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»Es gibt ein Menschenrecht auf Bleiberecht!«, verkündete Sevim Dağdelen, damals Bundestagsabgeordnete für Die Linke, im März 2006. Dabei bezog sie sich auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall »Sisojeva u.a. gegen Lettland« vom Juni 2005. Es ging dabei um das Ehepaar Svetlana Sisojeva und Arkady Sisojev, die zur Zeit der Sowjetunion Ende der 1960er-Jahre nach Lettland gekommen waren und dort auch eine Tochter bekommen hatten. Ihr Aufenthaltsstatus blieb nach der Unabhängigkeit des baltischen Staates 1991 ungeklärt, da Lettland die Annexion des schon in der Zwischenkriegszeit unabhängigen Landes durch die Sowjetunion 1940 bzw. 1944 nicht anerkannte und die zur Sowjetzeit ins Land gekommenen Personen daher als Ausländer bzw. Staatenlose betrachtete, die gegebenenfalls das Land zu verlassen hätten. Aus einer Binnenmigration wurde somit quasi rückwirkend eine internationale Migration. In ihrer Beschwerde beim EGMR machte die Familie geltend, dass der lettische Staat durch seine Weigerung, ihren Aufenthaltsstatus zu regeln, ihr Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK) verletze. Der EGMR schloss sich mehrheitlich dieser Auffassung an, woraus die Bundestagsabgeordnete Dağdelen folgerte: »Es gibt – unter bestimmten Bedingungen – ein Menschenrecht auf Bleiberecht, das der ausländerrechtlichen Allmacht der Nationalstaaten Grenzen setzt. Dieses Recht steht auch nicht im ›humanitären Ermessen‹ der Behörden. Es gilt absolut!«
Zu diesem Heft
(2023)
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der nun schon seit über einem Jahr andauert, hat vielfältige historische Bezüge und Implikationen – auch solche, an die man vielleicht nicht sofort denkt. Nach Angaben des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge kamen während dieses Krieges bisher menschliche Überreste von über 800 Wehrmachtssoldaten an die Oberfläche, einige davon beim Ausheben neuer Schützengräben. Mitunter werden auch Helme und Stiefel gefunden. Die »Zeitschichten«-Metapher des Historikers Reinhart Koselleck (1923–2006), der als Soldat selbst in der Ukraine gewesen war, gewinnt hier eine veränderte Bedeutung und sehr konkrete Materialität. In ihrer Dankesrede bei der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung sagte die russische, momentan in Berlin lebende Schriftstellerin Maria Stepanova im April 2023: »Sind wir jetzt dazu verdammt, das zwanzigste Jahrhundert immer wieder neu zu erleben, seine Gefängnisse, Konzentrationslager und Propagandamaschinen, seine Grabenkriege und seine Flächenbombardements? Was tun, wenn das Gewebe der Sprache, ihre Textur, plötzlich durchsichtig wird und man all die verborgenen Schichten latenter und offener Gewalt sieht, die in ihr liegen und nach außen drängen?«
Zeitgeschichte neurodivers? Standpunktepistemologie und (geschichts-)wissenschaftliche Kommunikation
(2022)
In der akademischen wie der breiteren Öffentlichkeit ist der Begriff der Diversität gegenwärtig nahezu universal anschlussfähig. Der Gründungsdirektor des Göttinger Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften Steven Vertovec stimmt gar Loretta Lees zu, die schon 2003 bemerkte, mit Diversität verhalte es sich wie mit Mutterschaft oder Apfelkuchen: Man könne nur mit größeren Schwierigkeiten dagegen sein. In den letzten dreißig Jahren ist Diversität zunächst in den USA und dann auch in Westeuropa sowohl als sozialwissenschaftliche Analysekategorie wie auch als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und zur Aushandlung von Teilhabeansprüchen immer bedeutsamer geworden. Diversität ist das normative Leitbild staatlicher und internationaler Antidiskriminierungsprogramme, die, wie etwa das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 in der Bundesrepublik, »Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität […] verhindern oder […] beseitigen« sollen (§ 1). Das öffentliche Bekenntnis zu Diversität ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit in Unternehmen und Organisationen, die oft Strategien des Diversitätsmanagements entwickeln. Der Ursprung dieser gesellschaftlichen Diversitätsbejahung liegt in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre, der zweiten Frauenbewegung, aber auch der Gay-, Lesbian- und Transgender-Bewegung sowie der Behindertenrechtsbewegung, die vor allem seit den 1970er-Jahren in den USA und in Westeuropa für die Anerkennung ihrer marginalisierten und diskriminierten Subjektpositionen stritten.
Zu diesem Heft
(2022)
War es in den Jahren 2020/21 vor allem die Corona-Pandemie, die von vielen als gravierende Zäsur wahrgenommen wurde, so ist mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 noch ein ganz anderer Ereigniszusammenhang von existentieller Bedeutung hinzugetreten, dessen mittel- und längerfristige Folgen erst teilweise absehbar sind. Während der Buchtitel »Der 11. September 2001 – (k)eine Zeitenwende?« aus dem Frühjahr 2022 schon klingt wie aus einer längst vergangenen Epoche, wird die Frage »Beginnt jetzt eine neue Zeit?« nun unter veränderten Vorzeichen gestellt oder die »Zeitenwende« und das »Ende der Globalisierung« gleich forsch behauptet. Eine im besten Sinne akademische Tagung über »Epochenwenden und Epochenwandel« erhielt im April 2022 eine so nicht erwartete Aktualität; das Organisationsteam schrieb dazu: »Das Thema hat uns in der Gegenwart eingeholt und vielleicht schon überholt.« Allerdings gehört zur geisteswissenschaftlichen Arbeit immer auch die Skepsis gegenüber eiligen Zeitdiagnosen und Zäsurbehauptungen, wie etwa der aus Indien stammende Politikwissenschaftler Parag Khanna betont hat: »Wir sollten uns vor großspurigen Proklamationen hüten, die unsere Zeiten auf den Punkt bringen wollen. Solche Prägungen erfassen nur den Moment, der gerade vergangen ist, und sind garantiert bald wieder passé.« Nun mag selbst eine derartige »Garantie« des Vorläufigen fragwürdig erscheinen, wenn es doch »überdeutliche Symptome des Umbruchs, der tiefen Zäsur« gibt, wie der Historiker Jörn Leonhard hervorgehoben hat. Mit Rückbezug auf Reinhart Koselleck betont er die grundsätzlich enge Verbindung von »Zäsur und Wiederholung«, von »Einmaligkeit der Geschichte« und ihrer »Rekurrenz«.
Mit dem vorliegenden Essay möchte ich in erster Linie vorstellen, was eine intersektionale Disability History leisten kann, welche neuen Fragen sie generiert und welche (inter-)disziplinären Anschlussmöglichkeiten sie bietet. Dazu ist es zunächst notwendig, einen Blick auf die Genese der Forschungslandschaft zur Geschichte und Gegenwart von Behinderung zu werfen, da bereits seit einigen Jahrzehnten insbesondere das Verhältnis der Ungleichheitskategorien Behinderung und Gender beschrieben und untersucht wird. Anschließend wird der Einfluss der Intersektionalitätsforschung auf die Disability History vorgestellt, um zu diskutieren, welchen analytischen und theoretischen Mehrwert eine dezidiert intersektionale Herangehensweise an die (Zeit-)Geschichte von Behinderung bieten kann. Am Ende des Beitrags wird eine Auseinandersetzung mit den normativen Implikationen stehen, die sowohl die Intersektionalitätsforschung als auch die Disability History kontinuierlich begleiten. Eine intersektional angelegte Erforschung von Behinderung kann – so mein Argument – erstens zur Reflexion normativer Zwischentöne beitragen und zweitens das methodische Instrumentarium der historischen Ungleichheitsforschung insgesamt bereichern.
»I Have Diabetes. Am I to Blame?«, fragte Rivers Solomon im Oktober 2016 in der »New York Times«. Der Artikel war von der Redaktion mit »Disability« getaggt worden, und in ihm verschränkten sich die Beschreibungen von erlebten und zugewiesenen körperlichen und mentalen Defiziten. Solomon war 26 Jahre alt, Afroamerikanerin, dick. Sie kritisierte, dass ihre Krankheit anderen deshalb als selbstverschuldet gelte, als Resultat von mangelndem Wissen und Willen.
Ein knappes Jahrhundert zuvor wäre Solomons Erkrankung anders verstanden worden, folgt man Arleen Marcia Tuchmans 2020 veröffentlichter Geschichte von Diabetes in den USA. Tuchman zeigt, dass die Krankheit zwar schon am Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer Folge von übermäßigem Essen und mangelnder Bewegung erklärt, gleichzeitig aber mit spezifischen Befähigungen in Verbindung gebracht wurde. Diabetes galt als typische Krankheit der Erfolgreichen und Modernen. 1936 beschrieb ein Artikel im Magazin »Collier’s« Diabetiker*innen als »bessere Bürger«, die besonders selbstständig und intelligent sein mussten, um ihre Krankheit managen und mit ihr überleben zu können. Galten Afroamerikaner*innen noch zu diesem Zeitpunkt als kaum anfällig für Diabetes (weil sie nicht für »zivilisiert« genug gehalten wurden), wurden sie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zu typischen Diabetes-Patienten. Die Krankheit wandelte sich zum Zeichen von Verantwortungslosigkeit und ungesundem Lebensstil.
Das Beispiel zeigt, wie historische Phänomene von unterschiedlichen Fähigkeitsnormen durchzogen sind. Im Vordergrund meiner Skizze steht dabei nicht der behinderte oder von Behinderung »bedrohte« Körper. Vielmehr interessiere ich mich für die Geschichte der Normen und Prämissen »fähiger« Körper und Subjekte, die bestimmten Menschen bzw. Menschengruppen zu- oder abgesprochen werden. Die ganz knappe Historisierung von Diabetes steht exemplarisch für den Blickwechsel, der sich mit einer Critical Ability History vornehmen lässt.
Das ägyptische Körperkultur-Magazin »al-Abṭāl« (»Die Champions« oder »Die Helden«; beide Übersetzungen sind möglich) berichtete im Februar 1933 über eine öffentliche athletische Leistungsschau in Kairo. Angesichts der beeindruckenden Performance ägyptischer Männer und ihrer trainierten Körper feierte es eine »sportliche arabische Renaissance« (an-nahḍa ar-riyāḍiyya). Diese Leistungsschau zu Ehren des Besuchs Viktor Emanuels III., des Königs von Italien, war nur denkbar in einem politischen und gesellschaftlichen Kontext, in dem der männliche Körper zur Projektionsfläche ägyptischer Selbstbehauptung gegenüber dem britischen Kolonialismus auserkoren wurde. Der Historiker Wilson Chacko Jacob hat in seinem Buch »Working Out Egypt« dargelegt, wie sich die Bemühungen einer aufstrebenden Mittelschicht, ein »unverwechselbares modernes und ägyptisches Selbst vom kolonialen Blick (colonial gaze) zu befreien«, in Diskursen über Geschlecht und Sexualität äußerten, bei welchen einer performativen, auf den athletischen Körper bezogenen Männlichkeit ein zentraler Stellenwert zukam. Eine solche Fokussierung auf den virilen männlichen Körper hatte bereits zur Jahrhundertwende eine globale Dimension erreicht. Dies war eng mit den kolonialen Hierarchien und dem Prozess der Nationsbildung verknüpft, wie Sebastian Conrad feststellt. Beide Aspekte sind auch für den ägyptischen Fall in der Zwischenkriegszeit von Bedeutung, wo vergleichbare Prozesse nicht zuletzt als Reaktion auf den Orientalismus zu sehen sind, hier verstanden als eine diskursive Strategie zur Beherrschung des Orients, der das koloniale Ausgreifen Europas auf die islamische Welt und damit die Region immer auch geschlechtlich codierte. Edward Said hatte dies bereits in seiner heute klassischen Studie »Orientalism« von 1978 konstatiert. Zwar ist die Polemik Saids seit ihrem Erscheinen vielfach kritisiert worden; seiner grundsätzlichen Beobachtung aber, der Orientalismus konstruiere einen feminisierten und als passiv verstandenen Orient, dem das maskuline kolonisierende Subjekt gegenüberstehe, wird weitgehend zugestimmt.
Nostalgie wird oft in kulturellen und, mehr noch, popkulturellen Kontexten diskutiert. Gelegentlich – und gerade in den letzten Jahren wieder – findet sich der Begriff jedoch auch in politischen Zusammenhängen. So wird er dazu verwendet, politische Entwicklungen zu erklären: etwa das britische EU-Referendum, die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, das Erstarken der AfD in Deutschland oder den Aufstieg neuer Autoritarismen im östlichen Europa. Viele Beobachter*innen stellen einen in ihren Augen alarmierenden Zusammenhang zwischen Politik und Vergangenheitssehnsucht her. Aus ihrer Sicht resultieren die Effekte einer ungebremsten Globalisierung in einer gefährlichen Rückwärtsgewandtheit. Statt über sozioökonomische Konstellationen und Interessen erklären sie Politik emotional und psychologisch, wobei sie Nostalgie repathologisieren.
Zum 50. Heft
(2021)
Der 17. Jahrgang dieser Zeitschrift markiert auf den ersten Blick keinerlei Jubiläum. Trotzdem ist die vorliegende Ausgabe für Herausgeber und Redaktion eine besondere: Es handelt sich um das 50. Heft insgesamt. (2007 gab es ein Doppelheft, sonst immer drei Hefte pro Jahrgang.) Dies ist der Anlass für einen knappen Rückblick auf die anfänglichen Ziele und die bisherigen Entwicklungen, aber auch für einen (selbst-)kritischen Ausblick. Mit Recht hat die erst in den Anfängen befindliche kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung festgestellt: »Nicht selten geht das Zeitschriftenmachen mit Reflexionen über den Wert, die Bedingungen oder die Versprechen des Zeitschriftenmachens einher.«
Seit einigen Jahren verdichtet sich auch in Deutschland das Gespräch über Herausforderungen und Perspektiven des digitalen Zeitalters für die Geschichtswissenschaft. Auf jedem Historikertag seit 2010 gab es mehrere Sektionen, die sich unterschiedlichen Facetten des Themas zuwandten. Es entstehen Fachpublikationen, Überblickswerke, Dissertationen und erste Ansätze, das Feld institutionell neu zu gestalten. Die Geschichtswissenschaft bemüht sich, produktiv auf die Veränderungen einzugehen. Punktuell ist es auch bereits zu einem Dialog mit Archiven und der Archivwissenschaft gekommen. So hat der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) 2015 unter Federführung der Vorsitzenden Eva Schlotheuber und Frank Bösch ein Grundsatzpapier verabschiedet, das sich der Quellenkritik im digitalen Zeitalter annimmt. Die Forderung, Elemente der Digital Humanities in die Historischen Grundwissenschaften zu integrieren, wurde seitdem noch weiter unterstrichen.
»[…] wenn ›die Quelle‹ die Reliquie historischen Arbeitens ist – nicht nur Überbleibsel, sondern auch Objekt wissenschaftlicher Verehrung –, dann wäre analog ›das Archiv‹ die Kirche der Geschichtswissenschaft, in der die heiligen Handlungen des Suchens, Findens, Entdeckens und Erforschens vollzogen werden.« Achim Landwehr wirft in seinem geschichtstheoretischen Essay den Historikern ihren »Quellenglauben« vor – diese Kritik ließe sich im digitalen Zeitalter leicht auf die Heilsversprechen der Apostel der »Big Data Revolution« übertragen. Zwar regen sich mittlerweile vermehrt Stimmen, die den »Wahnwitz« der digitalen Utopie in Frage stellen, doch wird der öffentliche Diskurs weiterhin von jener Revolutionsrhetorik dominiert, die standardmäßig als Begleitmusik neuer Technologien ertönt. Statt in der intellektuell wenig fruchtbaren Dichotomie von Gegnern und Befürwortern, »First Movers« und Ignoranten zu verharren, welche die Landschaft der »Digital Humanities« ein wenig überspitzt auch heute noch kennzeichnet, ist das Ziel dieses Beitrages eine praxeologische Reflexion, die den Einfluss von digitalen Infrastrukturen, digitalen Werkzeugen und digitalen »Quellen« auf die Praxis historischen Arbeitens zeigen möchte. Ausgehend von der These, dass ebenjene digitalen Infrastrukturen, Werkzeuge und »Quellen« heute einen zentralen Einfluss darauf haben, wie wir Geschichte denken, erforschen und erzählen, plädiert der Beitrag für ein »Update« der klassischen Hermeneutik in der Geschichtswissenschaft. Die kritische Reflexion über die konstitutive Rolle des Digitalen in der Konstruktion und Vermittlung historischen Wissens ist nicht nur eine Frage epistemologischer Dringlichkeit, sondern zentraler Bestandteil der Selbstverständigung eines Faches, dessen Anspruch als Wissenschaft sich auf die Methoden der Quellenkritik gründet.
Der Begriff »Diversität« hat in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Verbreitung erfahren. Traditionell bezeichnete das Wort nur einen Zustand der Verschiedenheit; in der Gegenwart erscheint es in vielen Kontexten, um dessen Gegenteil zu erreichen: Das Wort meint Verschiedenheit und zielt auf Gleichheit. Schulen und Universitäten regeln Chancengleichheit im Namen von Diversität, Unternehmen formen eine heterogene Belegschaft mittels eines »Diversitätsmanagements«, und Migrationsbewegungen haben die alte Debatte um den Multikulturalismus wieder belebt. Durch seine vielseitige Anschlussfähigkeit ist Diversität zu einem populären und meist positiv besetzten Begriff geworden, der theoretisch jedoch weithin unterbestimmt blieb. Seine Paradoxie besteht in der Kollektivierung von Individuen zu homogenen Gruppen bei gleichzeitiger Pluralisierung dieser Gruppen zu nebeneinanderstehenden Einheiten – ausdrücklich ohne eine umfassende Universalisierung anzustreben.
Archive investieren mittlerweile sehr viel Geld in die Digitalisierung ihrer Bestände, um sie ihren NutzerInnen komfortabel online bereitzustellen. Mit dem Aufbau virtueller Lesesäle geht es nicht mehr um die schon traditionell zu nennende Form der Digitalisierung, bei der exemplarisch besondere Einzelstücke in Form einer Ausstellung online präsentiert werden, sondern es geht tatsächlich um die Bereitstellung von Archivgut zur wissenschaftlichen Auswertung im virtuellen Raum statt im analogen Lesesaal. Doch während Fördermittel in großem Stil beantragt und bewilligt sowie die technischen Rahmenbedingungen geschaffen und ausgebaut werden, finden inhaltlich-methodische Diskussionen in Deutschland bisher kaum statt. In Frankreich hingegen wird in Anlehnung an das vor 30 Jahren erschienene Buch von Arlette Farge der »Geschmack des Archivs« im digitalen Zeitalter debattiert, und in der Schweiz wird das klare Ziel verfolgt, dass der virtuelle Raum den analogen ersetzen soll. In skandinavischen Ländern ist dies sogar schon geschehen. Dabei ist es in Deutschland keine programmatische Festlegung, dass am traditionellen Lesesaal festgehalten wird, oder muss es zumindest nicht sein, weil die schiere Menge an analogem Archivgut noch für lange Zeit auch herkömmliche Lesesäle erforderlich machen wird. Umso schwieriger wird es in dieser Übergangsphase, die Konturen des virtuellen Raumes genauer zu fassen und zu klären, was eigentlich das Ziel der digitalen Bereitstellung sein soll: eine Art Add-on, ein gleichwertiges Nebeneinander oder eine neue Form der Quellennutzung?
Zu den drängenden Problemen der Historischen Grundwissenschaften gehört es heute, ein erweitertes Instrumentarium für digitale Quellengattungen zu entwickeln. Dabei ist das breite Feld der digitalen Informationstypen der Gegenwart, der sogenannten born digitals (also der genuin digitalen Objekte), noch nicht einmal vollständig in den Blick geraten.1 Dies liegt zum einen daran, dass sich das Quelleninteresse der Zeitgeschichtsforschung in wachsendem Maße auch auf frei im Netz zugängliche Ressourcen richtet.2 Das dort vorhandene Material ist von beachtlicher Vielfalt (und quellenkritischer Brisanz), was eine quellenkundliche Erfassung erschwert. Die mangelnde Durchdringung des digitalen Quellenkanons hat aber auch mit den im Umbruch befindlichen Fachaufgaben der Archive als »traditionellem Ort« der Geschichtsforschung zu tun. Denn die Archive haben in vielen Fällen erst in den letzten Jahren mit systematischen Übernahmen und der Bereitstellung digitaler Unterlagen begonnen. Dementsprechend stehen viele digitale Quellen aus Verwaltungszusammenhängen der Forschung noch gar nicht zur Verfügung. Gleichwohl werden sie für die spätere geschichtswissenschaftliche Erforschung unserer heutigen Gegenwart und jüngsten Vergangenheit von zentraler Bedeutung sein.
Der vergessene »Brotkasten«. Neue Forschungen zur Sozial- und Kulturgeschichte des Heimcomputers
(2019)
Kaum eine Technologie prägt unseren Alltag so sehr wie der Mikrocomputer. Die Historisierung dieses technischen Mediums, der Umstände und Folgen seiner sozialen Implementierung sowie seiner Nutzungsarten ist überfällig. Der Computer in Privatbesitz ist fester Teil nicht nur unserer Gegenwart, sondern auch jener Epochen, die schon längst »historisch« geworden sind und deren Analyse zum Standardrepertoire der Zeitgeschichte gehört. Es ist schon über 40 Jahre her, dass in den USA in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre Computerbausätze für Bastler kursierten, darunter der erste Computer aus dem Hause Apple, und bald darauf auch die ersten Fertiggeräte fürs Zuhause. In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre, während der letzten Eskalationsetappe des Kalten Kriegs, lagen erschwingliche Heimcomputer unter Hunderttausenden von westeuropäischen Weihnachtsbäumen und prägten das Leben zahlloser Jugendlicher. Auch im Ostblock waren Heimcomputer schon Jahre vor dessen Zusammenbruch präsent. Kurzum: Der Computer als technisches Medium, als Konsumgut und als Alltagsobjekt prägte bereits jene Epochen, bei denen ein Konsens darüber herrscht, dass sie ein legitimer Gegenstand der historischen Forschung sind.
When does stress – understood as a bodily and psychological condition connected to rapid social change and the pressure to perform – become a social concern? Previous historical research has situated the topic exclusively in the West: stress as a characteristic condition of what is understood to be Western capitalism. Using the examples of the state socialist GDR and Czechoslovakia in the 1960s – 1980s, this contribution demonstrates how stress became a broad social concern in a non-liberal, noncapitalist context. It thereby challenges the notion that stress is a Western phenomenon, proposing instead to see it in the context of developed and “multiple” modernities.
Wann ein Mensch als Flüchtling gilt, hängt maßgeblich von der juristischen Einordung des Aufnahmestaates ab. Wird vom Aufnahmestaat anerkannt, dass es sich um eine erzwungene Flucht handelt, beispielsweise durch Krieg oder Verfolgung, besitzt der Geflüchtete Anspruch auf Asyl. Wird dagegen festgestellt, dass ein mehr oder weniger freiwilliger Migrationsgrund vorliegt, besitzt der Staat das Recht auf Abweisung. Diese Unterscheidung ist höchst problematisch, da die Aufnahmestaaten politisch entscheiden, welcher Rechtsstatus an welche Person vergeben wird (Benhabib 2009; Krause 2016).
Historiker und Historikerinnen, zumal jene der jüngeren deutschen Geschichte, beschäftigen sich am liebsten mit Recht, wenn es nicht weh tut. Der Boom der Menschenrechtshistoriographie steht dieser Diagnose ebensowenig entgegen wie die Flut an Behördengeschichten der NS-Zeit. Beide Trends bestätigen vielmehr den Befund, versteckt sich hinter den Etiketten doch nicht selten eine klassische Politikhistorie, oft in der Gestalt einer Gesetzgebungsgeschichte, aufgelockert durch und verwoben mit ideen- und diskurshistorischen Elementen. Dies erlaubt es einerseits, sich von der etablierten, meist juristisch definierten Rechtsgeschichte abzusetzen, der vorgeworfen wird, zu einer sterilen Dogmengeschichte erstarrt zu sein. Andererseits hält man an tradierten Arbeitsteilungen fest: Die lästige, wiewohl notwendige Pflichtaufgabe, sich in die technischen Einzelheiten des Rechts zu vertiefen, darf aus der eigenen Zuständigkeit entlassen werden. Entsprechend begrenzt bleibt der wissenschaftliche Austausch: Rechtswissenschaftler/innen lesen historiographische Arbeiten als leichte Lektüre für den Hintergrund; Historiker/innen rezipieren die Studien ihrer juristischen Kolleg/innen als sprödes Fußnotenfutter. Dass der fächerübergreifende Kontakt zuletzt vor allem durch regierungsseitig initiierte Projekte über die NS-Belastung einzelner Ministerien und Behörden vorangetrieben wurde, bestätigt diese Beobachtung eher, als dass sie widerlegt würde.
Für diese Debatte haben wir vier prominenten Vertreter*innen beider Disziplinen, der Rechts- und der Geschichtswissenschaft, schriftlich Fragen zur Situation, zum Potential und zu den Herausforderungen einer Zeitgeschichte des Rechts gestellt.
Wie verhält sich die Rechtsgeschichte zur »allgemeinen« Geschichtswissenschaft in Deutschland? Woher rührt das ausgeprägte disziplinäre Selbstbewusstsein der juristischen Rechtshistoriker*innen, und sollten Allgemeinhistoriker*innen dem etwas entgegensetzen? Worin sehen Sie die »großen Themen« und methodischen Trends der aktuellen rechtshistorischen Forschung, besonders der Juristischen Zeitgeschichte in der Bundesrepublik? Wieviel Theorie und Methodik braucht die Rechtsgeschichte? Wo sehen Sie Potential für neue Perspektiven, und inwieweit sollte eine zeitgemäße Rechtsgeschichte über den nationalen Rahmen hinausgehen? Welche Chancen, welche Grenzen sehen Sie für die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Jurist*innen und Historiker*innen?
Hoffnung auf Erfolg. Akteurszentrierte Handlungskonzepte in der Migrations- und Flüchtlingsforschung
(2018)
Die Herausforderung besteht somit in einer reflektierten Verbindung von historischer Wissens- und Migrationsforschung.[37] Darin könnte die Chance liegen, die oftmals eindimensionale Wahrnehmung von Migrant/innen als Opfer restriktiver Grenzregime aufzubrechen, denn sie blockiert tendenziell eher Erkenntnismöglichkeiten, als dass sie neue eröffnet. Wenn ein Konzept wie Eigen-Sinn dazu beitragen würde, die verengten Perspektiven auf Migrationsregime zu erweitern, wäre das nur zu begrüßen. Allerdings spricht die bisherige Inanspruchnahme des Begriffes dafür, doch eher auf andere handlungstheoretische Konzepte wie die Analyse von individuellen und kollektiven Handlungsspielräumen zurückzugreifen oder einer an die Arbeiten von de Certeau angelehnten und auf globale Migrationsbewegungen zugeschriebenen »Rhetorik des Wanderns« zu folgen. Eines zeichnet sich indes jetzt schon ab: Ohne eine stärkere und theoretisch durchdachte Berücksichtigung akteurszentrierter Konzepte wird die Migrationsforschung zentrale Aspekte ihres Gegenstandes weiterhin nur oberflächlich erfassen können.