eine möglichst differenzierte Auseinandersetzung.
Das Wort „Antisemitismus" dient einerseits als Oberbegriff für jede Art von Judenfeindschaft. Andererseits charakterisiert es im engeren Sinne, als Wortbildung des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, eine neue, pseudowissenschaftlich und nicht religiös, sondern mit „Rassen"-Eigenschaften und -Merkmalen argumentierende Form des antijüdischen Vorbehalts. Von diesem modernen Antisemitismus ist der religiös motivierte, ältere Antijudaismus zu unterscheiden.
Antiziganismus
(2020)
Bisweilen bestechen Bilder erst durch das, was auf ihnen nicht zu sehen ist. Die Art und Weise, wie das Abgebildete eingeordnet und ergänzt, wie aus dem Ausschnitt ein Panorama, aus dem Augenblick eine Geschichte wird, offenbart oftmals mehr über die Wirkweisen von Bildern als diese selbst. So auch im Fall von „Maria“, einem jungen Mädchen, dessen Porträt aus einer Wohnsiedlung von Rom*nja in der griechischen Stadt Farsala im Herbst 2013 weltweite Wogen schlug.
Die südafrikanische Apartheid ist zum Bestandteil des »kollektiven Gedächtnisses« nationaler und transnationaler Erinnerungskulturen geworden. Dies betrifft nicht allein die Ereignisse in Südafrika selbst, sondern auch die weltweiten Diskussionen über den Umgang mit der Apartheid, die in den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen ebenso wie in einzelnen Ländern geführt wurden. Die seit den 1960er-Jahren zunehmende weltweite Ächtung der Apartheid als rassistisches Regime hing zusammen mit einem Anwachsen von Anti-Apartheid-Bewegungen in zahlreichen Ländern und neuen Legitimationen westlicher Außenpolitiken. Von den sowjetisch kontrollierten, aber auch skandinavischen Ländern wurden die Befreiungsbewegungen – vor allem der African National Congress (ANC) – materiell unterstützt. Die Auseinandersetzungen über Apartheid und den Umgang mit einem Land, in dem Menschenrechtsverletzungen gesetzlich abgesichert waren, trugen in einem erheblichen Maße zur Etablierung der Menschenrechte als international verbindlicher Norm bei. Das Thema Apartheid bietet die Möglichkeit, transnationale Verflechtungen und gesellschaftliche Wahrnehmungen vertiefend auszuloten sowie die Bedeutung der 1970er- und 1980er-Jahre für die Ausbildung einer »reflexiven Moderne« zu erkunden.
In der Anti-Apartheid-Bewegung spielte Musik als politisches Medium eine herausragende Rolle, besonders in den 1980er-Jahren. Auf der Basis von Quellenmaterial aus England und aus Südafrika untersucht der Aufsatz die Kontroverse um Paul Simons Album »Graceland« (1986) vor dem Hintergrund des Kulturboykotts. Dieser sollte das Apartheid-Regime auf dem Gebiet der Kultur isolieren, wurde aber seit Mitte der 1980er-Jahre von der Opposition innerhalb Südafrikas immer mehr als Fessel betrachtet. Der African National Congress (ANC) betrieb eine Modifikation des Boykotts – gegen den Widerstand der britischen Anti-Apartheid-Bewegung. Die Kontroverse um »Graceland« steigerte noch die Verwirrung: Es gab unterschiedliche Meinungen zu der Frage, ob Simon durch seine Zusammenarbeit mit südafrikanischen Musikern den Kulturboykott gebrochen habe und wie dies eventuell zu sanktionieren sei. Der Versuch, in Zeiten gesteigerter Medialisierung grenzüberschreitende kulturelle Ströme durch politische Instanzen kontrollieren zu wollen, war letztlich zum Scheitern verurteilt.
Über die Jahrhunderte wurde Arbeit in Europa zur ethischen Pflicht, zum Lebenssinn und zum Menschenrecht aufgewertet. Auf diesem Hintergrund gewann die Kritik an der schlechten Realität der Arbeit im Kapitalismus im 19. Jahrhundert ihre große historische Kraft. Sie verband sich mit der Hoffnung und dem Versprechen, in einer zukünftigen klassenlosen Gesellschaft Gerechtigkeit, Solidarität und Menschenwürde für alle zu verwirklichen. Der Arbeiter und die Arbeiterklasse galten als Motoren des historischen Fortschritts, als Träger einer historischen Mission, auch und gerade im Bolschewismus. Das 20. Jahrhundert hat diese Hoffnungen weitgehend zerstört. Aber überlebt nicht doch manches davon in der heutigen Arbeitsgesellschaft, die sich derzeit grundlegend verändert und deren Zukunft gestaltet werden kann?
Wo liegen heute die Perspektiven einer Geschichte der Industriearbeit? Über einige Jahre hinweg ging von diesem Themengebiet wenig Reiz aus: Gewiss gab es einige wichtige Detailstudien, aber große methodische Neuerungen blieben weitgehend aus. Letztlich kann dieser Befund nicht verblüffen, da gerade die 1970er und 1980er Jahre ein – damals in diesen Ausmaßen neues – Interesse an der Arbeiter- und Industriegeschichte hervorgebracht hatten, das gleichzeitig von methodischer Innovation mit Strahlkraft auf die gesamte Geschichtswissenschaft geprägt gewesen ist. In Deutschland konnte sich überhaupt erst im Zuge dieser Entwicklung die Sozialgeschichte etablieren.
Mit dem „rheinischen“ Kapitalismus ist in den vergangenen Jahren auch das bundesdeutsche Modell der Sozialpartnerschaft in die Krise geraten. Dies wirft neue Fragen nach seiner Entstehung als eines westeuropäischen Sonderfalls auf. Ein wichtiges, bisher jedoch wenig beachtetes Problem bestand in der ideellen und institutionellen Einbindung der Industriearbeiter, die der neuen bundesdeutschen Ordnung zunächst vielfach distanziert gegenüberstanden. Anhand einer Fallstudie zur kommunistischen Bewegung im Ruhrgebiet beleuchtet der Aufsatz den mentalen und habituellen Wandel der Arbeiterschaft nach 1945 sowie die institutionellen Konsequenzen dieses Wandels. Die deutsch-deutsche Systemkonkurrenz mit dem „Arbeiterstaat“ DDR hatte dabei besondere Bedeutung. Die „nationale“ Deutschlandpolitik der DDR zerstörte einerseits ungewollt das kommunistische Betriebsmilieu und förderte den Niedergang direkten, autonomen Betriebshandelns. Andererseits verstärkte die kommunistische Herausforderung Bemühungen um eine positive Einbindung der Arbeiterschaft durch Gewerkschaften, Industrie und Staat. Angesichts einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber der politischen Reife der Arbeiter und in Abwehr der SED-Politik erneuerte sich die gewerkschaftliche Arbeit; sie verstand sich zunehmend als institutionalisierte Konfliktbewältigung durch professionelle Verbändepolitik. Infolgedessen waren die westdeutschen Gewerkschaften nicht länger Weltanschauungsgemeinschaften.
Arbeitergeschichte
(2010)
Nach zwölf Jahren Naziherrschaft war Deutschland, von außen betrachtet, ein in hohem Maße befremdendes Land. Beobachter aus den Reihen der Alliierten maßen das nazistischer Barbarei anheimgefallene, hochindustrialisierte Land fast zwangsläufig mit ethnologischem Blick - so auch der zum Zeitpunkt der Befreiung 28-jährige US-amerikanischen Nachrichtenoffizier Daniel Learner, der Anfang April 1945 eine Informationsreise durch die von den Ame1ikanern bereits besetzten Teile des Ruhrgebiets unternahm. Seine Eindrücke faßte er in einem Bericht zusammen.
Als Brigitte Reimann, die literarische Chronistin des Aufbaus von Hoyerswerda-Neustadt, 1968 die Stadt nach einem knappen Jahrzehnt wieder verließ, schreibt sie voller Verwunderung: „Merkwürdig, wie man sein Herz an diese öde Landschaft gehängt hat, an diese unmögliche Stadt, an die Leute, an - Gott weiß was. Wenn ich denke, daß nur ein paar Blöcke in einer Sandwüste standen, als wir hierherkamen, und jetzt ist es eine Stadt von fast sechzigtausend Einwohnern, und das Kombinat ist ein riesiger Komplex geworden.“ Nicht nur die sensible Schriftstellerin besaß ein zwiespältiges Verhältnis zu dieser Stadt, sondern dieses Gefühl zwischen Zuwendung und Ablehnung ist heute noch bei der Aufbaugeneration verbreitet; der Stolz auf das Geleistete herrscht vor, wobei die triste Gegenwart zur Verklärung der Vergangenheit beiträgt. Der Chefarchitekt von Hoyerswerda betrachtete sein Werk bereits 1963 mit einer gewissen Trauer: „Er hat sich seine Stadt auch anders vorgestellt. Er sagt, er habe sich vorgestellt, er werde eine wunderschöne Stadt bauen und später, wenn er alt ist, zuweilen aus Dresden rüberkommen, die Straße entlanggehen und in seiner Stadt Kaffee trinken. Die Mittel für die zentralen Bauten sind rigoros gestrichen worden.“
Die Geschichte der mittel- und osteuropäischen Arbeiterschaft in der Zeit vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der kommunistischen Parteidiktaturen gehört nicht zu den besonders gut erforschten Segmenten moderner Arbeitsgesellschaften. Dabei schlagen nicht so sehr quantitative Defizite und methodische Probleme zu Buche. Vielmehr wirken noch immer Wahmehmungsmuster aus der Zeit des Kalten Krieges nach. Die seit den fünfziger Jahren entwickelten Argumentationslinien ließen die Arbeiter in den Ländern und Gesellschaften des sowjetischen Blocks aus der westlichen Perspektive zumeist in einem mehr oder weniger manifesten Dauerkonflikt mit den Parteiregimes erscheinen. Diese wiederum beanspruchten, nicht nur selbst ein Teil der Arbeiterklasse zu sein, sondern auch als deren Avantgarde bei der Erfüllung einer historischen Mission aufzutreten. Ihre offizielle Historiographie war auf dieses Erklärungsmuster festgelegt. Solche apologetischen Positionen wurden nach 1989 nahezu völlig aufgegeben. Allenfalls im Verweis auf soziale Sicherheit der Arbeiterexistenz im Realsozialismus finden sich Anklänge daran. Statt dessen neigte sich das Pendel in die Richtung eines „historischen Turpismus“. In seinem Licht erschien der Arbeiteralltag im sowjetischen Macht- und Einflußbereich als permanente Misere. Solche bipolaren, an den einfachen Koordinaten des Kalten Krieges orientierten Interpretationen traten seit Mitte der neunziger Jahre gegenüber einer differenzierteren Sicht auf die Arbeitergeschichte Mittel- und Osteuropas etwas zurück. Inzwischen dominiert eine eher ambivalente Perzeption. Ihr zufolge war der Arbeiterschaft durchaus ein gegen die Parteidiktaturen gerichtetes Resistenzpotential eigen, doch blieb sie auch um Arrangements mit den Machteliten nicht verlegen.
»Kern/Schumann I und II« sind wichtige Quellen für den Wandel der Arbeitswelt, allerdings können die Studien aufgrund ihres spezifischen Untersuchungsdesigns nur auf bestimmte geschichtswissenschaftliche Fragen Antworten geben: Sie konzentrierten sich auf Erwerbsarbeit und besonders auf die industrielle Stammbelegschaft. Begrenzt erkennbar sind deshalb Erfahrungen von Migranten und Frauen sowie unterschiedliche Beschäftigungsarten und -bereiche. Hierzu versprechen andere SOFI-Studien mehr Auskunft.[52] Die Vorstellung von »Kern/Schumann I und II« in diesem Beitrag ist verbunden mit einem Plädoyer, die große Vielfalt der SOFI-Studien für Zwecke der Geschichtswissenschaft zu nutzen.
Arbeitsverfassung
(1998)
Die Regeln, nach denen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber als soziale Kontrahenten formieren und ihre Interessen zur Geltung bringen, und ebenso die Modalitäten, nach denen die Arbeitsbeziehungen einem realen oder fiktiven gesamtgesellschaftlichen Interesse zu- und untergeordnet werden, berühren in allen hochindustrialisierten Gesellschaften immer auch den Kern des politischen Gesamtsystems. Zugleich spiegeln die jeweiligen Arbeitsverfassungen das Selbstverständis der herrschenden Eliten wie die allgemein-politischen Konstellationen. Dies gilt nicht zuletzt für die drei deutschen Gesellschaftssysteme, die hier zur Debatte stehen.
Archiv der Poeten. Eine Anthologie zur Geschichte des lyrischen Sprechens – und der Aufnahmetechnik
(2011)
Mit der Erfindung des Phonographen durch Thomas Alva Edison im Jahre 1877 wurde möglich, was bis dahin ins Reich der Fantasie gehörte: die Speicherung von Schall und Klang. Damit wurde wiederholt und jederzeit abrufbar, was zuvor nur in seiner flüchtigen Einmaligkeit zu vernehmen war: die Stimme, oder konkreter: Gesungenes und Gesprochenes. Gereimtes war es, was Edison als Beweis für das Funktionieren seiner Technik in den Schalltrichter des Sprechapparates hineinrief: „Mary had a little lamb. Its fleece was white as snow. And everywhere that Mary went, the lamb was shure to go.“ Auch wenn diese Aufnahme nicht mehr existiert, da sich die ersten Wachswalzen bloß ein- bis zweimal abspielen ließen, kann man von der Geburt der Tonaufnahme aus dem Geiste des Gedichts sprechen.
Szenen aus einem Werbeclip sind mit der russischen Invasion Realität geworden: Taxifahrer und Geologiestudenten, Väter und Söhne, Programmierer und Vorarbeiter, Fußballfans und Nachbarn verteidigen mit Waffen ihre Heimat, wo russische Bomben Wohngebiete, Krankenhäuser, Kirchen und Museen treffen. Für Gesellschaften jenseits der Ostgrenze der EU ist es atemberaubend solche Taten anzusehen. Zugleich bemühen sich hier viele, Hilfe zu leisten durch Geld- und Sachspenden, Hilfsdienste an Bahnhöfen und Angebote für die Aufnahme des größten Flüchtlingsstroms, den Europa seit 1945 gesehen hat. Auch die Wissenschaft ist nicht untätig geblieben.
Zugleich hat dies alles historische Dimensionen. Dementsprechend haben Historiker:innen in der Ukraine ein Soundarchiv gegründet, um die Auswirkungen des Krieges in Podcasts zu dokumentieren. Hier spielt das renommierte Center for Urban History in Lwiw eine zentrale Rolle; es sammelt zugleich private Aufnahmen vom Kriegsalltag für sein Urban Media Archive. Und es hat ein Oral History Projekt gestartet, um die Erfahrungen der ersten Kriegstage weiter zu dokumentieren. Aber auch in Kiew und anderen Städten scannen Archivar:innen fieberhaft die Bestände – Bomben- und Granatangriffen zum Trotz.
Dabei ist nicht zu vergessen, dass all diese Menschen nicht nur Kämpfer:innen und Geflüchtete sind. In ihren Heimatstädten stehen Lebensräume, Erinnerungsorte und Gedächtnisspeicher unter Beschuss, die ihr Leben geprägt haben. Sie bei der Bewahrung und dem (Wieder-)Aufbau dieser Speicher zu unterstützen, ist die Kernaufgabe einer europäischen Geschichtswissenschaft.
Das Ausstellungskonzept „Talents“ ist ein Förderprogramm für junge Fotografen und Kunstkritiker. Es wird seit 2006 jährlich von c|o Berlin ausgeschrieben und vom Gründungspartner Deutsche Börse AG finanziell unterstützt. Das Thema der Ausschreibung ist jeweils vorgegeben und besitzt in der Regel einen weiten Interpretationsrahmen. Die Jury dieses Talentwettbewerbs besteht aus Kuratoren, Bildwissenschaftlern, Journalisten und Fotografen. Bewertet wird, laut Selbstbeschreibung, die Umsetzung des vorgegebenen Themas in ein „inhaltlich und ästhetisch qualitativ hochwertiges“ Werk.
Die Ausschreibung mit dem Thema „Memories“ gewann – neben den weiteren Preisträgern Iveta Vaivode, Marc Beckmann, Krzysztof Pijarski – der 1981 in Halle geborene Emanuel Mathias. Seine Arbeit mit dem Titel „Kunst, Freiheit und Lebensfreude“ ist derzeit in den Ausstellungsräumen von c|o Berlin in der Nähe des Bahnhof Zoo zu sehen.
Als bekannt wurde, dass Sebastião Salgado als erster Fotograf den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2019 bekommt, hatte ich das Gefühl, dass er medial vor allem durchgewinkt wurde, obwohl seine Art zu fotografieren innerhalb der Fotografie und Fototheorie stark polarisiert, weil er wie kaum ein zweiter Künstler die Fotografie mit ihren Dichotomien konfrontiert. Er ist Amateur und Profi, Fotojournalist und Kunstfotograf; er produziert nicht nur Fotografie, er vertreibt und kuratiert sie auch; er ist – zusammen mit seiner Frau – seine eigene Agentur und thematisch sowohl konservativ und religiös, als auch an zeitgenössischen Diskursen interessiert. Andere Dualismen sind die zwischen barock und schwarz-weiß, zwischen emotional und ästhetisch distanziert. Sie zeigen sich auch in der Rezeption, je nachdem, von welcher Seite er betrachtet wird. Denn dokumentarische Praktiken werden im Fotojournalismus anders diskutiert als im Kunstbetrieb.
Armut
(2023)
Allgemein betrachtet, beschreibt Armut einen Zustand am unteren Ende einer sozialen Hierarchie, der sich mit eingeschränkten Ressourcen sowie verminderten Mobilitäts- und Lebenschancen verbindet. In diesem Beitrag wird zunächst ein Überblick über gebräuchliche definitorische Annäherungen gegeben, ehe die bisherigen Schwerpunkte (zeit-)historischer Beschäftigung nachgezeichnet werden. Hiervon ausgehend, werden Perspektiven und Desiderate der gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen Armutsforschung erörtert, und zwar unter Berücksichtigung der methodisch-konzeptionellen wie heuristisch-quellenkritischen Herausforderungen und Chancen, die sich mit einer Zeitgeschichte der Armut verbinden.
Armut in China. Anspruch und Wirklichkeit der chinesischen Agrarpolitik seit den 1950er-Jahren
(2022)
Es sind vor allem die Erfolge bei der Überwindung der Armut, die der von der chinesischen Kommunistischen Partei unter Xi Jinping geführten Regierung Legitimation im Inneren und internationale Reputation verschaffen. Diese Erfolge werden von Institutionen wie der Weltbank oder der UNESCO bestätigt, die in ihren Veröffentlichungen die Zahl von über 800 Millionen Menschen nennen, die in China ab 1978 »aus der Armut gehoben worden« seien. Aber wie plausibel sind solche Erfolgsmeldungen? Die Analyse einer Vielzahl von Quellen zur Entwicklung der Armut seit den 1950er-Jahren zeigt, dass die Armutsdaten unzuverlässig und widersprüchlich sind. Des Weiteren wird deutlich, dass die sich wandelnden Strategien für die Landwirtschaft nicht das Ziel hatten, die Armut zu überwinden. Vielmehr sollte die staatliche Agrarpolitik vor allem billige Arbeitskräfte und finanzielle Ressourcen für Investitionen in Industrie und Infrastruktur bereitstellen. Nicht die agrarpolitischen Maßnahmen des chinesischen Staates, sondern die ländliche Bevölkerung selbst sorgte durch vielfältige Aktionsformen und Anpassungsstrategien für eine bescheidene Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Entgegen dem ersten Augenschein in den glitzernden Metropolen ist China weiterhin kein reiches Land. Nach wie vor bildet die Armut der Landbevölkerung die strukturelle Voraussetzung für das industrielle Wachstum.
Verlagstext, s. http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-04503-6.html: "In seinem kurzen Leben behauptete sich der Historiker und Politiker Arthur Rosenberg (1889-1943) auf verschiedenen Gebieten. Geboren und aufgewachsen im kaiserlichen Berlin, erwarb er sich früh einen guten Ruf als Althistoriker. Nach dem Bruch mit seinem Herkunftsmilieu, dem assimilierten jüdischen Bürgertum und der deutschnationalen Gelehrtenwelt, wurde er ab 1918 ein führender kommunistischer Politiker, der dem Reichstag und der KPD-Spitze angehörte und dort ultralinke Positionen vertrat. Mitte der zwanziger Jahre gelangte er zu einer realistischeren politischen Haltung und verließ 1927 die KPD. In den folgenden Jahren profilierte er sich als Zeithistoriker und unabhängiger Marxist. Er starb 1943 im New Yorker Exil. Seine Bücher über Aufstieg und Fall der Weimarer Republik, zur Geschichte des Bolschewismus und über Demokratie und Sozialismus übten und üben noch immer einen bemerkenswerten Einfluss auf die intellektuellen Debatten zu diesen Themen aus. Die vorliegende Biographie Arthur Rosenbergs zeichnet auch seine wechselvollen Positionen zum Judentum und zum Zionismus nach."
Aspekte einer Theorie der auditiven Kultur. Ästhetische Praxis zwischen Kunst und Wissenschaft
(2010)
In den letzten Jahren wurde viel über die Situation in
den Geisteswissenschaften diskutiert, zur Debatte stand ein Paradigmenwechsel – die Idee der Geisteswissenschaften sollte durch die der Kulturwissenschaften ersetzt werden. Das Bestreben, die aktuellen Lebensverhältnisse in ihren kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Erscheinungsformen zum Thema der Wissenschaft zu machen, hatte zunächst, so könnte man die Entwicklung im 20. Jahrhundert zusammenfassen, die Neugründung von Wissenschaften zur Folge. Dazu gehören, mit unterschiedlichen Akzentuierungen und Orientierungen, Politologie und Soziologie ebenso wie etwa auch die Anthropologie. Diese Entwicklung setzte sich jedoch weiter fort. Die aktuelle Diskussion resultiert daraus, dass nun auch Bereiche erfasst sind, in denen traditionell ein anderes Wissenschaftsverständnis herrscht, nämlich das der Geisteswissenschaften.
Atomisierung, Entmündigung, Zwangsorganisation. Arbeitsrecht und Arbeitsverfassung im Dritten Reich
(2013)
Die Arbeitsverfassung des Dritten Reiches zielte in ihrem Kern auf die "vollkommene Atomisierung der deutschen Arbeiterklasse", so der sozialdemokratische Politikwissenschaftler Franz Leopold Neumann 1942 in seinem berühmten "Behemoth". Und in den Deutschland-Berichten der SOPADE hieß es bereits 1935: "Das Wesen der faschistischen Massenbeherrschung ist Zwangsorganisation auf der einen, Atomisierung auf der anderen Seite." Atomisierung und eine zugleich repressive wie sozialpaternalistische Integration der Arbeitnehmerschaft in eine rassistisch definierte "deutsche Volks- und Leistungsgemeinschaft" - in diese Formel lassen sich auch die Grundintentionen fassen, nach denen das NS-Regime die neue Arbeitsverfassung und ebenso das Arbeitsrecht zu strukturieren versuchte. Was aber heißt dies konkret? Wie erfolgreich waren das Hitler-Regime und die nationalsozialistischen Arbeitsrechtler bei der Verwirklichung dieser Ziele? Zu diskutieren ist in diesem Zusammenhang außerdem, ob (und inwieweit) sich die Arbeitsmarktkonstellationen, (sonstige) Tarifverhältnisse und innerbetriebliche Sozialbeziehungen auf Dauer überhaupt autoritär-zentralistisch regulieren lassen.
Ich werde zunächst einen knappen Überblick über die soziale wie politische Zusammensetzung der Abgeordneten geben. Danach werde ich zwei wichtige Debatten und Beschlüsse ausführlicher skizzieren - und zwar zwei Debatten vom Spätsommer und im Herbst 1848, die einerseits ein Schlaglicht werfen auf das ausgeprägt radikalliberale Selbstverständnis der Preußischen Nationalversammlung und andererseits zugleich bedeutsam sind mit Blick auf das Ende der Berliner und damit der Preußischen Revolution. Am Schluß meines Vortrages werde ich dann auf das Ende der Preußischen Nationalversammlung und mit ihr auch das Ende der Revolution in Preußen zu sprechen kommen.
Die Resonanz, die Johan Galtungs Begriff der „strukturellen Gewalt“ in der Literatur erzielt hat, ist bemerkenswert. Denn mit mittlerweile einigem Abstand betrachtet wird deutlich, dass in diesem Begriff von Beginn an eine nicht unerhebliche Diskrepanz existierte zwischen dem, was er in methodisch redlicher Manier für das wissenschaftliche Denken zu bewältigen versprach, und den Ansprüchen an das Verständnis nicht allein von Gewalt, sondern von Gesellschaft überhaupt, die er gleichzeitig weckte. Dabei dürfte ein Streit müßig sein, ob diese Diskrepanz im Begriff selbst angelegt war oder aber bloß das Ergebnis seiner Rezeption bzw. Interpretation darstellte. Letzteres war offenkundig der Fall, erging es dem Begriff doch so, wie es meist mit Begriffen geschieht, die viel zitiert werden und auf ganz verschiedene Phänomene Anwendung finden - bei der „strukturellen Gewalt“ bis hin zur Analyse grammatikalischer Muster als Medium von Herrschaft. In der Regel werden solche Begriffe vage, sie verlieren an Präzision. Doch lag das Problem nicht nur in der Rezeption des Begriffs begründet. Vielmehr war die Definition des Begriffs selbst von Anfang an unscharf und gab zu Missverständnissen Anlass. Die Anforderungen an einen wissenschaftlichen Begriff, klar und eindeutig zu sein, erfüllte dieser Begriff nicht. So war seine Karriere wohl auch dem Umstand zu verdanken, dass er in der politischen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit, teils Zuspruch fand.
In den letzten Jahren haben die Klagen über eine »Ökonomisierung« der Krankenhäuser in der Bundesrepublik ihren vorläufigen Höhepunkt erlebt. Anders jedoch, als es die aktuelle Diskussion nahelegt, handelt es sich dabei um keine plötzliche Entwicklung. Zu einem tieferen Verständnis der Gegenwart des bundesdeutschen Krankenhauses ist ein Blick auf den Wandel politökonomischer Leitkategorien nach dem »Strukturbruch« der 1970er-Jahre notwendig. Am Beispiel der im traditionellen Verständnis am Gemeinwohl orientierten Einrichtung Krankenhaus lässt sich die marktförmige Transformation öffentlicher Institutionen sogar paradigmatisch nachvollziehen. Der Aufsatz plädiert dafür, am Begriff »Ökonomisierung« analytisch festzuhalten, verdeutlicht aber auch, dass damit eine schubartige Entwicklung bezeichnet ist, die keineswegs allein die freie Entfaltung von Marktkräften forciert hat. Dafür steht etwa das umstrittene System der »Fallpauschalen«. »Plan« und »Markt«, so wird anhand der Krankenhausreformen der letzten 40 Jahre belegt, bildeten komplementäre Prinzipien einer neuen steuernden Regulierung.
Die bikonfessionelle Struktur Deutschlands stellte seit dem 16. Jahrhundert einen der herausragenden Faktoren seiner Geschichte dar. Durch das Verhältnis der Konfessionen zueinander und die Herausbildung der konfessionellen Lebenswelten wurden historische Entwicklungsprozesse im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich bedingt, die den Übergang zur Moderne und deren Entfaltung
markierten. Konfessionsunterschiede und Herrschaftsstrukturen hingen dabei eng zusammen und griffen vielfach ineinander. Den Konfessionskirchen kam in diesen Prozessen eine bedeutende Rolle zu. Die kirchlichen Organisationen, verbunden konfessionell geprägten Milieus und vermittelt durch diese, waren bestrebt, in Abgrenzung von der jeweils anderen Konfession eine Stärkung der eigenen (Macht-)Positionen in Staat und Gesellschaft zu erreichen.
Unter dem Leitthema „Aufwachsen unter der Diktatur - die DDR in den 50er Jahren“ werden aus soziologischer Perspektive einerseits und organisationsgeschichtlicher bzw. kulturwissenschaftlicher Sicht andererseits zwei Projekte bearbeitet.
Das erste von ihnen untersucht die Spezifik von Sozialisation in der stalinistischen Phase der DDR-Entwicklung (1947/48-1956) am Beispiel Ost-Berlins. Auf der Grundlage einer allgemeinen Charakterisierung von Sozialisationsbedingungen in dieser Zeit werden die für die Heranwachsenden besonders bedeutungsvollen Instanzen Familie und Schule in den Mittelpunkt der empirischen Forschung gerückt. Dabei interessieren sowohl die der Familie und Schule seitens des Staates zugedachten Funktionen für die Sicherung und Reproduktion der bestehenden Herrschaftsverhältnisse als auch die Wirkungen bzw. Leistungen dieser Sozialisationsmedien. Gleichzeitig wird der Frage nachgegangen, welche Erfahrungen die Kinder sammelten, die in dieser Diktatur aufwuchsen.
Das zweite Projekt beschäftigt sich mit der Kinderorganisation „Junge Pioniere“ von ihrer Gründung bis Ende der 50er Jahre in ihrer Verknüpfung von politischer und Freizeitorganisation. Untersucht wird, in welcher Weise diese Organisation zur politischen Instrumentalisierung der Heranwachsenden genutzt wurde und welche inneren Strukturen und Funktionsweisen dieser Verband herausbildete. Eine der zentralen Fragestellungen betrifft das Spannnungsfeld zwischen einerseits seiner Attraktion als Freizeitorganisation, zu der es keine Alternative gab, und andererseits der direkten politischen Unterweisung und Mobilisierung. Diese Fragestellung bezieht sowohl die Ebene der Umsetzung von Herrschaftsabsichten als auch die der Wirkung auf die Kinder ein.
Die gegenwärtige Debatte um deutsche Vergangenheiten ist zweifellos von einem großen Spektrum unterschiedlicher Meinungen geprägt, die sämtlich auch öffentlich artikuliert und durch Publikationen verbreitet werden. Ihr bisheriger Verlauf zeigt jedoch in vieler Hinsicht auch, daß die Deutschen in West und Ost noch sehr weit von der Normalität eines Geschichtsdiskurses entfernt sind, der nicht nur äußerlich nach den Regeln demokratischer Pluralität abläuft, sondern der auch inhaltlich eine Vielfalt von historischen Erinnerungsformen einschließt, statt Unbequemes jeweils auszugrenzen. Für mich als einen aus dem Wissenschaftsbetrieb der DDR kommenden Historiker hat diese Frage besondere Bedeutung, und zwar sowohl aus den Erfahrungen einer unter dem Ideologie- und Politikmonopol einer einzigen Partei stehenden offiziösen Geschichtsorientierung als auch in Sorge über die Folgen pauschaler historischer Abrechnung mit der DDR, ihrer Geschichte und aller damit verbundenen Ansätze historischen Denkens.
Das gesellschaftstheoretische und sozialphilosophische Werk des Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas hat, nicht nur gemessen an seiner interdisziplinären und internationalen Rezeption, die Geistesgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts intensiv geprägt. Einer breiteren Öffentlichkeit ist Habermas durch seine tagespolitischen Interventionen bekannt geworden, in denen er als klassischer „public intellectual“ zu relevanten politischen, gesellschaftlichen und ethischen Fragen dezidiert Stellung bezieht. Ihren vornehmlichen Ort findet diese Zusammenführung von Theorie und Lebenswelt bis heute aber weniger im Rahmen von Symposien, Konferenzen oder der akademischen Lehre, sondern vorzugsweise in der Gestalt politischer Publizistik, den „Kleinen Politischen Schriften“.
Kosmetika sind in vielerlei Hinsicht banal, sie stellen aber oft (wie andere Praktiken des Körperschmucks) auch wirkungsvolle Ausdrucksmittel in Konflikten um die Symbolik von Körper und Selbst dar. In den Vereinigten Staaten warfen Feministinnen bei der Wahl zur »Miss America« 1968 vermeintliche Folterinstrumente wie Büstenhalter oder künstliche Wimpern sowie Frauenzeitschriften wie »Glamour« und Männermagazine wie »Playboy« in einen »Freiheitsabfalleimer«. In den USA, in der Bundesrepublik Deutschland und anderen westlichen Ländern wandten sich Anhängerinnen der neuen Frauenbewegung dagegen, den weiblichen Körper wie eine Ware zu behandeln...
Wann und wie wandelten sich in der DDR-Gesellschaft langfristig politische Einstellungen und Wertorientierungen, wie sie dann 1989 in der Herbstrevolution sichtbar wurden? Anknüpfend an Konrad H. Jarauschs These von der »Umkehr« als fundamentalem Demokratisierungsprozess im geteilten Nachkriegsdeutschland untersucht der Beitrag die Möglichkeiten und Grenzen der Stellvertreterbefragungen, die das westdeutsche Meinungsforschungsunternehmen Infratest im Auftrag der Bundesregierung von 1968 bis 1989 durchgeführt hat. Befragt wurden westdeutsche Besucher der DDR über die Ansichten eines von ihnen definierten Gesprächspartners im ostdeutschen Staat, den sie besucht und mit dem sie ausführlich gesprochen hatten. Dieser Serie zufolge stand eine breite und wachsende »schweigende Mehrheit« der DDR-Einwohner dem System distanziert gegenüber, war aber weder im westlichen noch im östlichen Sinne besonders ideologisch präformiert. Sie maß die DDR vor allem an ihren praktischen Leistungen im Hinblick auf Lebensstandard und Perspektiven. Das Interesse an Politik sank ab Mitte der 1970er-Jahre, stieg dann aber wieder an und orientierte sich zunehmend an westlichen Politikformen.
Ernst Friedrich Schumachers vor 50 Jahren erschienenes Buch »Small is Beautiful« wurde in den 1970er-Jahren schnell zu einem Standardwerk der Technikkritik und der Debatten um alternative Wirtschaftsformen im globalen Zusammenhang. Vor allem im expandierenden Feld der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Bürgerinitiativen wurde Schumacher zu einem wichtigen Stichwortgeber. Bis heute wird das Buch als Referenz für alternative Konzepte von Wirtschaft und Gesellschaft angeführt – vom »Green New Deal« über die »Donut-Ökonomie« bis zur »Postwachstumsgesellschaft«. Gerade im Kontext der ökologischen Krisen der Gegenwart und der kritischen Sicht auf Wachstumsziele als Selbstzweck ist Schumachers Plädoyer für eine »Rückkehr zum menschlichen Maß« hoch aktuell. Von den Traditionen des ökonomischen Denkens des 20. Jahrhunderts geprägt, scheint sein Buch in besonderem Maße geeignet, Anknüpfungspunkte für das Wirtschaften »in einer endlichen Welt« zu liefern. Aber es sind auch andere, stärker historisierende Lesarten möglich.
Das 20. Jahrhundert hat, in verschiedenen Speichermedien, musikalische Quellen in Hülle und Fülle überliefert. Die Geschichtswissenschaft macht bisher jedoch einen großen Bogen um diese klanglichen Hinterlassenschaften. Von dieser
Diskrepanz geht der folgende Text aus. Er wird erörtern, was gegen die Arbeit mit musikalischen Quellen spricht, warum sie dennoch wichtig sein könnte und welche Schleichpfade sich anbieten, um der Musik historisch auf die Spur zu kommen. Dabei wird weniger eine konkrete Programmatik entwickelt als ein Problem umkreist, das sich als unlösbar und gleichwohl aufschlussreich erweisen könnte.
Zu Beginn der Ausstellung fällt der Blick auf zwei Fotografien. Sie sind prominent inmitten des einleitenden Wandtextes im Eingangsbereich platziert, der Ausstellungsbesucher:innen ebenso empfängt wie Angestellte des Dubnow-Instituts oder Menschen, die in der Goldschmidtstraße 28 in Leipzig anderweitig arbeiten oder zu Besuch sind. Erstere bleiben stehen, lernen, welche Rolle die beiden Bilder spielen und in welchem Kontext sie stehen, nehmen wohl an einer Führung von Julia Roos oder Monika Heinemann teil, beide vom Dubnow-Institut, die neben Agnieszka Kajczyk vom Jüdischen Historischen Institut in Warschau die Kuratorinnen der Ausstellung sind.
Margaret Thatcher soll einmal gesagt haben, dass die Menschen alle dreißig Jahre etwas radikal Neues wollen. In dieser Lesart wäre es folgerichtig, dreißig Jahre nach dem letzten großen historischen Einschnitt auch Deutungen der Geschichte neu zu kontextualisieren. Nicht ohne Grund erleben wir aktuell, dass die Ereignisse der Friedlichen Revolution, der Deutschen Einheit und der ersten Jahre nach der Wiedervereinigung auch in den Fokus historischer Betrachtungen geraten. Der Abstand von einer Generation bedeutet, dass wir nunmehr allmählich von der Perspektive der Erinnerung in die Perspektive des Historisierens übertreten.
Wagen wir einmal einen Blick zurück: Auch der Umgang mit der NS-Geschichte verlief in verschiedenen Etappen. Es brauchte über zehn Jahre, bis es etwa mit Filmen wie „Rosen für den Staatsanwalt“ erste Formen der Auseinandersetzung gab. Die Auschwitz-Prozesse, der Umgang mit der Erstausstrahlung der Reihe „Holocaust“ oder auch die Frage nach dem Umgang mit dem 8. Mai – all dies waren Episoden in einem jahrzehntelangen Ringen um den Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Was allgemein als Errungenschaft von „68“ gewertet wird, nämlich ein Wandel im Umgang mit der Vergangenheit, um daraus auch ein neues Selbstverständnis für die Gegenwart abzuleiten, war in Wirklichkeit ein mühsamer Prozess, der bereits früher begann und länger als einen Protestsommer andauerte. Die Debatten um die Weizsäcker-Rede zum 8. Mai 1985 oder der Historikerstreit der 1980er Jahre zeigten, wie hart selbst fast zwei Generationen nach Kriegsende noch um ein Geschichtsbild gerungen wurde. Die Auseinandersetzung über das Selbstbild, den Umgang mit Geschichte und den Folgerungen daraus sind eine jahrzehntelange Arbeit ist, die mit dem Abstand einer Generation eher beginnt, als das sie endet.
Eine Bildgeschichte der „Flüchtlingskrise“ würde an der Komplexität dieser von Warburg ikonologisch verfolgten „Gegenwartsbedeutung der historischen Psychologie“ zu messen sein. Die Notwendigkeit dazu begründet sich nicht zuletzt durch die näher zu betrachtende, emotional enorm aufgeladene Befehdung der Willkommenskultur seit 2015 in der Bundesrepublik. Mit Warburg besteht für diese „hohe Emotionalität“ der Gegner der Willkommenskultur eine Zuständigkeit der Bildwissenschaft. Als „historische Psychologie“ ist sie zugleich eine Alternative zu national-völkischen Formen der Sozialpsychologie wie der Völkerpsychologie und anderen Vorstellungen des Identitären als Angriffe gegen die integrativen Vorstellungen der Willkommenskultur.
Seit 1950 sind mehr als 778.000 Menschen auf deutschen Straßen gestorben und mehr als 31 Millionen Menschen verletzt worden (in der Bundesrepublik und der DDR zusammen). In anderen Industriestaaten liegen die Zahlen der Opfer von Verkehrsunfällen in vergleichbarer Höhe, in den Schwellenländern steigen sie angesichts einer zunehmenden Mobilität weiter. Wie lässt sich erklären, dass eine moderne Gesellschaft wie die deutsche des 20. Jahrhunderts bereit war, diesen Blutzoll zu zahlen? Die Frage weist über sich selbst hinaus, denn sie macht auf ein zentrales Problem der Epoche der Industriemoderne aufmerksam: Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden neue, von industriellen Produktionsweisen geprägte Technologien, die die Lebensgewohnheiten tiefgreifend veränderten und mit denen sich Hoffnungen einer überaus fortschrittlichen Zeit verbanden.
Ausblick. Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR
(2008)
Netzwerktheorien sind aus den technischen Disziplinen und aus der allgemeinen Systemtheorie, aus den Naturwissenschaften, aus Ökonomie und Soziologie auch in die Geschichtswissenschaft „hineingewandert“. Die einschlägige Forschung hat sich, hierfür ist der vorliegende Band ein Beleg, in den letzten beiden Jahrzehnten stark verdichtet und ausdifferenziert. Sie hat damit allerdings auch eine Mode welle generiert: vor allem in kulturwissenschaftlichen Forschungskontexten wird der Netzwerk-Begriff ausufemd, oft mit unverkennbar normativer Konnotierung (Netzwerk als „guter“, weil angeblich nichthierarchischer Modus von Vergesellschaftung) verwendet. Häufig degeneriert er zur vagen Metapher, generell wird als analytisches Passepartout überschätzt.
In Burundi steht ein überdimensionales Schwammerl. Ein Foto davon ist derzeit im Berliner Willy-Brandt-Haus zu sehen, gemeinsam mit anderen Aufnahmen verschiedener Gebäude der Moderne in afrikanischen Staaten – sie sind Teil der aktuellen Ausstellung „Auf Augenhöhe – Afrika und seine Moderne“ mit Fotografien von Jean Molitor. Die Aufnahmen sind allerdings nicht nur für Liebhaber:innen steingewordener Fungi von Interesse, sondern genauso für Historiker:innen wie für die Zivilgesellschaft. Die Ausstellung konzentriert sich auf Fotografien moderner Gebäude, die der Fotograf auf seinen Reisen in afrikanischen Staaten anfertigte. Neben den Gebäuden zeigt die Ausstellung eine Collage von Straßenfotografien sowie wenige Fotos und Videoaufnahmen von Molitors Reisen samt den Menschen, denen er dabei begegnete. Besucher:innen lernen so die Umgebung der dokumentierten Gebäude kennen und die Umstände, unter denen die Aufnahmen entstanden.
Sie sind knapp fünfzig Jahre alt: Dietmar Riemanns Fotografien aus der DDR, die das Berliner Willy-Brandt-Haus gerade ausstellt. Und sie sind relevant. Dietmar Riemann hat sozialdokumentarische Aufnahmen angefertigt. Wir sehen auf den Bildern zum Beispiel, welche unterschiedlichen Milieus die Ost-Berliner Trabrennbahn in den 1970er Jahren anzog. Riemanns Fotografien dokumentieren aber auch andere Orte. Seine Aufnahmen von leeren, wüsten Ost-Berliner Hinterhöfen zeugen von Verfall, Einsamkeit und Beengung. Sie suggerieren Vernachlässigung, von Gebäuden wie von Menschen. Die Fotos lehren uns zudem, wie Anspruch und Wirklichkeit im DDR-Alltag auseinanderklafften.
Ausverkauf des Ost-Erbes?. Spurensuche zur Privatisierung des VEB Deutsche Schallplatten nach 1989
(2020)
Die zur Umbruchszeit verschmähte Popmusik der DDR erlebte ab Mitte der 1990er Jahre eine bemerkenswerte Renaissance. Unter der Genrebezeichnung „Ostrock“ wurden sehr verschiedene Musiker*innen mit ostdeutschem Hintergrund erfolgreich vermarktet. Erlebte dieser Teil des DDR-Musikerbes damit ein bemerkenswertes Fortleben, bestimmte hingegen in Vertrieb und Produktion nicht Kontinuität, sondern Bruch und Veränderung die Zeit nach 1989. Im Schatten der allgemeinen Transformationsgeschichte Ostdeutschlands fand ein musikwirtschaftlicher Überlebenskampf statt. Diesen aus historischer Perspektive nachzuvollziehen, ist allerdings keinesfalls einfach, denn für die Zeit vor und nach 1990 herrscht eine asymmetrische Aktenlage bzw. viele Archivbestände aus dieser Periode sind immer noch unter Verschluss. Das macht es bislang auch so schwierig, die geschichtswissenschaftliche Forderung nach mehr thematisch eng gefassten Studien zur Transformationszeit einzulösen. Davon betroffen ist auch die Geschichte der DDR-Schallplattenlabel und des „Ostrocks“ nach 1990. Ihr Ringen um Weiterexistenz muss aus diversen Überlieferungsresten und Einzelberichten rekonstruiert werden – ein lohnendes Unterfangen, wie erste Einsichten und Ergebnisse zeigen.
Das westdeutsche Abschieberegime entstand im Kontext der Problematisierung von People of Color, die seit 1950 in die Bundesrepublik einreisten, um dort ein Studium oder eine Ausbildung aufzunehmen. Die junge Republik lud Menschen aus sich dekolonisierenden Ländern zunächst ein, um sich von der Rassenideologie des National- sozialismus zu distanzieren und sich gegenüber dem Sozialismus zu profilieren. Dabei bestand jedoch weiterhin die im Kern völkische Prämisse, dass People of Color nicht langfristig bleiben sollten. Die Herstellung ihrer Rückführbarkeit manifestierte sich in der Rechts-, Verwaltungs- und Betreuungspraxis lokaler Behörden und Wohlfahrtsverbände, wodurch diese Prämisse in das Ausländergesetz von 1965 einging. Das Gesetz machte insbesondere »außereuropäische« Migrant*innen abschiebbar, denen es pauschal kriminelle Täuschungsabsichten und extremistische Politisierung unterstellte. Es verrechtlichte zudem eine pseudomoralische Rückkehrpflicht von People of Color unter Verweis auf ihren Entwicklungsauftrag in den Herkunftsländern und auf tradierte Geschlechterrollen. Diese Normen waren in der Bundesrepublik permanent abrufbar und wurden sukzessive auf andere Migrant*innen angewandt.
Authentizität (Version 1.0)
(2010)
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der Authentizitätsbegriff zu einem allseits verwandten Schlagwort gewandelt. Über Authentizität wird heutzutage in vielen kulturwissenschaftlichen Disziplinen gesprochen: in der Psychologie, der Pädagogik, der Soziologie, der Ethnologie, den Politikwissenschaften, der Philosophie und selbstverständlich in den Kunstwissenschaften und der Ästhetik. Der schillernde Authentizitätsbegriff hat auch den Bereich der Geschichtsschreibung und der Zeitgeschichte erfasst, und doch ist Authentizität keinesfalls ein zeithistorischer Grundbegriff.
Authentizität (Version 2.0)
(2012)
„Sei authentisch!” – diese Anforderung an das moderne Selbst ist insbesondere in alternativen Milieus der 1970er- und 1980er-Jahre geprägt worden und findet heutzutage in einer zunehmend medialisierten und digitalen Welt neue Bedeutung. Der schillernde Authentizitätsbegriff, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem allseits verwandten Schlagwort und vielbeachteten Phänomen in den Kulturwissenschaften geworden ist, gewinnt sowohl in methodologischer Hinsicht als auch als Forschungsgegenstand zunehmend an Bedeutung für die zeithistorische Forschung.
Authentizität (Version 3.0)
(2015)
Jetzt in einer vollständig überarbeiteten und erweiterten Neuauflage Version 3.0: Achim Saupe zeigt in seinem Artikel den Aufstieg des neuzeitlichen Authentizitätsbegriffs, der eng mit der Geschichte des modernen Subjekts verknüpft ist, betrachtet ihn vor dem Hintergrund der Entwicklung der modernen Medien- und Konsumgesellschaft und stellt die Frage, wie sich das Politische zum Authentischen verhält. Schließlich wird in methodischer und thematischer Hinsicht die Authentizitätsproblematik in der historischen Forschung dargestellt.
Der Beitrag geht der filmischen Konstruktion von Authentizität nach. Hierfür werden zunächst verschiedene filmtheoretische Positionen zum Realitätsgehalt von fotografischen Bildern vorgestellt, um divergierende Konzeptionen von Realität aufzuzeigen. Anschließend werden unterschiedliche filmische Verfahren aus dem Bereich des Dokumentarfilms besprochen, die zum Eindruck von Authentizität beitragen. Um die paradoxale Struktur des Authentischen aufzuzeigen, werden die eingangs vorgestellten filmtheoretischen Überlegungen anhand des Spielfilms »Come Back, Africa« (1959) diskutiert. Abschließend beschäftigt sich der Beitrag mit der Inszenierung der Produktion von dokumentarischen Bildern, mit der die Fernsehserie »Holocaust« (1978) und der Spielfilm »Son of Saul« (2015) die Glaubwürdigkeit ihrer Erzählung unterstreichen.
Wie stellt sich das Verhältnis von Authentizität, Medien und Geschichte unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Moderne dar? Der Text führt kursorisch in dieses Dreiecksverhältnis ein und zeigt die Probleme auf, in die das Konzept von Authentizität angesichts der Unvermeidbarkeit von Medien in historischen und generell kommunikativen Zusammenhängen führt. Plädiert wird daher für eine heuristische Perspektive, die solche Widersprüche und Spannungen für die Analyse von Geschichtsbildern sowie in historischer Perspektive produktiv macht.
Die Darstellung von Geschichte in unterschiedlichsten populären Medienformaten ist kein neues Phänomen, wohl aber eines, das in jüngerer Zeit einen bislang ungekannten Aufschwung erfahren hat, und zwar nicht nur im euro-amerikanischen Raum, sondern weltweit. Geschichtsbewusstsein wird in institutionellen wie in kommerziellen Formen, in Schulbüchern und in Denkmälern, Themenparks, Ausstellungsevents, filmischen Darstellungen und ›Erinnerungsliteratur‹ artikuliert, rezipiert, verhandelt.
Die ab 1939 verwirklichten „Großraum“-Pläne der Nationalsozialisten werden mittlerweile auch in der deutschen Zeitgeschichtsforschung als radikale Ausprägung antiliberaler Europakonzepte anerkannt.1 Diese überhaupt als eigenständige europäische Ideen innerhalb politisch konkurrierender Vorstellungen zu behandeln war noch vor zehn Jahren keineswegs gängige Forschungsmeinung. Wenig Aufmerksamkeit wird jedoch nach wie vor den Konzeptionen anderer faschistischer Regimes und Bewegungen zuteil. Diese gerieten im Zuge des Kriegsverlaufs in ein zunehmend konfliktbeladenes Verhältnis zur deutschen Hegemonialmacht, scheiterten gleichwohl weitgehend an der Realität der nationalsozialistischen Herrschaftspraktiken. So steht eine grundlegende Untersuchung der groß angelegten Neuordnungspläne des faschistischen Italiens noch aus.2 In noch stärkerem Maße trifft dies für jene Faschismen im übrigen Europa zu, welche weder vor 1939/40 noch danach unter der deutschen Besatzung die Position eigenständiger Regimes erreichten. Gerade diese Bewegungen entwickelten aber trotz ihres politisch marginalen Einflusses eine beachtliche konzeptionelle Eigenständigkeit und Vielfalt.
Hacker und Haecksen zählen zur Avantgarde der Computerisierung. Seit den späten 1970er-Jahren bildeten sie sich in der Bundesrepublik und in der DDR zu eigensinnigen ComputernutzerInnen mit einschlägigem Wissen heraus. Sie eigneten sich das Medium spielerisch an, schufen Kontakträume und brachten sich so aktiv in den Prozess der Computerisierung ein. Durch ihre Grenzüberschreitungen zeigten sie dabei Chancen und Risiken der Digitalisierung auf.
Julia Gül Erdogan geht der Entstehung der Hackerkulturen in Ost- und Westdeutschland nach. Sie analysiert, wie deren teils subversive Praktiken Machtgefüge in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft herausforderten. Zugleich verdeutlicht die Arbeit Gemeinsamkeiten und Unterschiede der frühen sub- und gegenkulturellen Computernutzung in den beiden deutschen Teilstaaten.
Für Alexander Kluge gibt es keine abgeschlossenen Werke: „Bücher halten nicht still. Sie sind auch nie ‚beendet‘“. So ist es auch im Fall der „Schlachtbeschreibung“ nicht bei der Erstausgabe von 1964 geblieben. Kluge versteht seine Bücher als „work in progress“, als „Baustellen“ und als Produkte einer Sammlertätigkeit, die nicht beendet werden kann. Ein Buch wie die „Schlachtbeschreibung“ ist in diesem Sinne lediglich ein kleiner Teil eines stetig wachsenden und sich immer wieder aufs Neue verändernden multimedialen Netzwerks, das nicht nur literarische Texte umfasst, sondern auch philosophische Arbeiten, Kinofilme und Fernsehmagazine. Bis heute sind nicht weniger als sieben zum Teil sehr stark voneinander abweichende – gekürzte, erweiterte, neu arrangierte und um Abbildungen ergänzte – Ausgaben des Stalingrad-Buchs erschienen. Die vorerst letzte (gedruckte) Überarbeitung stammt aus dem Jahr 2000, als Kluge sein erzählerisches Gesamtwerk, ergänzt durch neu entstandene Texte, unter dem Titel „Chronik der Gefühle“ in einer umfangreichen zweibändigen Ausgabe versammelte. Darin findet sich die „Schlachtbeschreibung“ – als ein Kapitel unter vielen – in einen neuen Zusammenhang gestellt.
Wahrend sich die aktuelle wissenschaftliche Beschäftigung mit Stress nicht mehr überblicken lässt, war dies zu Beginn der Stressforschung anders. Die Anfänge fallen in die anderthalb Dekaden zwischen Mitte der 1930er und den beginnenden 1950er Jahren und führen nach Nordamerika. Dort waren es zuerst die Endokrinologie und die Militärpsychiatrie, seit 1945 auch die Psychosomatik, Psychologie und Sozialmedizin, die sich für medizinische Fragen zu interessieren begannen, die wir heute unter der Bezeichnung Stress subsumieren.
Der einstmals weitverbreitete Zeitvertreib der Philatelie gilt – ob zu Recht oder zu Unrecht sei einmal dahingestellt – als verstaubte Sammelleidenschaft von Stubenhockern und Philistern. Übersehen wird indes, dass zwei prominente Wegbereiter der kulturwissenschaftlichen Wende in der Geschichtswissenschaft und somit auch der visual history zu dieser im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftretenden Spezies gehörten. Denn sowohl Aby Warburg als auch Walter Benjamin waren passionierte Briefmarkensammler.
Wollte ich den Kalten Krieg als Thema deutscher Spielfilme analysieren, könnte ich mir keinen verkehrteren als den Regisseur Wolfgang Staudte aussuchen. Staudte hat die Ost- West-Konfrontation nie in Szene gesetzt. In seinen Filmen gibt es keine finsteren Agenten, die militärische Geheimnisse der Gegenseite ausschnüffeln, keine Wissenschaftler, die an tückischen Massenvemichtungswaffen für den finalen Schlagabtausch der Systeme basteln, nicht einmal vertrackte west-östliche Romanzen, in denen entweder das Land oder die geliebte Person verlassen werden muss. Den Kalten Krieg und die deutsche Teilung hielt Staudte zeit seines Lebens für eine kapitale Fehlentwicklung. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass auch seine Filme in den Strudel permanenter Systemkonkurrenz und entsprechenden Misstrauens gerieten. Insofern lässt sich gerade an diesen - den Kalten Krieg auf der Handlungsebene bewusst aussparenden - Filmen studieren, wo und wie Versuche eines Ausstiegs aus dem Blockdenken an Grenzen stießen.
(Version 1.0, siehe auch Version 2.0)
Die klassische Begriffsgeschichte hat als Historische Semantik eine Renaissance erfahren. Kathrin Kollmeier widmet sich zunächst der lexikografischen Begriffsgeschichte, insbesondere den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ und ihren theoretischen und methodischen Voraussetzungen. Ansätze hingegen, die unter dem Oberbegriff Historische Semantik firmieren, beschränken sich nicht mehr allein auf die Analyse der Historizität von Begriffen, sondern untersuchen den Bedeutungsgehalt und -wandel von Worten, Begriffen, Sprachen und Diskursen sowie kultureller Codes wie Bilder, Rituale, Habitus und Performativa. Zudem verweist der Artikel darauf, dass eine Historische Semantik des 20. Jahrhunderts sich sowohl dem semantischen Wandel im Zuge von politischen, sozialen und kulturellen Brüchen und Diskontinuitäten als auch den relativ stabil bleibenden Bedeutungen „langer Dauer” im gesamten 20. Jahrhundert widmen sollte.
Die klassische Begriffsgeschichte hat als Historische Semantik eine Renaissance erfahren. Kathrin Kollmeier widmet sich zunächst der lexikografischen Begriffsgeschichte, insbesondere den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ und ihren theoretischen und methodischen Voraussetzungen. Ansätze hingegen, die unter dem Oberbegriff Historische Semantik firmieren, beschränken sich nicht mehr allein auf die Analyse der Historizität von Begriffen, sondern untersuchen den Bedeutungsgehalt und -wandel von Worten, Begriffen, Sprachen und Diskursen sowie kultureller Codes wie Bilder, Rituale, Habitus und Performativa. Zudem verweist der Artikel darauf, dass eine Historische Semantik des 20. Jahrhunderts sich sowohl dem semantischen Wandel im Zuge von politischen, sozialen und kulturellen Brüchen und Diskontinuitäten als auch den relativ stabil bleibenden Bedeutungen „langer Dauer” im gesamten 20. Jahrhundert widmen sollte.
Der Untergang des Kommunismus war vor allem ein ökonomischer Vorgang; in gewisser Hinsicht kann man auch sagen, die Geschichte habe die Unmöglichkeit eines ökonomischen Experimentes gezeigt. Aber er wurde und wird auf sehr eigentümliche Weise erinnert. Ein großer Teil der öffentlichen Erinnerung bezieht sich vor allem auf die Gerontokratie der Parteiherrschaft und klammert eine Auseinandersetzung mit der Frage weitgehend aus, ob es nicht doch sehr viel grundsätzlichere Punkte waren, die das kommunistische Experiment haben scheitern lassen. Diese Schieflage der Erinnerung ist nicht zufällig: Nur so kann der Untergang des Sozialismus erklärt, aber zugleich die Utopie einer nichtkapitalistischen Alternative aufrechterhalten werden. Und das ist gerade gegenwärtig sehr populär!
Eine Geschichte der genetischen Beratung in der Bundesrepublik ist noch nicht geschrieben. Dies ist erstaunlich, lassen sich in der Verbindung von Beratungspraxis und Behinderung, Konzepten und Kritik an der Humangenetik doch grundsätzliche Fragen zum Wandel von Normalitätsvorstellungen, Geschlechterrollen und Gesellschaftsbildern verfolgen. Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht ein brisantes Thema: Sterilisationsempfehlungen für geistig behinderte Frauen und Mädchen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren ausgestellt wurden. Am Beispiel einer Hamburger humangenetischen Beratungsstelle betrachtet der Aufsatz das damalige Verhältnis von Genetik, Behinderung, Geschlecht und Vorsorgekonzepten. Die Kritik an der Sterilisationspraxis bildet einen weiteren Schwerpunkt des Beitrags. In den frühen 1980er-Jahren trugen Gegner und Befürworter geschichtspolitisch aufgeladene Kontroversen aus, die neue Blicke auf Behinderung hervorbrachten, zugleich aber auch Ambivalenzen gesellschaftlicher Liberalisierungsprozesse erkennen lassen.
In der langen Geschichte technomorpher Modellierungen des Politischen markiert „The Nerves of Government“ einen Paradigmenwechsel. Hatte Thomas Hobbes rund 300 Jahre zuvor das moderne politische Denken mit einer geometrisch-mechanischen Staatsphilosophie begründet, so durfte Karl W. Deutschs umfassende Modellstudie als erster ernstzunehmender Versuch gelten, die in den 1940er-Jahren angestoßene informationstechnische Revolution in ein politisches Vokabular zu übersetzen. Tatsächlich konnte (und wollte) das Ensemble von Begrifflichkeiten, das auf diese Weise Einzug in die politische Rationalität des 20. Jahrhunderts hielt, seine Wurzeln im Feld der Nachrichten- und Regelungstechnik nicht verbergen. Vielmehr bestand Deutschs Grundannahme gerade darin, „daß Regierungsapparate und politische Parteien nichts anderes als Netzwerke zur Entscheidung und Steuerung sind, daß sie auf Kommunikationsprozessen beruhen und daß in gewisser Hinsicht ihre Ähnlichkeit mit der Technologie der Nachrichtenübertragung groß genug ist, um unser Interesse zu erregen“ (S. 211).
Es ist eine alte Frage, ob Berija, der nach Stalins Tod eine für sowjetische Begriffe ungewöhnliche Innen- und Außenpolitik einzuleiten sich bemühte, dabei auch eine Vereinigung Deutschlands auf demokratischer Basis ins Auge faßte. Entsprechende Mutmaßungen nahmen ihren Ausgang von dem Vorwurf der siegreichen Mehrheit der sowjetischen Führung an den gestürzten Berija, er habe den Sozialismus in der DDR „verraten“. Das war freilich eine Anklage, die deutlich rechtfertigende Funktion hatte, so daß ihr Wahrheitsgehalt zweifelhaft blieb. Als wichtiges Indiz für die Berija zugeschriebene Absicht gilt vielfach der von Moskau den SED-Führern Anfang Juni 1953 aufgenötigte „Neue Kurs“, der die harte Sowjetisierungspolitik vom Vorjahr teilweise revidierte. Als weitere Belege werden damalige Stellungnahmen angeführt, die deutsche Frage müsse auf die Tagesordnung gesetzt werden, sowie spätere öffentliche Anschuldigungen Chruschtschows und Ulbrichts. Der SED-Chef benutzte die Anklage im innerparteilichen Kampf gegen Kritiker und Rivalen. Bei den ostdeutschen Kadern fand sie allgemein Glauben, schien sie doch den alten Verdacht zu bestätigen, die UdSSR könnte die DDR um höherer politischer Zwecke willen fallenlassen.
Berlin
(1998)
»Der Riß, welcher durch alle unsere gesellschaftlichen Verhältnisse geht«, war in Berlin - so konstatierten kritische Zeitgenossen wie der Frühsozialist Ernst Dronke bereits zu Beginn der vierziger Jahre - viel tiefer, die soziale Polarisierung in der preußischen Hauptstadt weit stärker fortgeschritten als in allen anderen deutschen Städten, von Wien vielleicht abgesehen. Berlin war eine »zweifelhafte Schöne«, eine »Braut der Zukunft«, spöttelte ein anderer demokratischer Zeitgenosse, der Schriftsteller Heinrich Bettziech (der unter seinem Pseudonym >Beta< im Revolutionsjahr als Satiriker zu einigem Ruhm gelangen sollte) gleichfalls um 1845: »Ihr Kostüm ist schäbig-gentil, hier und da äußerst kostbar und glänzend, aber wenn sie den Fuß hebt, kann man die zerrissenen Sohlen bemerken, und der feine Strumpf könnte auch besser gestopft seyn.« Berlin, so Bettziech weiter, oszilliere zwischen zwei Polen, nämlich dem »der Vornehmheit und des Staatsglanzes um das Brandenburger und das Potsdamer Thor herum« und seinem Gegenstück: »Nach den vielen entgegengesetzten Thoren hin breitet sich der viel umfangreichere Pol des Proletariats, des Verbrechens und der Armuth aus, durchspickt von Industrie und Dampffabrikation.«
Die „Umwälzungen“ des Jahres 1848 waren nicht nur der "Anstrengung", sondern auch "dem Erfolge nach eine wirkliche Revolution". Obgleich nicht alle Zeitgenossen diese Ansicht Robert Springers teilten und manche Konservative und Liberale schon frühzeitig den revolutionären Charakter der Märzereignisse leugneten, sie zum bloßen "Ministerwechsel" zu degradieren suchten - daß im März 1848 Berlin nicht nur äußerlich zum revolutionären Schlachtfeld mit Hunderten von Toten und zahllosen Barrikaden wurde, sondern in ganz Preußen ein fundamentaler politischer Umbruch stattfand, läßt sich kaum bestreiten: Für acht Monate wurde dem Monarchen ein Parlament zur Seite gestellt, das mit diesem eine Verfassung "vereinbaren" sollte und überdies nicht unwesentlich die Politik des preußischen Staates mitbestimmte. (Aus der Einleitung)
Anläßlich der Abschaffung der Lebensmittelkarten in der DDR, die von der sowjetischen Führung als Diskreditierung des Sozialismus empfunden worden waren, schrieb Ulbricht im Mai 1958 an Chruschtschow: „Eine besondere Komplikation besteht bei diesen Maßnahmen darin, daß wir unsere Entscheidung nicht von den inneren Möglichkeiten und Bedingungen unserer Republik treffen können. Wir müssen die Wirkung unserer Maßnahmen nach Westdeutschland und Westberlin und insbesondere auf die dortige Arbeiterklasse sorgfältig berücksichtigen und nach diesen Erfordernissen die Bedingungen festlegen.“
„Großstädte sind unbestimmte Verheißungen“, schreibt Curt Moreck in seinem „Führer durch das ‚lasterhafte‘ Berlin“ aus dem Jahr 1931. „Sie sind Konglomerate von unendlichen Möglichkeiten. Sie sind Labyrinthe, in denen die schönsten Straßen einen nicht ahnen lassen, wohin sie einen führen werden. Wen das Land hineinstößt, der fühlt sich hilflos und wird plötzlich von der Angst überfallen, das zu versäumen, was er kennenlernen möchte, das zu verpassen, was ihm einen Gewinn an Vergnügungen verspricht. [...] Man muß in diesem rauschenden Strudel untertauchen, sich darin verlieren, aber nicht ohne sich wiederzufinden. Man muß den Irrwegen nachgehen, aber nicht ohne das Ziel zu kennen. Man wird sich nach einem Führer umsehen müssen. Ohne den Führer verliert man kostbare Zeit, die man besser dem Genuß widmet. Man muß sich die Erfahrungen anderer zunutze machen.“
Bevor ich auf die Rolle und das Selbstverständnis der politisch aktiven Berliner Juden und die Frage eingehe, welche Stellung die nichtjüdische Bevölkerung ihren jüdischen Mitbürgern und der >Judenfrage< gegenüber einnahm, sollen die sozialökonomische Stellung der Berliner Juden während der vierziger Jahre sowie die politisch-rechtlichen Restriktionen skizziert werden, unter denen preußische Juden während des Vormärz zu leiden hatten. Danach läßt sich leichter nachvollziehen, warum den Juden in der preußischen Hauptstadt und andernorts nach den europäischen Februar- und Märzrevolutionen gleichsam eine Zentnerlast von der Seele fiel.
Berufliches Selbstbild. Arbeitshabitus und Mentalitätsstrukturen von Software-Experten in der DDR
(1999)
Im kapitalistischen Westen gelten Software-Entwickler spätestens seit den achtziger Jahren als Innovatoren, die im Zuge der fünften Phase der Industriellen Revolution manche überkommene Autoritäts-, Wirtschafts- und Sozialstrukturen durchbrochen haben, um ihr innovatives Potential zu entfalten, allerdings mit schwacher emanzipatorischer Auswirkung, beispielsweise für Frauen. Bislang ist aber wenig über die Ingenieure und Ingenieurinnen, die Mathematiker und Mathematikerinnen bekannt, die in der DDR die Software-Entwicklung zu einem der erfolgreichsten Gebiete der Industrieforschung gemacht haben. Diese Experten, die als eine bedeutende Teilelite im Sinne einer „funktionalen Elite“ bzw. einer „Dienstklasse“ begriffen werden können, sind bisher kaum Untersuchungsgegenstand der sozial- bzw. kulturgeschichtlich orientierten Elitenforschung gewesen. Dieser Zustand ist in erster Linie auf die Quellenlage zurückzufuhren. Als wenig ergiebig für die Sozial- und Kulturgeschichte erwiesen sich die Akten relevanter Betriebs- und Parteiarchive aus der Ära Honecker. Für unsere Zwecke weit ergiebiger, obwohl mit quellenkritischen Problemen eigener Art behaftet, bleiben die Oral History-Methoden, die hier zur Anwendung kommen sollen. Im Rahmen eines Forschungsprojekts, das von der amerikanischen Stiftung „National Science Foundation“ finanziert wird, sind Gespräche mit zwanzig Software-Ingenieuren der ehemaligen DDR geführt worden. Bei den Interviews, die im Schnitt eine bis zwei Stunden dauerten, wurde ein Fragenkatalog verwendet, der thematische Schwerpunkte setzte und Vergleichbarkeit gewähren sollte. Viel Wert wurde darauf gelegt, dem Gesprächspartner die Gelegenheit zu bieten, innerhalb des vorgegebenen Rahmens Gedanken selbst zu formulieren und einzuordnen, sowie assoziativ zu den Themen zu gelangen, die wichtige Momente der beruflichen Identität berühren. Bei diesen Tiefengesprächen sollten also keine quantitativ verwertbaren Daten gewonnen, sondern vielmehr individuell geprägte Mentalitätsstrukturen und Verhaltensweisen exemplarisch untersucht werden. Dabei war das Gruppenspezifische herauszuarbeiten.
Eine Betrachtung von Berufungen unter der Kategorie Geschlecht eignet sich in besonderem Masse dazu, gleichsam wie in einem Vergrösserungsspiegel, die soziale Bedingtheit von Berufungen aufzuzeigen. Diese werden bis heute von den an Berufungsverfahren Beteiligten wenig oder gar nicht reflektiert, besteht doch die unhinterfragte illusio[1] des akademischen Feldes darin, nach dem vermeintlich harten Kriterium der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit ›die besten Köpfe‹ zu berufen. Bislang gibt es für das 19. und 20. Jahrhundert, d.h. die Phase der sogenannten modernen Universität, keine historische, quellenbasierte Untersuchung zur inhaltlichen Ausgestaltung und zum Wandel von Berufungskriterien. Bisher ist auch das Verhältnis von Berufung und Geschlecht in historischer Längsschnittperspektive nicht systematisch untersucht worden.
Der folgende Beitrag erschien erstmals im Jahr 2012 in der Publikation „Professorinnen und Professoren gewinnen. Zur Geschichte des Berufungswesens an den Universitäten Mitteleuropas“, die von Christian Hesse und Rainer Christoph Schwinges herausgegeben wurde. Mit freundlicher Erlaubnis der Autorin Sylvia Paletschek veröffentlicht zeitgeschichte|online die Einleitung des Aufsatzes. Eine vollständige Version findet sich auf dem freien Dokumentenserver FreiDoks plus, ein Angebot der Universitätsbibliothek der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und im Material zu diesem Beitrag.
Die Besatzung großer Teile Europas in den Jahren des Zweiten Weltkriegs stellte einen tiefgreifenden, häufig krisenhaften Einschnitt in die Normalitätsverhältnisse von 200 Millionen betroffenen Menschen dar. Dennoch hat Besatzung als Erfahrungsgeschichte bisher einen eher geringen Widerhall in der Forschung gefunden, zumal in europäisch-vergleichender Perspektive. Dies ist nicht zuletzt den Begriffen und Konzepten geschuldet, die die Forschung strukturieren. Tatjana Tönsmeyer beleuchtet daher zunächst mit „Widerstand und Kollaboration“ sowie der jüngeren Holocaustforschung zwei einschlägige Interpretationszusammenhänge, bevor sie mit dem Begriff der Besatzungsgesellschaften ein eigenes konzeptionelles Angebot formuliert. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Akteur/innen sowie ihren Handlungsoptionen in Interaktion mit den Besatzern.
In dem Beitrag wird untersucht, in welcher Weise Lohnzugeständnisse und andere materielle Zuwendungen dazu beigetragen haben, die Industriearbeiterschaft, und hier v.a. die Arbeiter der Metallindustrie, insbesondere in der Phase der Vollbeschäftigung ab 1935/36 politisch ruhig zu halten und insgesamt erfolgreich in den gesamten Wirtschaftsprozeß zu integrieren - ohne gleichzeitig durch eine drastische Erhöhung des Konsumtionsniveaus der Arbeiterschaft die Konsumgüterproduktion 'übermäßig' zu stimulieren und damit die forcierte Aufrüstung grundsätzlich zu gefährden. Ausführlich wird dargestellt, welche Rolle dabei den spezifischen Formen der Leistungsentlohnung zukam. Da die Entwicklung der (Effektiv-)Löhne nur vor dem Hintergrund der Situation auf dem Arbeitsmarkt verständlich wird, wird zu Beginn ein Überblick über die Beschäftigungsentwicklung bis September 1939 gegeben. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, daß die Erhöhung des Arbeitseinkommens der Metallarbeiterschaft, der am wirtschaftlichen Aufschwung am stärksten partizipierende Teil der Gesamtarbeiterschaft, auch nach Erreichen der Vollbeschäftigung nicht überschätzt werden darf.
„Nach Weltkrieg und Holocaust scheint heute erreicht, was undenkbar war: Deutschland ist ein Musterbeispiel für eine gelungene Demokratisierung und eine Nation unter Gleichen.“1 Interessanterweise könnte dieser Satz, der ein Buch des Jahres 2004 bewirbt, nicht in Merritts Übersichtswerk zur Umfrageforschung der amerikanischen Militärregierung stehen, das doch gerade den Anfang der gelungenen Demokratisierung schilderte.
Im vorliegenden Artikel wird eine Entwicklung des Konfliktverhaltens von Beschäftigten in den Betrieben der DDR beschrieben, das in den fünfziger Jahren noch deutliche Bezüge einer traditionellen Arbeiterbewegungskultur aufwies, jedoch zunehmend einen individualisierten und privatisierten Charakter annehmen sollte. Die Tradition eines in Gewerkschaften oder Parteien organisierten Arbeiterwiderstandes war in Deutschland bereits 1933 durch das NS-Regime gewaltsam unterbrochen worden und konnte, von einer kurzen Nachkriegszeit abgesehen, in der DDR nicht wieder aufleben. Das diktatorische System hatte die Eigenständigkeit sämtlicher Arbeiterorganisationen, darunter die der Gewerkschaften, bald unterbunden und sie zum Bestandteil seines Herrschaftsapparates gemacht. Die organisierte Arbeiterbewegung war in der DDR eine „verstaatlichte“, sie hatte damit ihren Charakter als autonome Bewegung der abhängig Beschäftigten verloren. Auch die noch bis in die sechziger Jahre häufiger praktizierten individuellen betrieblichen Konfliktaustragungen und die weit weniger verbreiteten kollektiven Widerstände wie Streiks oder Protestversammlungen waren kaum noch mit dezidiert politischen Forderungen verbunden und mit ihren ökonomischen Zielstellungen auf die Verbesserung der Situation meist kleiner Belegschaftsgruppen gerichtet. „Arbeitsniederlegungen“ hatten am Ende der siebziger und in den achtziger Jahren an Zahl und Menge der Beteiligten keine gesellschaftliche Relevanz. Die DDR-Arbei- terschaft war atomisiert, in die Betriebe war nun „Friedhofsruhe“ eingezogen.
Bilder von Flüchtlingslagern rufen in der Regel emotionale Reaktionen, ja Bestürzung über die enormen Ausmaße dieser prekären Einrichtungen hervor. Manchmal führen sie gar zur Frage, ob und wie diese Orte überhaupt existieren können. Bei der Betrachtung von Fotos und der gesamten Bildwelt der Flüchtlingslager stellen sich spontan Assoziationen ein: materielle Not, eine offensichtlich nur provisorische Organisation der Räume, schwach ausgeprägte Spuren, die das Lager als Form von der natürlichen Umgebung und dem Boden kaum abheben. All dies vermittelt den Eindruck, dass morgen bereits verschwunden sein könnte, was uns heute vor Augen steht. Wir werden von einem Gefühl der Unwirklichkeit ergriffen, das mit der europäischen Geschichte verknüpft ist, mit den in Europa vorherrschenden Normen der Raumorganisation und den Lebensweisen des Westens. Dieses Gefühl legt eine bestimmte Einordnung nahe. Es mischt sich mit einer von den Themen Ausnahmezustand und Thanatopolitik geprägten Vorstellung des Lagers. Manche Sozialwissenschaftler/innen, Journalist/innen und Fotograf/innen haben sich von dieser stark vereinfachenden Repräsentation täuschen lassen und die Lager der Gegenwart vor dem Hintergrund der Shoah betrachtet. Global gesehen, ist die Wirklichkeit der Lager des 21. Jahrhunderts jedoch wesentlich komplexer und ambivalenter. Einerseits muss das Modell der Ausnahme relativiert werden durch die sowohl globale als auch lokale Kontextualisierung der Lager – selbst wenn sich die für die Sicherheit verantwortlichen oder humanitären Mächte gern von diesem Modell inspirieren lassen. Andererseits prallen im Alltag der Flüchtlingslager zwei unterschiedliche Zeitregime aufeinander, ereignet sich gleichsam ein Schock zwischen der Langsamkeit des Alltags der Ein-Gelagerten (encampés) und der von der humanitären Dringlichkeit bzw. der Brutalität der Sicherheitseinsätze verursachten Hektik und Betriebsamkeit (urgentisme). Aus diesem Grund sind Spannung und Ungewissheit stets Teil des Handelns, der Sinnzuschreibung solcher Orte und ihrer Zukunft.
Am Deutschen Eck in Koblenz, wo die Mosel in den Rhein mündet, wurde 1897 ein Denkmal eingeweiht, das Kaiser Wilhelm I. durch eine Reiterstatue ehrte und den Dank deutscher Staaten für die Reichseinigung von 1871 ausdrückte. Die Statue wurde im März 1945 zerschossen und bald danach abgeräumt. Der Sockel wurde 1953, mit Wappen der deutschen Länder und einer Bundesflagge versehen, als „Mahnmal der Deutschen Einheit“ von neuem eingeweiht. Am 3. Oktober 1990 kamen die Wappen der neuen Bundesländer hinzu. Die Statue wurde auf Betreiben privater Stifter rekonstruiert und zum 123. Jahrestag des Sieges von Sedan (1870) wiederum auf den Sockel gestellt. Abweichungen vom Original gingen nicht etwa darauf zurück, dass ein historischer Abstand reflektiert worden wäre, sondern auf fehlerhafte Materialwahl und Modellierung.
Der Aufsatz untersucht die Rolle und die Grenzen der Stimmungsberichte des Ministeriums für Staatssicherheit an die SED-Führung als „Öffentlichkeitsersatz“ in der staatssozialistischen Diktatur. Im Zentrum stehen dabei die 1960er- und 1970er-Jahre als relativ stabile Jahrzehnte des DDR-Systems. Trotz aller ideologisch bedingten Verzerrungen zeigen die Berichte eine subkutane Orientierung am westdeutschen System und relativ leicht mobilisierbare Hoffnungen auf eine Abkehr von Grenzregime und Reiseverboten. Gleichwohl erschöpften sich die Werthaltungen nicht in einer Selbstwahrnehmung als „verhinderte“ Bundesbürger. Der Diskurs über Versorgungsprobleme und die materielle Lage enthielt neben dem Westvergleich auch Bezugnahmen auf den offiziellen Egalitarismus und ein sehr genaues Bewusstsein für dessen Grenzen in der DDR-Gesellschaft; Kaderprivilegien und ungleich verteiltes Westgeld sorgten vielfach für Unmut. Die Staats- und Parteiführung nahm die MfS-Berichte letztlich nur selektiv wahr – langfristig zu ihrem eigenen Schaden.
Kaum eine Ausstellung hat eine derartige Aufmerksamkeit auf sich gelenkt wie diese. In der Zeitgeschichtsforschung ist die durch sie und mit ihr herbeigeführte epochale Zäsur unbestritten. Im Jahr 1981 bildete die Ausstellung „Preußen – Versuch einer Bilanz“ den Höhepunkt einer regelrechten „Preußenwelle“. Bereits gegen Ende der 1970er Jahre war ein gestiegenes Interesse der Öffentlichkeit an „deutscher“ Geschichte festzustellen.
Die Debatte um die Preußen-Ausstellung im Westberliner Martin-Gropius-Bau und die Frage eines nationalen Geschichtsortes öffnete aber ebenso ein Fenster für die Erschließung des „Prinz-Albrecht-Geländes“, dessen Geschichte Anfang der 1980er Jahre (fast) vollkommen unbekannt war und an dessen Ort sich heute das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors befindet. Der „History Boom“ ging einher mit einem „Memory Boom“. Vielmehr noch: Beide verliefen nicht lediglich parallel, sondern sind verschränkt.
Ich möchte aufzeigen, dass beide – Preußen-Ausstellung und Topographie des Terrors – in den zeitgenössischen Debatten um den Umgang mit Vergangenheit verbunden sind. Doch zunächst skizziere ich knapp Vorgeschichte und Entstehung der Preußen-Ausstellung.