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Nach Hobsbawm hätte sich der westliche Welfare State ohne die Existenz eines sozialistischen Gegenmodells und ohne die Bedrohung, die dieses Modell für die westlichen Mächte darstellte, niemals so umfassend entwickelt. Dies ist eine Grundannahme, die schon öfter aufgegriffen und verbreitet worden ist. Sie scheint auch deshalb berechtigt zu sein, weil mehrere Beobachter den Zusammenhang zwischen dem Ende des Kommunismus und dem Niedergang des Sozialstaats unterstrichen haben. Zwar hat man schon seit Ende der 1970er-Jahre von der Krise des Sozialstaats gesprochen, aber erst in den 1990ern wurde die zentrale Bedeutung der Sozialpolitik für die Stabilität und Prosperität der westeuropäischen Staaten infrage gestellt. International wurden Stimmen laut, die die Relevanz und Nützlichkeit einer International Labour Organization und die Legitimität von internationalen Arbeitsnormen anzweifelten. Parallel dazu wurde 1994 die World Trade Organization gegründet, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Liberalisierung des internationalen Handels zu fördern, was mit Deregulierung und sozialem Dumping einherging. Aber Gleichzeitigkeit heißt nicht Kausalität. Es muss daher noch untersucht werden, welche Verbindungen es zwischen den drei Punkten des Dreiecks gab: Staatssozialismus im Osten, westliche kommunistische Parteien und westliches Sozialstaatmodell.
1991, kurz vor der Abwicklung der DEFA, lief im Ost-Berliner Kino Babylon die nostalgische Filmreihe »Frühe Jahre damals in Berlin«. In einem Streifzug durch die DEFA-Geschichte gab es hier einige alte Berlin-Filme neu zu entdecken: Darunter war auch »Modell Bianka«, ein Paradebeispiel dafür, wie sehr sich die frühe DDR-Filmproduktion für die Arbeits- und Konsumwelt der Frau im Sozialismus interessierte. Besonders das Thema Mode erwies sich in dieser Milieustudie über die Bekleidungsindustrie der DDR als Stoff für heitere Unterhaltung...
»Geschmack klassifiziert«, schrieb Pierre Bourdieu (1930–2002) in seiner Studie »Die feinen Unterschiede«. Er klassifiziere nicht zuletzt den, der die Klassifikation vornehme (S. 25). Der französische Soziologe umriss damit eine zentrale These seiner Untersuchung. Schließlich ging es ihm darum zu zeigen, dass kulturelle Praktiken und ästhetische Vorlieben – für diesen oder jenen Film, diese Möbel, jene Kleidung – soziale Unterschiede nicht nur widerspiegeln, sondern auch festigen. Was ich esse, schön oder hässlich finde, weist mich demnach als Angehörige oder Angehörigen einer bestimmten sozialen Klasse aus. Es drückt sich darin ein Habitus aus, der mich mit anderen verbindet, die über einen ähnlichen Bildungsgrad, eine ähnliche soziale Herkunft und ähnliche Existenzbedingungen verfügen...
Mit den meisten bedeutenden Wissenschaftstheoretikern des 20. Jahrhunderts hat es die eigentümliche Bewandtnis, dass sich ihr Ruhm auf ein einziges Werk gründet, gegenüber dem ihre anderen Arbeiten wie Nebenwerke erscheinen. Das gilt für Ludwik Flecks »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« (1935) ebenso wie für Thomas Kuhns »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« (1962) und Karl Poppers »Logik der Forschung« (1934). Auf Paul Feyerabend (1924–1994) trifft die Ein-Buch-Berühmtheit in besonderem Maße zu...
Am 12. April 1945, acht Tage nachdem die letzten deutschen Truppen ungarisches Staatsgebiet verlassen hatten, erschien Frau S. in den Räumlichkeiten der kurz zuvor gegründeten »Untersuchungskommission zur Erforschung und Bekanntmachung der von den Nationalsozialisten und Pfeilkreuzlern verübten Verbrechen« (Náci és nyilas rémtettek kivizsgálására alakult bizottság, im Folgenden: »Verbrechens-Kommission«). Sie gab ein Gewaltverbrechen zu Protokoll, welches sich drei Monate vorher im jüdischen Krankenhaus in der Budapester Maros-Straße ereignet hatte...
Seit dem erfolglosen Putsch am 15. Juli 2016 gilt in der Türkei der Notstand. Mitte April 2017 stimmten nun 51,4 Prozent der Wahlberechtigten für eine Verfassungsänderung, die dem Präsidenten weitreichende Befugnisse verleiht. Der Wahlkampf hatte das Land stark polarisiert, das Referendum war eine Abstimmung für oder gegen das »System Erdoğan«. Aber auch nach der Wahl hat sich die Lage nicht beruhigt – die Opposition zweifelt an der Rechtmäßigkeit der Abstimmung, unter anderem weil kurzerhand 2,5 Millionen ungestempelte Wahlzettel zugelassen wurden...
Als Malia Obama, die damals 11-jährige Tochter des US-amerikanischen Präsidenten, 2009 ihre Eltern mit ungeglättetem Haar nach Rom begleitete, ahnte sie wohl nicht, dass diese Frisur immer noch zum Politikum werden konnte. Einige Kommentatoren auf der konservativen Website »Free Republic« monierten, das Mädchen sei ungeeignet, die USA zu repräsentieren, und machten dies an ihrem Hairstyle fest. Selbst wenn solche Stimmen marginal blieben, rekurrierten sie auf bekannte Diskurse, die den Natural Hairstyle, auch bekannt unter dem Namen Afro, ähnlich wie schon in den 1950er- und 1960er-Jahren erneut mit Ungepflegtheit assoziierten...
Kosmetika sind in vielerlei Hinsicht banal, sie stellen aber oft (wie andere Praktiken des Körperschmucks) auch wirkungsvolle Ausdrucksmittel in Konflikten um die Symbolik von Körper und Selbst dar. In den Vereinigten Staaten warfen Feministinnen bei der Wahl zur »Miss America« 1968 vermeintliche Folterinstrumente wie Büstenhalter oder künstliche Wimpern sowie Frauenzeitschriften wie »Glamour« und Männermagazine wie »Playboy« in einen »Freiheitsabfalleimer«. In den USA, in der Bundesrepublik Deutschland und anderen westlichen Ländern wandten sich Anhängerinnen der neuen Frauenbewegung dagegen, den weiblichen Körper wie eine Ware zu behandeln...
Mit der Wende des Zweiten Weltkrieges und dem beginnenden Rückzug der Wehrmacht entstand für die Menschen, die in den besetzten Gebieten mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten, eine neue Situation. Die Rückkehr der alten Machthaber, in deren Augen sie Landesverräter waren, würde ganz sicher Repressionen für sie bedeuten. Dabei war die Motivation zur Zusammenarbeit irrelevant, ja sogar der Grad der Freiwilligkeit. Kollaboration wird hier also im ursprünglichen Wortsinne von Zusammenarbeit gefasst. Ob diese erzwungen, aus Not, taktisch, opportunistisch oder aus Überzeugung erfolgte, oder gar als Kooperation zu kennzeichnen ist, spielte für die Angst vor Vergeltung keine primäre Rolle...
»I have a confession to make, Chief, but please don’t get a shock.« Mit diesen Worten beginnt ein 40-seitiger, für die transnationale Geschichte des Nationalsozialismus bedeutsamer Bericht von Willy Brandt an Louis P. Lochner aus dem Jahr 1946. Nicht der spätere Bundeskanzler, sondern Willy Erwin Hermann Brandt, Geschäftsführer der Associated Press GmbH bis Ende 1941, beschrieb darin seinem früheren Vorgesetzten Lochner, dem Chef-Korrespondenten der Associated Press (AP) in Deutschland, die Zusammenarbeit von AP und NS-Regime in den Jahren 1942–1945. Der bisher in der Forschung unbekannte, auf schlechtem Durchdruckpapier verfasste Report in Lochners Nachlass in Madison/Wisconsin mutet wie ein Agenten-Thriller an: Demzufolge tauschte die amerikanische Nachrichtenagentur von 1942 bis zum Frühjahr 1945 mit einer geheimen Agentur von SS und Auswärtigem Amt in Berlin, dem »Büro Laux«, ständig Fotomaterial aus...
In this issue
(2017)
Zu diesem Heft
(2017)
Der Neue Mensch
(2017)
Geschichtswissenschaftliche Studien zum „Neuen Menschen“ beziehen sich auf übergreifende Fragestellungen und breitere Forschungsfelder. Dabei sind die neuen totalitären Ideologien und modernen Diktaturen des 20. Jahrhunderts besonders beachtet worden. Allerdings wurden Utopien eines Neuen Menschen auch in Demokratien entwickelt, die deshalb in diesem Beitrag ebenfalls berücksichtigt werden. Abschließend wird auf Defizite der Geschichtsschreibung hingewiesen.
Antikommunismus
(2017)
Mit der Ausbreitung des Kommunismus, mit der Diffusion von Ideologien und Bewegungen waren Abstoßungseffekte, d.h. die Entstehung von Gegenideologien und Gegenbewegungen verbunden. Der Beitrag von Bernd Faulenbach behandelt „Antikommunismus” als historische Kategorie. Er thematisiert zunächst seine Entstehung seit 1917, dann werden die Epochen des Antikommunismus dargestellt bis hin zur Auseinandersetzung mit dem Kommunismus seit der Epochenwende 1989-91. Abschließend erörtert er den Forschungsstand und offene Fragen.
Um 1980 avancierten in der Bundesrepublik und in West-Berlin Hausbesetzungen und die kollektive Instandsetzung verfallender Häuser zu einem sichtbaren und vieldiskutierten Mittel des Protests. Einer aus ihrer Perspektive verfehlten Wohnungspolitik, die intakte Häuser abriss, setzten unterschiedliche Akteure den Erhalt von Altbauten und damit auch von gewachsenen sozialen Strukturen der Stadtviertel entgegen. Mit der eigenhändigen Instandsetzung der Häuser war das Ziel verbunden, sie zu Orten für neue, alternative Formen des Zusammenlebens und Arbeitens umzugestalten. Instandsetzen hieß, den Beweis dafür anzutreten, dass Flächensanierung als »Kahlschlagsanierung« falsch sei, dass Altbauten erhaltenswert und menschengerechte Städte mit mehr Lebensqualität ohne große Kosten möglich seien.
Millionen von Menschen aus zahlreichen Ländern besuchten im 20. Jahrhundert die Schlachtfelder und Soldatenfriedhöfe des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Die Motive und Praktiken der Reisenden waren dabei durchaus unterschiedlich. In den ersten Nachkriegsjahren und -jahrzehnten fuhren viele Angehörige von Kriegstoten zu Soldatenfriedhöfen, Gedenkstätten und ehemaligen Schlachtfeldern. Aber es waren immer auch andere Personen und Gruppen unter den Reisenden, die keine persönliche Beziehung zu den toten Soldaten hatten. Nach dem Ersten Weltkrieg bezeichneten britische Zeitgenossen die Reisen von Veteranen und Angehörigen gefallener Soldaten zu den von ihnen als heilig betrachteten Schlachtfeldern und Kriegsgräbern als Pilgerfahrten und werteten andere Besucher dieser Orte als »Touristen« ab, die sich an den sakralen Stätten nicht angemessen benähmen und aus reiner Sensationslust angereist seien.
Seit einiger Zeit erfreuen sich Themen wie »Gerechtigkeit«, »Würde« oder das »richtige« Leben großer Popularität. Auch in der Geschichtswissenschaft floriert die Erforschung von Moral: »Menschenrechte«, »Transitional Justice« oder »Humanitarismus« sind als neue Themenfelder erschlossen worden. In Frankfurt am Main und Berlin beschäftigen sich größere Forschungsverbünde mit der Analyse normativer Ordnungen moderner Gesellschaften. Unter dem Schlagwort »NS-Moral« geht es um Inhalte und Geltungsmacht einer partikularen Moral des Nationalsozialismus. Zeitlich übergreifende Darstellungen zur Geschichte der »Menschheit« oder des »Westens« verfolgen selbst das Ziel, eine bestimmte (politische) Moral zu rechtfertigen.
Seit einiger Zeit löst sich die Schockstarre, die bei Bekanntwerden des Ergebnisses des Referendums vom Juni 2016 über die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs eingesetzt hatte. Mittlerweile wird sie außerdem gelegentlich durch Entwicklungen in den USA, Italien und anderswo überlagert, die alle ihrerseits für die weitere Entwicklung in Bezug auf den Brexit folgenreich sind. Weiterhin ist das Vereinigte Königreich Teil der Europäischen Union, wobei die Perspektive eines Austritts längst ihren Schatten vorauswirft. Viel ist in den vergangenen Monaten international gesagt und geschrieben worden, um das lange Zeit Undenkbare zu erklären. Eine beachtliche Reihe von Kommentatoren hat sich zu Ergründungen des britischen Nationalcharakters hinreißen lassen und etwa Beispiele für ein tief verankertes Sonderbewusstsein und Anzeichen für einen Sonderweg in Kultur und Geschichte bemüht.
Private Alben sind für Außenstehende schwer zugänglich. Die Familie, die ihre Alben dem Museum übergab, maß ihnen gesellschaftliche Bedeutung zu. Als Fundstücke ohne Kontext stehen sie für sich allein und erscheinen zunächst hermetisch.[3] Doch bei sorgfältiger Betrachtung und Analyse lässt sich in vier Arbeitsschritten das lebensgeschichtliche Narrativ eines sowjetischen Kraftwerksingenieurs rekonstruieren. In einem ersten Schritt geben das Abgebildete und die (knappen) Beschriftungen Auskunft über örtliche und zeitliche Bezüge, materielle Kultur, Alter, Generationenzugehörigkeit und soziale Beziehungen der Menschen. In einem zweiten Schritt können die aufgerufenen Kontexte recherchiert werden – hier als Hintergrund die Ingenieure als »Klasse«, die sowjetische innere Expansion seit 1945 und die örtlichen Verhältnisse. In einem dritten Schritt werden die Fotografien und die Alben als Artefakte betrachtet. Auf die Fragen nach Entstehungszeit und Urheberschaft folgen in einem vierten Schritt Fragen nach Bedeutungen bestimmter Anordnungen und Gebrauchsspuren der Alben. So entfalten sich aus den Bildern und ihrer Komposition visuelle Narrative.
My Road to Berlin, or Mein Weg nach Berlin, presents a Willy Brandt that confounds a present-day reader’s expectations. While the 1960 autobiography of the then-mayor of West Berlin links his career with the familiar story of democracy’s development in Germany, this work nevertheless retains an unexpected edge. In one surprising scene, the mayor denounces his East Berlin SED counterparts as a ›Communist foreign legion‹ whom ›the citizens of my city had decisively defeated‹ during the Second Berlin Crisis of 1958 (p. 17). In the book, Brandt comes off as a Cold Warrior of steely determination rather than a Brückenbauer bridging ideological divides. Far from being out of character, however, My Road to Berlin captures Brandt at a pivotal moment in his career, when he sought to offer himself to both West German voters and a global public as a viable alternative to Konrad Adenauer.