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Das westdeutsche Abschieberegime entstand im Kontext der Problematisierung von People of Color, die seit 1950 in die Bundesrepublik einreisten, um dort ein Studium oder eine Ausbildung aufzunehmen. Die junge Republik lud Menschen aus sich dekolonisierenden Ländern zunächst ein, um sich von der Rassenideologie des National- sozialismus zu distanzieren und sich gegenüber dem Sozialismus zu profilieren. Dabei bestand jedoch weiterhin die im Kern völkische Prämisse, dass People of Color nicht langfristig bleiben sollten. Die Herstellung ihrer Rückführbarkeit manifestierte sich in der Rechts-, Verwaltungs- und Betreuungspraxis lokaler Behörden und Wohlfahrtsverbände, wodurch diese Prämisse in das Ausländergesetz von 1965 einging. Das Gesetz machte insbesondere »außereuropäische« Migrant*innen abschiebbar, denen es pauschal kriminelle Täuschungsabsichten und extremistische Politisierung unterstellte. Es verrechtlichte zudem eine pseudomoralische Rückkehrpflicht von People of Color unter Verweis auf ihren Entwicklungsauftrag in den Herkunftsländern und auf tradierte Geschlechterrollen. Diese Normen waren in der Bundesrepublik permanent abrufbar und wurden sukzessive auf andere Migrant*innen angewandt.
Fritz Bauer und das Radio
(2019)
»Bauer ging nicht gerne in die Öffentlichkeit«, meinte Detlev Claussen rückblickend. Claussen, in den späten 1960er-Jahren Student in Frankfurt am Main, fügte seiner Charakterisierung des hessischen Generalstaatsanwalts jedoch sofort hinzu: »[…] aber die Verfolgung seiner Pflichten nötigte ihn dazu, öffentlich über die von ihm angeregten spektakulären Prozesse zu sprechen und in Hörfunk und Fernsehen, mit Aufsätzen und Vorträgen für eine Reformierung des Strafrechts zu kämpfen.« Der Soziologe Claussen ging noch weiter und urteilte: »Fritz Bauer musste contre coeur aus dem schützenden Schatten der Privatheit eines entre nous heraustreten, um seinen Auftrag zu erfüllen, nämlich Licht auf das Fortleben der Mörder unter uns zu werfen.« Die biographische Forschung unterstreicht das öffentliche Wirken des Juristen mittlerweile durch vielfältige Publikationen. Zu den Editionen von Vorträgen und kleineren Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften gesellen sich seit 2014 die Ausgaben der »Gespräche, Interviews und Reden« aus den Fernseharchiven und seit 2017 ein Hörbuch mit Tondokumenten unter dem Titel »Fritz Bauer. Sein Leben. Sein Denken. Sein Wirken«.
In der Diskussion über die Kontinuität von Gesellschaftsstrukturen, die aus der ersten Jahrhunderthälfte in die beiden deutschen Staaten hineinragen und diese, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, prägten, hat die Frage nach den DDR-Eliten jüngst an Gewicht gewonnen. Standen zuvor ausschließlich die unter dem Blickwinkel einer retrospektiven Aufarbeitung des Nationalsozialismus problematisierten Kontinuitätslinien der Eliten in Westdeutschland im Mittelpunkt eines langsam gewachsenen zeitgeschichtlichen Interesses, kann seit 1990 auf ungleich besserer Quellengrundlage gefragt werden, wie es damit in der DDR bestellt war. In der westdeutschen Historiographie bestand schon länger ein Konsens darüber, daß es hier - anders als in der frühen Bundesrepublik - einen vollständigen Bruch für die maßgeblichen Karrieren in der Verwaltung, nicht jedoch in der Wirtschaft gegeben hat. Aber trotz aller Unterschiede gab es auch Parallelentwicklungen. Zu stark ähnelten sich die personellen Ausgangsbedingungen, als daß anzunehmen wäre, die in der Bundesrepublik anzutreffende Kontinuität in den Basisstrukturen der öffentlichen Verwaltung und in der Wirtschaft hätte keine Entsprechung auf östlicher Seite gefunden.
Das Fremde denken
(2008)
Das Fremde ist einerseits etwas Uraltes, andererseits etwas höchst Aktuelles. Was das Uralte angeht, so genügt es, auf zwei Quellen der westlichen Kultur hinzuweisen. In Mose 2,22 heißt es: „Die Fremdlinge sollst du nicht schinden und drücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten gewesen.“ Es ist ein Gebot, das auf eine vorherige Erfahrung hinweist, nämlich auf das Exil, von dem das Jüdische bis in die Gegenwart gezeichnet ist. Bei den Griechen trägt Zeus den Beinamen xenios - der Gott, der das Gastrecht schützt. Wie eng Fremdheit, Gastfreundschaft und Feindschaft beieinander wohnen, zeigt sich in der schillernden Bedeutung der lateinischen Wörter hostis und hospes. Hat die Aktualität der Fremdheitsproblematik überhaupt etwas mit diesen alten Traditionen zu tun? Vielleicht könnte das Denken des Fremden - speziell aus Sicht der Philosophie - darauf eine Antwort geben, gerade weil sich dieses Denken weder auf sicher vorhandene Traditionen stützt noch in Tagesfragen aufgeht.
Kolonialkrieg, Globalstrategie und Kalter Krieg. Die Emergencies in Malaya und Kenya 1948–1960
(2005)
Kein Staat der Welt hat während des Kalten Krieges öfter Krieg geführt als Großbritannien. Obwohl das Königreich ein Hauptakteur des Ost-West-Konfliktes und die größte Kolonialmacht der Erde war, erklären sich diese „heißen Kriege" im Kalten Krieg weder aus der Blockkonfrontation noch aus der Logik eines kolonialen Freiheitskampfes wirklich hinreichend. Man kann diese Kriege nur verstehen, wenn man sie als Resultate einer auf die Weltmachtrolle und das Selbstverständnis als Imperialmacht zentrierten Kollektivmentalität in den politischen und militärischen Eliten des Mutterlandes begreift. Die „heißen Kriege" waren in erster Linie ein Ausfluss globalstrategischen Sicherheitsdenkens. Der Artikel zeigt dies am Beispiel der Emergencies (Ausnahmezustände) in Malaya und Kenya, die für die strategische Verteidigung der Indikregion bedeutsam waren.
Anhand einer Anwaltsgruppe um Kurt Rosenfeld und Theodor Liebknecht wird gezeigt, wie sozialistische Anwälte Gerichtsverfahren sowie deren öffentliche Wahrnehmung mitprägten und im Sinne der eigenen politischen Bewegung nutzbar machen konnten. Wie setzten sie juristische Verfahrensmöglichkeiten für weitergehende Ziele ein? Nach Hinweisen zu den Ursprüngen dieses Anwaltstypus und den biographischen Hintergründen der Anwälte fokussiert der Beitrag das Fallbeispiel der Berliner »Spartakusprozesse«. In diesen Verfahren gegen (angebliche) Beteiligte am Januaraufstand 1919 klagten die untersuchten Anwälte die Rechtsprechung, die neue Regierung und die bewaffnete Macht an. Schon hier stellten sie die für die Weimarer Republik zentralen Fragen nach der Legitimität und Legalität der Regierung sowie nach einer alternativen Ordnung. Deutlich wird ferner der besondere Resonanzraum für politische Strafverteidigung in Umbruchszeiten und für Anwälte, die zugleich als Politiker öffentlichkeitswirksam arbeiteten. Sozialistische Anwälte können folglich nicht auf die Rolle von Kronzeugen gegen die einseitige Justiz der Weimarer Republik reduziert werden, sondern sie waren selbstbewusste Akteure, die zur Debatte um den rechtlichen und politischen Charakter der neuen Ordnung wesentlich beitrugen.
Ausweisungen können weitere politische Funktionen einnehmen, die über die staatliche Steuerung von Migration hinausgehen. Wie wir in diesem Aufsatz anhand zweier Sondertypen von Ausweisungen zeigen, können solche Maßnahmen gerade in Phasen staatlicher Konsolidierung und bei der Überlappung von Souveränitätsansprüchen als politisches right-peopling auftreten. In diesem Kontext untersuchen wir die Rolle von Ausweisungen während der kritischen Phase der deutschen Nationalstaatsbildung nach dem Ersten Weltkrieg. Für die 1920er-Jahre analysieren wir einerseits Ausweisungen von Deutschen aus anderen Landesteilen durch deutsche Landesbehörden (etwa von Württembergern aus Baden), andererseits Ausweisungen von Deutschen aus dem besetzten Rheinland durch die alliierten Besatzungsbehörden. Mit Bezug auf aktuelle Debatten um Illegalisierung und deportability von Migrant*innen betrachten wir Beispiele aus regional- und rechtshistorischen Quellen der Weimarer Republik. So zeigen wir, wie Ausweisungen sozialpolitische und ethnisch-exklusive Ziele hatten, aber auch zu einer Stärkung staatlicher Institutionen und zu einer nationalistischen Identifikation mit dem Deutschen Reich nach dem verlorenen Krieg führten.
Virtual Reality. Sowjetische Bild- und Zensurpolitik als Erinnerungskontrolle in den 1930er-Jahren
(2010)
Am Beispiel eines zur Bild-Ikone geratenen Lenin-Fotos aus dem Jahr 1920 untersucht der Beitrag die Praxis manipulativer Eingriffe in das visuelle Gedächtnis der UdSSR vom Stalinismus bis zur Perestrojka. Die Aufnahme, die im Original Lenin und Trotzki vor sowjetischen Truppen in Moskau zeigte, wurde massiven Geschichtsfälschungen unter-zogen, an denen sich prototypisch die Intentionen, Mechanismen und politischen Strukturen der sowjetischen Bild- und Medienzensur seit den 1930er-Jahren rekonstruieren lassen. Die UdSSR gab sich ein neues ideologisches wie visuelles Design, das den Staat im In- und Ausland als Erfolgsmodell darstellen sollte. Dieses Design erforderte nicht nur eine nachträgliche „Optimierung“ der Vergangenheit; in ihm manifestierten sich zugleich stalinistische Visualisierungsstrategien, mit denen Staat und Partei politische Sichtbarkeiten zu kontrollieren versuchten. Trotz des enormen Aufwands war dieser Versuch indes nur teilweise erfolgreich: Es erwies sich letztlich als unmöglich, die Unperson Trotzki flächendeckend aus dem kulturellen Gedächtnis zu eliminieren.
Der Aufsatz setzt die Massenerschießungen von Katyn, bei denen der NKWD 1940 Tausende polnischer Kriegsgefangener tötete, in den Kontext einer deutsch-sowjetischen Verflechtungsgeschichte, um die abstrakten Gewalthierarchien früherer Diktaturvergleiche zu überwinden. Dass Goebbels’ sonst wenig glaubwürdige Propaganda 1943 die wirklichen Täter nannte, prägte die langfristigen Kommunikationsmuster ebenso wie Stalins Versuch, Zweifler an der angeblichen deutschen Täterschaft als Kollaborateure des „Dritten Reichs“ zu diskreditieren. In den Deutungen von Katyn während des Kalten Kriegs wirkten die konträren Sichtweisen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs folgenreich nach. Analysiert werden das Beschweigen, die Verrätselung und die Boulevardisierung Katyns vor allem in der westlichen Rezeption; so trägt der Aufsatz dazu bei, die Geschichtskultur des Kalten Kriegs zu historisieren. Katyn ist ein Lehrstück über die Selektivität historischer Narrationen, das bis in aktuelle Debatten um eine europäische Weltkriegserinnerung hineinreicht.
Wollte ich den Kalten Krieg als Thema deutscher Spielfilme analysieren, könnte ich mir keinen verkehrteren als den Regisseur Wolfgang Staudte aussuchen. Staudte hat die Ost- West-Konfrontation nie in Szene gesetzt. In seinen Filmen gibt es keine finsteren Agenten, die militärische Geheimnisse der Gegenseite ausschnüffeln, keine Wissenschaftler, die an tückischen Massenvemichtungswaffen für den finalen Schlagabtausch der Systeme basteln, nicht einmal vertrackte west-östliche Romanzen, in denen entweder das Land oder die geliebte Person verlassen werden muss. Den Kalten Krieg und die deutsche Teilung hielt Staudte zeit seines Lebens für eine kapitale Fehlentwicklung. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass auch seine Filme in den Strudel permanenter Systemkonkurrenz und entsprechenden Misstrauens gerieten. Insofern lässt sich gerade an diesen - den Kalten Krieg auf der Handlungsebene bewusst aussparenden - Filmen studieren, wo und wie Versuche eines Ausstiegs aus dem Blockdenken an Grenzen stießen.
Ol’ga Šparaga hat die belarusischen Untersuchungsgefängnisse von innen gesehen. Sie erzählt vom Schmutz und von der Kälte, von den Verhören – und von der Angst der Wärter. Um einem drohenden Strafverfahren wegen angeblicher Organisation von Massenunruhen zu entgehen, ist sie nach Litauen geflohen, wo sie Bildungsbeauftragte des Koordinationsrats der belarussischen Gesellschaft wurde. Trotz der massiven Repressionswelle, mit der das Regime die Gesellschaft überzieht, bleibt sie optimistisch: An dem Versuch, die Zeit anzuhalten, ist bisher noch jeder gescheitert.
Seit sich die republikanische Regierungsform in Frankreich endgültig durchgesetzt hatte (1875), waren vier Gruppen von Franzosen Diskriminierungen ausgesetzt, die im Staatsangehörigkeitsrecht festgeschrieben waren: französische Frauen, die Ausländer heirateten; algerische Muslime, Eingebürgerte und Juden. Die Republik erkannte sie als Franzosen an, gewährte ihnen aber nicht in jeder Hinsicht gleiche Rechte. Heute sind diese Diskriminierungen verschwunden. Doch zwei der vier Gruppen – die Juden und die algerischen Muslime – tragen weiterhin die gelebte Erfahrung und die Erinnerung früherer Diskriminierungen, auch wenn sie inzwischen völlig gleichberechtigt sind und zum Teil Anerkennung oder Reparationen erhalten haben. Der Aufsatz soll verstehen helfen, warum dies so ist, und greift dafür auf psychoanalytische Erklärungsansätze zurück. In beiden Fällen gab es ein zweites Ereignis, das die schmerzliche Vergangenheit reaktivierte: eine Rede de Gaulles 1967 bzw. die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 1993. Dieses zweite Ereignis geschah in einer Zeit formaler Rechtsgleichheit und wies dennoch auf die Zeit der Diskriminierung zurück.
Das seit 2015 laufende Dissertationsprojekt „Zur visuellen Produktion von ‚Flucht‘ und ‚Asyl‘ in Pressefotografien der Bundesrepublik“ beschäftigt sich im ausgeführten Zusammenhang mit Pressefotografien, die in Debatten um „Flucht“ und „Asyl“ seit den 1950er Jahren bis Mitte der 1990er Jahre in der Bundesrepublik in fünf überregionalen Tages- und Wochenzeitungen veröffentlicht wurden („Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Stern“, „Spiegel“, „Süddeutsche Zeitung“, „Die Welt“ – zudem partiell die „Zeit“ und die „tageszeitung“). Der Korpus besteht aus 1800 veröffentlichten Fotografien, den dazugehörigen Zeitungsartikeln und Bildunterschriften.
Eine empirisch fundierte Gesamtbewertung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses im Kontext des deutschen und europäischen Umgangs mit dem Holocaust steht noch aus. Zweierlei lässt sich jedoch mit einiger Bestimmtheit sagen: Weder handelte es sich bei diesem Strafverfahren um den Wende- oder Höhepunkt einer geläuterten westdeutschen Erinnerungskultur, noch war es in irgendeiner Weise repräsentativ für die NS-Prozesse und Ermittlungen, welche seit Ende der 1950er-Jahre mit vermehrter Intensität betrieben wurden. Exzeptionell war dieses Gerichtsverfahren schon insofern, als es ein einzigartiges Großprojekt in angewandter Oral History darstellte, das weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinausstrahlte. Eine vergleichbar hohe Zahl von Opferzeugen (insgesamt 211) aus verschiedenen Ländern und politischen Systemen dürfte es wohl in keinem anderen NS-Verfahren gegeben haben, und allein dieser Sachverhalt garantierte dem Prozess eine weltweite Medienöffentlichkeit. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der entscheidend am Zustandekommen des Prozesses beteiligt war, verband mit den Ermittlungen gegen die Täter von Auschwitz im Wesentlichen zwei Ziele: Zum Ersten ging es ihm darum, die Deutschen zu einer kritischeren Beschäftigung mit ihrer eigenen Geschichte anzuhalten. Zum Zweiten wollte er den Überlebenden Gelegenheit geben, ihre Erlebnisse nach Jahrzehnten des Schweigens öffentlich zu erzählen. Das eine war unmittelbar mit dem anderen verbunden, waren in Politik, Rechtsprechung, Wissenschaft und Medien doch bis dahin Vergangenheitsdiskurse vorherrschend gewesen, die vor allem aus der Perspektive der Täter argumentierten und deren Sichtweisen teils bewusst, teils unbewusst reproduzierten.
Kurz nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus hielt der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas fest, der theoretische Fehler der gescheiterten kommunistischen Machthaber habe darin bestanden, das „sozialistische Projekt mit dem Entwurf - und der gewaltsamen Durchsetzung - einer konkreten Lebensform“ verwechselt zu haben. Für diejenigen Historiker, die sich bereits vor 1989/90 eingehender mit der Geschichte der DDR und deren Herrschaftssystem befasst hatten, lagen die Dinge allerdings schon damals komplizierter, und auch heute - achtzehn Jahre nach dem unerwarteten Verschwinden der DDR - ist weiterhin umstritten, wann der schleichende Niedergang des Systems begann und wann es seinen ultimativen „point of no return“ erreichte.
Auch heute, knapp drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der DDR und dem Beitritt des kleineren ostdeutschen Staates zur größeren Bundesrepublik hat sich die Zeitgeschichte noch kaum mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich das, was seit 1990 auf dem Boden des nunmehr voll-souveränen Deutschlands entstand, in geschichtswissenschaftlicher Perspektive erfassen, verstehen und einordnen lässt. Für die These, dass es sich bei der nach Osten erweiterten Bundesrepublik nicht bloß um eine Fortsetzung von Altbekanntem, sondern teilweise um etwas Neues handelte, sprachen neben dem radikal gewandelten internationalen Kontext schon aus zeitgenössischer Sicht die besonderen Bedingungen des politischen Umbruchs in der spätsozialistischen DDR.
Verglichen mit den kommunistischen Nachbarstaaten waren die Umwälzungen in Ostdeutschland durch ein besonders hohes Tempo geprägt. Binnen weniger Monate kollabierte ein politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches System, welches sich bis dahin – trotz vielfältiger Anpassungsschwierigkeiten und Krisenerscheinungen – durch einen bemerkenswerten Grad an Stabilität und Selbstbewusstsein ausgezeichnet hatte. Neben dem schlagartigen Zerfall des SED-Staats stellte die schnelle Übertragung des politischen und sozioökonomischen Modells der Bundesrepublik die zweite große Besonderheit dar. In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird dieser Vorgang wahlweise als eine „von therapeutischen Maßnahmen bereinigte Schocktherapie“, als „natürliches Experiment“ oder als „electric chair therapy“ bezeichnet: Mit dem erklärten Ziel, innerhalb kürzester Zeit eine vollständige Angleichung an westdeutsche Produktivitäts-, Lohn-, Konsum- und Rechtsstandards zu erreichen, wurden sämtliche institutionellen Arrangements der alten Bundesrepublik in die neuen Bundesländer transplantiert. Die Geschwindigkeit, Totalität und Radikalität, in der sich diese Veränderungsprozesse vollzogen, setzten wiederum verschiedene Dynamiken in Gang, für die Jürgen Kocka seinerzeit den Begriff der „Vereinigungskrise“ geprägt hat.
Der Krieg in der Ukraine ist nicht der erste in den Sozialen Medien. Doch kein anderer ging bisher so viral: 62 Milliarden Aufrufe für den Hashtag #ukraine auf der Social Media Plattform TikTok allein deuten die Dimension der Reichweite an, die schon zu der Bezeichnung „TikTok Krieg“ führte. Die verschiedenen Akteur:innen stehen sich nicht nur physisch-militärisch gegenüber, sondern ringen in einem steten Kampf um Likes in den Sozialen Netzwerken, um die Aufmerksamkeit eines weltweit wachsenden Publikums und die Hoheit der Narrative. Inzwischen ist die Rede von einem „LikeWar“, in dem es allerdings nicht um Likes, sondern über Leben und Tod geht. Dieser Bereich der Cognitive Warfare, bei der das Denken und Handeln von Individuen und Kollektiven das Schlachtfeld bildet, zieht sich durch alle Bereiche des Krieges in der Ukraine und darüber hinaus. Dabei zeigt sich der weltanschauliche Gegensatz zwischen Diktatur und Demokratie auch im Umgang mit und Einsatz von Sozialen Medien.
Korporatismus und Lobbyismus vor 50 Jahren und heute. Theodor Eschenburgs „Herrschaft der Verbände?"
(2005)
Als zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs Theodor Eschenburgs kleine, aber einflussreiche Schrift über die besorgniserregende Zunahme von Verbandsinteressen und Gruppenegoismen im noch jungen demokratischen Gemeinwesen der Bundesrepublik erschien, waren Verbände weder hinsichtlich der Organisationsmacht noch mit ihren Einflussversuchen auf politische Entscheidungsprozesse neuartige Phänomene. Man mag an den Alldeutschen Verband oder den Bund der Landwirte im Kaiserreich denken, an die Gewerkschaften der Weimarer Republik oder die mächtige industrielle Verbandslobby, die auch während des Nationalsozialismus weitgehend erhalten blieb: In modernen Massengesellschaften zählt die Artikulation partikularer Gruppeninteressen spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Alltag.
Friedensforschung und Gewalt. Zwischen entgrenzter Gewaltanalyse und epistemischer Gewaltblindheit
(2018)
In der Gegenwart werden geradezu eruptiv und medial befeuert »alte« Gewaltphänomene zu Tage gefördert: Die Kampagne »#MeToo« lässt ein soziales Gewaltproblem sichtbar werden, welches lange Jahre ahnungsvoll präsent war, ohne im Detail öffentlich-politisch oder auch durch die Friedensforschung angemessen adressiert worden zu sein. Gleichzeitig drohen die Machthaber von Atomwaffenstaaten unverblümt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen, während weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit autonome Waffensysteme entwickelt werden, die gar nicht mehr auf eine/n Gewalttäter*in angewiesen sind, sondern allein aufgrund von dafür entwickelten Algorithmen Gewalt anwenden und Menschen töten. Bei einem derart entgrenzten Gewaltverständnis hat die Friedensforschung alle Hände voll zu tun, die unterschiedlichen Gewaltphänomene der Gegenwart im Blick zu behalten, über deren Entstehungsbedingungen aufzuklären und Ansätze zu ihrer Eingrenzung oder Überwindung zu entwickeln. Doch verdeutlichen die genannten Beispiele, dass auch die Friedensforschung nicht ohne weiteres aus den »Denkcontainern« der jeweiligen Gegenwart aussteigen kann und deshalb nicht vor epistemischer Gewaltblindheit, der wissenschaftlichen Unaufmerksamkeit für gesellschaftlich bedeutsame Gewalterfahrungen, gefeit ist. Wie bearbeitet die Friedensforschung das Spannungsverhältnis zwischen entgrenzter Gewaltanalyse einerseits und epistemischer Gewaltblindheit andererseits? Welche Rolle spielt dabei ihre Abhängigkeit von staatlicher finanzieller Förderung? Welche Gewaltverhältnisse werden aus welchen Motiven untersucht – und welche nicht? Ein Blick in die Geschichte der bundesdeutschen Friedensforschung kann hier erhellend wirken.
Flucht in den Strandurlaub?
(2024)
Das Fotoalbum der Familie Lindenberger enthält – für ein solches keineswegs unüblich – auch einige Fotografien aus Urlauben am Meer. So sieht man dreimal Joseph Lindenberger am Strand, einmal im Badeanzug lesend auf einer Decke sitzend, ein weiteres Mal im Bademantel in einem Boot sitzend und zu guter Letzt in Hemd und Krawatte sich auf ein Boot stützend. Im Hintergrund der ersten beiden Bilder, die in einem Doppelabzug vorliegen, sieht man ein auf Stelzen gebautes, langes Strandhaus, das vermutlich zu einer Landungsbrücke weiter ins Meer hinein führt. Eine ebensolche kann man im Hintergrund des dritten Bildes sehen, dessen Aufnahmeperspektive auf das Meer gerichtet ist. Die drei Bilder eignen sich für eine über das Biografische hinausreichende Betrachtung.