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Juristische Zeitgeschichte
(2021)
Die „Juristische Zeitgeschichte“ bezeichnet den jüngsten Zeitabschnitt im Bereich der Rechtsgeschichte, also die der gegenwärtigen Rechtsepoche. Welchen Zeitraum diese Epoche einnimmt, erörtert Thomas Vormbaum in seinem Artikel und geht auf die Kritik an der herkömmlichen Rechtsgeschichte ein, die sich überwiegend auf Dogmen- und Theoriegeschichte stützt. Unter Berücksichtigung der Geschichts- sowie Rechtswissenschaft beschreibt er aufkommende Methodenfragen des Forschungsfelds.
In Frankfurt am Main ist noch bis zum 24. Oktober 2021 eine ganz besonders lohnenswerte Ausstellung zur Fotografie der deutschen Zwischenkriegszeit zu sehen. Sie macht durch Ausstellungsgestaltung und fundiert aufbereitete Hintergrundinformationen große Lust, die fotografischen Schmuckstücke „neu zu sehen“ und den Sammlungsbestand (unter Ergänzung einzelner Leihgaben) näher in den Blick zu nehmen. Der Kuratorin Kristina Lemke ist mit dieser Ausstellung etwas Wunderbares gelungen. Ein Besuch lohnt sich sehr – mit Zeit zum genauen Hinsehen erschließt diese Ausstellung neues Terrain, denn selten wird dem fotografischen Abzug an sich so viel Aufmerksamkeit und Hinwendung zuteil. Es handelt sich um ein kleines Ausstellungsjuwel; insbesondere in der Zusammenschau mit dem im Kerber Verlag erschienenen Katalog offenbart sich die fundierte Recherche.
Herrschaft und Macht
(2021)
In ihrem Artikel geben Andrea Maurer und Christoph Lau einen Überblick über die Begriffe „Herrschaft“ und „Macht“, wobei sie zunächst wichtige Charakteristika von Herrschaft in Abgrenzung zu Macht und anderen Formen der Über- und Unterordnung (Gewalt) erläutern. Daran anschließend werden Forschungsperspektiven und -desiderata besprochen und die Potenziale einer wissenschaftlich fundierten Herrschaftsdiskussion ausgewiesen.
Nostalgie wird oft in kulturellen und, mehr noch, popkulturellen Kontexten diskutiert. Gelegentlich – und gerade in den letzten Jahren wieder – findet sich der Begriff jedoch auch in politischen Zusammenhängen. So wird er dazu verwendet, politische Entwicklungen zu erklären: etwa das britische EU-Referendum, die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, das Erstarken der AfD in Deutschland oder den Aufstieg neuer Autoritarismen im östlichen Europa. Viele Beobachter*innen stellen einen in ihren Augen alarmierenden Zusammenhang zwischen Politik und Vergangenheitssehnsucht her. Aus ihrer Sicht resultieren die Effekte einer ungebremsten Globalisierung in einer gefährlichen Rückwärtsgewandtheit. Statt über sozioökonomische Konstellationen und Interessen erklären sie Politik emotional und psychologisch, wobei sie Nostalgie repathologisieren.
Gewerkschaftsgeschichte
(2021)
Gewerkschaften sind bis heute als Selbstorganisationen und Interessenvertretungen der Arbeiterschaft ein wichtiger Teil des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Sie waren vor allem im 19. und 20. Jahrhundert bedeutende historische Akteure der Vorgeschichte der Gegenwart. Knud Andresen bietet in seinem Artikel einen Überblick zur Entwicklung der Gewerkschaften mit Schwerpunkt auf Deutschland, besonders der Bundesrepublik ab 1945, aber auch mit Seitenblicken auf die Gewerkschaftsgeschichte der DDR, und der internationalen Verbünde. Verschiedene sozialwissenschaftliche und historiografische Deutungen werden dargestellt und damit das Forschungsfeld skizziert. Auch nach systematischen Potenzialen der zeitgeschichtlichen Gewerkschaftsgeschichte wird gefragt.
Es ist notwendig, ein kritisches Bewusstsein über die Rolle und Funktion von Bildern in antisemitischen Diskursen zu schaffen und durch die Vermittlung von Medienkompetenz antisemitische Kommunikation durchschaubar zu machen. Außerdem sollten durch historisierende Bildanalysen solche Elemente herausgearbeitet werden, durch die antisemitische Bilder von anderen visuellen Aussagen unterschieden und abgegrenzt werden können.
Orientalismus
(2021)
Westliche Repräsentationen des „Orients“ gehören zu den zentralen Gegenständen geistes- und kulturwissenschaftlicher Forschung der letzten Jahrzehnte, was insbesondere auf Edward Saids kontrovers diskutierte Studie „Orientalism“ zurückzuführen ist. Felix Wiedemann widmet sich in seinem Docupedia-Beitrag der Said’schen Orientalismus-Theorie, ihrer Rezeption, Kritik und Weiterführung. Im zweiten Teil des Beitrags werden exemplarische Problemfelder der neueren Orientalismusforschung – der deutsche Orientalismus, die Rolle der Altertumswissenschaften, der jüdische Orientalismus, der Zusammenhang von Orientalismus, Rassismus und Antisemitismus – skizziert.
In Anlehnung an die Medienwissenschaftlerin Alexandra Schneider kann die Amateurkinematografie als eine kulturelle Praxis verstanden werden, die bestimmte Formen der Produktionstätigkeit, des von ihr sogenannten filmischen Texts und der Rezeption vereinte und verschiedene, soziale wie künstlerische, Funktionen erfüllte. Der Begriff des Amateurfilms umfasst alle möglichen Genres nicht kommerzieller Filmproduktion: Familien- und Urlaubsfilme ebenso wie Reportagen von politischen Ereignissen bis hin zu Werbe- und Imagefilmen sowie handlungsbasierten Spielfilmen, die entweder für den privaten Familien- und Freundeskreis oder für ein halb-öffentliches Publikum im Kontext von verschiedenen Vereinen und Organisationen bestimmt waren.
Zum 50. Heft
(2021)
Der 17. Jahrgang dieser Zeitschrift markiert auf den ersten Blick keinerlei Jubiläum. Trotzdem ist die vorliegende Ausgabe für Herausgeber und Redaktion eine besondere: Es handelt sich um das 50. Heft insgesamt. (2007 gab es ein Doppelheft, sonst immer drei Hefte pro Jahrgang.) Dies ist der Anlass für einen knappen Rückblick auf die anfänglichen Ziele und die bisherigen Entwicklungen, aber auch für einen (selbst-)kritischen Ausblick. Mit Recht hat die erst in den Anfängen befindliche kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung festgestellt: »Nicht selten geht das Zeitschriftenmachen mit Reflexionen über den Wert, die Bedingungen oder die Versprechen des Zeitschriftenmachens einher.«
Es sind ethische, nicht historische oder ästhetische Fragen, mit denen die Dokumentarfotografin Janina Struk in den letzten Absätzen ihrer Studie „Photographing the Holocaust“ die Leser*innen konfrontiert. Sie gibt zu bedenken, ob nicht die heutige Verwendung der von Tätern gemachten Fotos einer konspirativen Demütigung der fotografierten Opfer gleichkäme und die abgebildeten Leidensmomente aktiv fortsetze und wiederhole, während Millionen Besucher*innen dabei zusehen.
Befasst sich die historische Forschung mit Fotografie, so teilen sich die Quellen grob in vier verschiedene Zugangsarten auf: veröffentlichte Bilder in Printmedien, in Ausstellungen, semi-öffentlich-zugängliches Bildmaterial aus Archiven/Sammlungen oder privaten Archiven sowie der immer wichtiger werdende Bereich der Social Media. Mit der digitalen Fotografie und der Nutzung des Internets als Informationspool und für zwischenmenschliche Kommunikation ist Instagram dabei zu einer zentralen Social Media-Plattform zum Teilen visueller Inhalte avanciert. Die Richtlinien für akzeptiertes Material und die Nutzungsbedingungen legt die Betreibergesellschaft selbst fest.
Wir gehen im Folgenden der Frage nach, in welchem Verhältnis die veröffentlichten Bilder auf der zeitgenössischen populären Plattform zur allgemeinen Öffentlichkeit von Ausstellungen und Presse stehen. Welche bildethischen Vorstellungen drücken sich in den Praktiken von Instagram aus? Und inwieweit kann das digitale öffentliche Bildersammeln als Archiv gelten und auf gesellschaftliche zeithistorische Fragen Antworten geben?
Die Ausstellungsankündigung „Ruth & Lotte Jacobi“, die im Rahmen des EMOP Berlin – European Month of Photography 2020 präsentiert wurde, klingt vielversprechend: „Zum ersten Mal ist das fotografische Werk – bestehend aus Porträts, Stillleben, Reportagen, Lichtbildern und Experimentalaufnahmen – dieser vierten Generation einer jüdischen Fotografenfamilie in einer Ausstellung vereint.“ (Einführungstext) Selten haben Besucher*innen die Möglichkeit, sich Werke von Fotografinnen vergleichend anzusehen. Viel zu häufig werden diese als Einzelgängerinnen und Ausnahmen präsentiert.
Geheimdienste sind aus der Perspektive der Nachrichtendienstgeschichte / Intelligence History nicht mehr in erster Linie im Zwielicht wirkende Agentenzentralen, die „tote Briefkästen“ betrieben und Geheimtinte entwickelten. Sie sind außenpolitische Akteure und Produzenten von Wissen für Entscheidungsträger*innen. Rüdiger Bergien entwickelt in seinem Beitrag eine Definition dieses Forschungsfelds. Er zeichnet nach, wie sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit Nachrichtendiensten seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, wobei die Frage im Mittelpunkt steht, wie zu unterschiedlichen Zeiten überhaupt Einblicke in die Blackbox Nachrichtendienst gewonnen werden konnten. Schließlich stellt er die Schwerpunkte der bisherigen Forschung vor und benennt Desiderate.
Subjekt und Subjektivierung
(2020)
Wie werden Menschen zu Subjekten gemacht, und wie machen sie sich selbst zu Subjekten? – fragt Wiebke Wiede und stellt in dem Artikel die wichtigsten Theorieansätze zur Funktionsweise von „Subjektivierung” im 20. Jahrhundert vor. Subjekte konstituieren sich im historischen Raum, und sie unterliegen institutionellen Strukturen und Subjektdefinitionen, die historisch kontingent sind. Demnach spiegeln sich auch in den Subjekttheorien die kulturellen Orientierungsbedürfnisse unserer Gegenwart.
Viele Aborigines und Torres-Strait-Insulaner*innen vermeiden Darstellungen von kürzlich Verstorbenen in Filmen oder auf Fotos sowie die Nennung ihrer Namen. Dies gilt als schmerzhaft und respektlos den Angehörigen gegenüber und könnte den Übergangsprozess des Toten ins Jenseits stören. Ob und wie lange diese Vermeidungsgebote bis hin zu Darstellungs- und Nennungsverboten angewandt werden, ist abhängig von den unterschiedlichen Communities der First Australians sowie individuellen ethischen Vorstellungen von Angehörigen.
Das australische Nationalarchiv entschied sich bei der digitalen Präsentation seiner Film- und Fotosammlung für den oben erwähnten Warnhinweis – um der Verletzung von Gefühlen vorzubeugen und Respekt gegenüber den kulturellen Werten der Aborigines und Torres-Strait-Insulaner*innen auszudrücken. Die Abbildungen von verstorbenen First Australians würden einige Wissenschaftler*innen als „kulturell sensibel“ bezeichnen.
Wie gehen andere Archive, Museen, Universitäten und weitere Institutionen mit sensiblen Bildern und Objekten in ihren Sammlungen um? Was sind Problemfelder und Lösungsansätze? Transparenz und Partizipation sind zwei zentrale Stichworte hinsichtlich des Umgangs mit sensiblen Objekten in Sammlungen.
Infrastrukturen
(2020)
Als „Infrastrukturen“ werden seit Mitte des 20. Jahrhunderts Einrichtungen der Versorgung und Entsorgung, der Kommunikation und des Verkehrs bezeichnet, in einem erweiterten Sinne auch solche, die unsere Gesellschaft ökonomisch, sozial, kulturell oder medial miteinander vernetzen. Dirk van Laak rekapituliert die Konjunktur des Begriffs, geht auf die jüngere Geschichte ein und skizziert abschließend ausgewählte Felder, in denen Infrastrukturen momentan erforscht oder weiter analysiert werden könnten.
„Wir wissen wenig über die Fotografie der Landser“, merkte Bernd Hüppauf noch im Jahr 2015 in seiner Abhandlung über Fotografie im Krieg an. Um diesen Missstand weiter aufzulösen, wird im Folgenden ein Bereich der privaten Fotografien des Zweiten Weltkriegs betrachtet, der neben dem Gestalten von Fotoalben und dem Handel mit Bildern ebenfalls eine große Rolle innerhalb der Landserfotografie spielte: das Verfassen von illustrierten Tagebüchern bzw. von Fotoheften.
Auch gut zehn Jahre nach dem militärgeschichtlichen Paradigmenwechsel, den John Keegan 1993 eingeleitet hatte, fällt es schwer, Chancen und Fallstricke des schwerbewaffneten „cultural turn“ gegeneinander abzuwägen. In seinem Werk „A History of Warfare“ - das zwei Jahre später ebenso programmatisch wie problematisch unter dem deutschen Titel „Die Kultur des Krieges“ erschien - hatte Keegan zu einer radikalen Abkehr von den traditionellen Perspektiven der Militärgeschichtsschreibung aufgerufen. In der Nachfolge von Clausewitz habe die Forschung das Phänomen Krieg falsch kontextualisiert und irrtümlich dem Beziehungsgeflecht von Staat und Politik zugeordnet. Anstatt den Krieg als „Fortführung der Politik mit anderen Mitteln“ zu definieren, sei es angebrachter, ihn als „Fortführung der Kultur mit ihren eigenen Mitteln“ zu analysieren.
Das Beschreibungs- und Erklärungsmodell der „neuen Kriege“, wie es vor allem der Politologe Herfried Münkler entwickelt und publizistisch äußerst wirkungsvoll vertreten hat, kommt ohne die Berücksichtigung der medialen Faktoren nicht mehr aus. An wesentlichen Stellen seiner scharfsinnigen historischen Phänomenologie des Krieges, die gerade durch die Konfrontation der Aktualität mit den Erscheinungsformen der vormodernen Kriege des 16. und 17. Jahrhunderts ihre besondere Prägnanz gewinnt, wird immer wieder auf die gewandelte Rolle des Fernsehens verwiesen. In den kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten beiden Jahrzehnte werde der Kampf mit Waffen „zunehmend durch den Kampf mit Bildern konterkariert“. TV-Kamerateams seien für die Kriegsparteien inzwischen ein beliebig handhabbares Instrument der Aufmerksamkeitssteuerung, ja die durch Fernsehbilder erst hergestellte „Weltöffentlichkeit“ sei zur „Ressource“ des Krieges geworden. Münklers Argumentation kulminiert dann in der These, die „Verwandlung der Berichterstattung über den Krieg in ein Mittel seiner Führung“ bedeute den „wahrscheinlich größte[n] Schritt bei der Asymmetrisierung des Krieges“. Ein Hauptbefund der Studie, die Ablösung der staatlich monopolisierten Kriege durch radikal asymmetrische Formen der Auseinandersetzung, wird also am Medium Fernsehen festgemacht - alles deutet darauf hin, dass Münklers Konzept der „neuen Kriege“ eine umfassende Theorie ihrer medialen Repräsentation quasi mitformuliert. Doch dieser Eindruck täuscht. Die medialen Spiegelungen der kriegerischen Ereignisse und vor allem der audiovisuelle Diskurs des Fernsehens werden nur am Rande beachtet; Münkler belässt es bei Anmerkungen und Anfügungen. Nur eingestreut wird der Hinweis, man dürfe den „wachsenden Einfluss der Medien auf die politischen Entscheidungsabläufe“ nicht unterschätzen. Dabei bietet Münklers Konzept der „neuen Kriege“ eigentlich alle Voraussetzungen, um eine solche Beiläufigkeit zu überschreiten, denn optisch-visuelle Begriffe fungieren als Grundkategorien: „Erscheinungsformen“ und „Erscheinungsweisen“ der „neuen“ Realitätsformationen sollen aufgezeigt werden. Alles kreist um die Problematik der Sichtbarkeit; eine unübersichtliche „Gemengelage“ wird als das hervorstechendste Charakteristikum der aktuellen Kriege kenntlich gemacht.
Der fotografische Akt
(2020)
Um Missverständnisse gleich vorwegzunehmen: Bei diesem Text geht es keineswegs um die Beschäftigung mit der fotografischen Form des Akts als einem zentralen Motiv der Kunstgeschichte. Stattdessen wird der fotografische Akt hier als der Akt des Fotografierens verstanden. Es geht also um die Situation, in der Fotograf*in, Fotografierte und Kamera aufeinandertreffen und aus der in der Regel ein Bild entsteht. Damit einher geht die Einschränkung, dass die hier dargelegten Argumente vor allem auf Situationen zutreffen, in denen Menschen fotografiert werden. Während mit „Bildethik“ oft pauschal diverse Aspekte von Fotografie gemeint werden, die sowohl die Ästhetik und die Bildlichkeit als auch die Produktion umfassen, fällt bei einer Zerlegung des fotografischen Prozesses in seine Einzelteile auf, dass sich verschiedene bildethische Fragen stellen.
Biografie ist ein literarisches und wissenschaftliches Genre, das erst durch theoretische und methodische Reflexionen zu einem konzeptionellen Ansatz der Geschichtswissenschaft wird. Levke Harders beginnt ihren Beitrag mit einer Übersicht zur Entwicklung der Biografik in den (deutsch- und englischsprachigen) Geschichtswissenschaften, thematisiert anschließend die Popularität (sowie die Grenzen) des Genres und stellt einige aktuelle Forschungsfelder der Biografik vor, die sich „neuen“ Subjekten und Themen widmen.
Während sich die Zeitgeschichtsforschung über mangelnde Aufmerksamkeit heute nicht beklagen kann, fristet die Geschichtsdidaktik sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in den Fachdebatten der Geschichtswissenschaft eher ein Schattendasein. Die erregten historisch-politischen Diskussionen der 1970er-Jahre, in denen gerade Geschichtsdidaktiker für ein emanzipatives „Geschichtsbewusstsein“ stritten, sind in den Hintergrund getreten. Aus der Sicht der meisten Zeithistoriker gibt es gegenwärtig keinen besonderen Anreiz, sich mit der Geschichtsdidaktik näher zu befassen, da sich diese Disziplin in einer Abwärtsspirale aus intellektueller Mittelmäßigkeit und Sparzwängen befinde - so zumindest eine verbreitete Meinung.
Geschichtsdidaktik als „Wissenschaft vom historischen Lehren und Lernen“ oder als Wissenschaft, die sich die Erforschung des „Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft“ zum Ziel gesetzt hat: Schon diese beiden Definitionen zeigen, dass die Geschichtsdidaktik zwei zentrale, sich gegenseitig bedingende Gegenstandsfelder besitzt, die für eine Betrachtung des Verhältnisses zur Zeitgeschichte1 von zentraler Bedeutung sind: Klassisches Gebiet einer Fachdidaktik und damit auch der Geschichtsdidaktik sind die schulischen Lehr- und Lernprozesse im jeweiligen Fach, in diesem Fall also im Geschichtsunterricht bzw. in relevanten Nachbarfächern. Daneben hat sich die Geschichtsdidaktik seit den 1970er-Jahren aber noch ein zweites Standbein erarbeitet, nämlich die Erforschung der Erscheinungsformen und Funktionen des Geschichtsbewusstseins, heute meist „Geschichtskultur“ genannt - sowohl im Hinblick auf seine gegenwärtige Praxis als auch in historischer Perspektive.
Gegenbilder
(2020)
Wo Worte gesprochen werden, gibt es meist auch Widerworte. Wo Erzählungen gesponnen werden, formen sich Gegen-Narrative. Und so gibt es selbstverständlich zu bildlichen Aussagen auch Gegen-Bilder: Bilder, die in Form, Inhalt und Gebrauch auf andere Bilder reagieren, indem sie diese in Frage stellen oder ihnen widersprechen. Bilder, die als generative Kräfte im historischen Prozess wirken. Oder aber Bilder, die marginalisiert beziehungsweise gar nicht gezeigt wurden und erst zu einem späteren Zeitpunkt ein bislang herrschendes Narrativ in Frage stellen können.
Im Zuge von Handelsreisen, Verwaltungstätigkeiten und Forschungsexpeditionen entstanden bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Fotografien in kolonialistisch-eurozentrischen Kontexten, die das Leben der Bewohner*innen der bereisten Gebiete „als Fremdbilder […] vermittelt durch die vielfältigen Mechanismen der Distribution und des Konsums“ darstellten. Manche bilden eindeutig erkennbar inszenierte Szenen wie Gruppenporträts, Kampfgeschehen oder arrangierte Studioaufnahmen ab, andere hingegen suggerieren, dass die Fotografien spontan im Feld aufgenommen wurden.
Zeigen / Nichtzeigen
(2020)
Der Ausgangspunkt dieses Textes ist die Frage nach dem Zeigen oder Nichtzeigen von Bildern in Online-Ressourcen aus wissenschaftsethischer Sicht (der Ethnologien). Wobei das konkret zu problematisierende Material vorwiegend aus Fotografien von Menschen aus ethnologischen Forschungskontexten bis mindestens zur Mitte des 20. Jahrhunderts besteht, jedoch auch auf weitere Bildkontexte im Zeitalter des Kolonialismus/Imperialismus übertragen werden kann. Gleichzeitig soll auch die Perspektive einer Infrastruktureinrichtung beleuchtet werden, die für die ethnologischen Fächer Literatur im Rahmen der sogenannten Massendigitalisierung frei zur Verfügung stellt. Dieses fotografische Material wirft Fragen allgemeiner ethischer Natur (Menschenwürde) sowie zum Opferschutz, zu Persönlichkeitsrechten, aber auch zu Rassismus, Selbstrepräsentation und den repräsentierten Machtverhältnissen auf, die in einem separaten Beitrag von uns detaillierter besprochen werden.
Ästhetisierung
(2020)
Ist es ethisch vertretbar, Menschen in Not ästhetisch ansprechend zu zeigen? Birgt dies die Gefahr, eine eigentlich erschreckende soziale Realität zu verklären und die Gemüter zu beruhigen, anstatt aufzurütteln und zum Handeln zu motivieren? Oder steckt in einer solchen Darstellungsweise die Chance, Aufmerksamkeit für ein Thema zu schaffen, da sie Marginalisierten ein Gesicht verleiht, mit dessen visuell vermittelter, unantastbarer Würde sich die Betrachterinnen und Betrachter identifizieren können?
Historische Ausstellungen und Museen gelten als typische Arbeitsfelder für Historiker. In der Tat ist eine geschichtswissenschaftliche Grundausbildung eine gute Voraussetzung, doch reicht sie aus, um eine gute historische Ausstellung zu entwickeln? Was macht überhaupt eine gute Ausstellung aus? Hier kommt neben der wissenschaftlichen Arbeit die praktische Umsetzung ins Spiel - ein Aspekt, der bei der Beurteilung von Ausstellungen oft vergessen wird. Dabei geht es nicht um die Entscheidung zwischen Oberflächlichkeit und Tiefgang, zwischen Inszenierung und Originalobjekten oder zwischen Eventkultur und Bildungsangebot. Vielmehr geht es darum, sich der sprachlichen Unschärfen sowie der Vermischung von Begriffen wie Geschichte, Museum, Ausstellung, Erinnerung, Gedächtnis auf der einen und Event, Erlebnis, Management, Unterhaltung auf der anderen Seite bewusst zu werden. Erst dann nämlich steht die Qualität einer Ausstellung zur Debatte, nicht die Güte der wissenschaftlichen Leistung. Anders ausgedrückt: Eine Ausstellung zu realisieren erfordert mehr als die wissenschaftliche Basis der Fachdisziplin, in unserem Fall der Geschichtswissenschaft. Hier geht es darum, (aktuelle) Bezugspunkte für die Besucher zu schaffen, ein Konzept zu entwickeln, das Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes (be)greifbar macht. Es ist der dreidimensionale Raum, in dem sich das Konzept bewähren muss, in dem Geschichte gestaltet werden will. Dazu gehören auch und vor allem die Objekte - die im Geschichtsstudium nicht oder nur am Rande behandelt werden. Hinzu kommt die praktische Durchführung des Vorhabens, die Planung und Organisation von Arbeitsabläufen, die Vermittlung sowie die Finanzierung. Und spätestens hier sieht sich der Historiker vor Aufgaben gestellt, auf die ihn sein Studium in den seltensten Fällen vorbereitet hat.
Das Fremde denken
(2008)
Das Fremde ist einerseits etwas Uraltes, andererseits etwas höchst Aktuelles. Was das Uralte angeht, so genügt es, auf zwei Quellen der westlichen Kultur hinzuweisen. In Mose 2,22 heißt es: „Die Fremdlinge sollst du nicht schinden und drücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten gewesen.“ Es ist ein Gebot, das auf eine vorherige Erfahrung hinweist, nämlich auf das Exil, von dem das Jüdische bis in die Gegenwart gezeichnet ist. Bei den Griechen trägt Zeus den Beinamen xenios - der Gott, der das Gastrecht schützt. Wie eng Fremdheit, Gastfreundschaft und Feindschaft beieinander wohnen, zeigt sich in der schillernden Bedeutung der lateinischen Wörter hostis und hospes. Hat die Aktualität der Fremdheitsproblematik überhaupt etwas mit diesen alten Traditionen zu tun? Vielleicht könnte das Denken des Fremden - speziell aus Sicht der Philosophie - darauf eine Antwort geben, gerade weil sich dieses Denken weder auf sicher vorhandene Traditionen stützt noch in Tagesfragen aufgeht.
Konsumgeschichte
(2020)
Zahlreiche Monografien, Aufsätze und Sammelbände sind in den letzten Jahren zu diversen Themen der Konsumgeschichte erschienen. Manuel Schramm gibt einen Überblick über zentrale Themen und diskutiert Fragen der Periodisierung in der Konsumgeschichte. Es folgt eine Erörterung des Verhältnisses von Konsum zu zentralen Themen der Sozialgeschichte, nämlich soziale Ungleichheit und Geschlechterverhältnisse. Anschließend wird auf die vielfältigen Verbindungen zwischen Konsum und Politik sowie auf die Globalisierung und Regionalisierung des Konsums eingegangen. Nach einem Blick auf neuere Ergebnisse der deutschsprachigen zeithistorischen Forschung werden Stand und Perspektiven der Konsumgeschichte erörtert.
Gewalt verstehen
(2008)
Weil sie verletzt und Schmerzen verursacht, ist Gewalt eine fortwährende Irritation, eine Herausforderung für das Verstehen. Deshalb versuchen Historiker, die auf der Suche nach dem Sinn des vergangenen Geschehens sind, Gewalt als Ausnahmehandlung zu rationalisieren, „die Fassungslosigkeit zu domestizieren, sie wegzuerklären“.1 Denn das Verstehen kommt immer dann ins Spiel, wenn man sich nicht mehr im Selbstverständlichen bewegt und sich das Bedrohliche wieder in die vertraute Selbstverständlichkeit einfügen soll.2 Wer im dauerhaften Kriegszustand lebt, wird die Frage nach den Ursachen der Gewalt möglicherweise für überflüssig halten; wer hingegen nur den Frieden kennt, braucht eine Begründung für die Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun. Man könnte auch sagen, dass Historiker Gewalt gewöhnlich als abweichendes Verhalten klassifizieren. Aus dieser Perspektive kommen ihre Fragen. Warum tun Menschen einander verstörende Grausamkeiten an?
Die Resonanz, die Johan Galtungs Begriff der „strukturellen Gewalt“ in der Literatur erzielt hat, ist bemerkenswert. Denn mit mittlerweile einigem Abstand betrachtet wird deutlich, dass in diesem Begriff von Beginn an eine nicht unerhebliche Diskrepanz existierte zwischen dem, was er in methodisch redlicher Manier für das wissenschaftliche Denken zu bewältigen versprach, und den Ansprüchen an das Verständnis nicht allein von Gewalt, sondern von Gesellschaft überhaupt, die er gleichzeitig weckte. Dabei dürfte ein Streit müßig sein, ob diese Diskrepanz im Begriff selbst angelegt war oder aber bloß das Ergebnis seiner Rezeption bzw. Interpretation darstellte. Letzteres war offenkundig der Fall, erging es dem Begriff doch so, wie es meist mit Begriffen geschieht, die viel zitiert werden und auf ganz verschiedene Phänomene Anwendung finden - bei der „strukturellen Gewalt“ bis hin zur Analyse grammatikalischer Muster als Medium von Herrschaft. In der Regel werden solche Begriffe vage, sie verlieren an Präzision. Doch lag das Problem nicht nur in der Rezeption des Begriffs begründet. Vielmehr war die Definition des Begriffs selbst von Anfang an unscharf und gab zu Missverständnissen Anlass. Die Anforderungen an einen wissenschaftlichen Begriff, klar und eindeutig zu sein, erfüllte dieser Begriff nicht. So war seine Karriere wohl auch dem Umstand zu verdanken, dass er in der politischen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit, teils Zuspruch fand.
Die Sonderausstellung „SW5Y“ (Sea-Watch – 5 Years) präsentiert in Fotografie und Zeichnungen Eindrücke, Menschen und Momente aus fünf Jahren ziviler Seenotrettung an der tödlichsten Grenze der Welt – dem Mittelmeer. Mit dokumentarischen und künstlerischen Arbeiten gewährt die Ausstellung Einblicke in den Alltag der zivilen Seenotrettung, zeigt aktive Rettungseinsätze und präsentiert aktuelle Perspektiven auf Flucht und Migration.
Kollaboration
(2020)
Die Kollaboration mit dem NS-Regime fand in allen besetzten, verbündeten und neutralen Ländern statt. Sie war ein transnationales Phänomen, das zur Ermordung der europäischen Juden maßgeblich beitrug bzw. sie überhaupt in diesem Ausmaß ermöglichte. Die Erforschung der Kollaboration stellt daher eine zentrale Aufgabe der Geschichtswissenschaft dar, die bis heute nur ansatzweise realisiert wurde. In diesem Beitrag werden Methoden und Fragestellungen der Kollaborationsforschung präsentiert, die keine Unterdisziplin oder ein Sonderforschungsbereich der Besatzungsgeschichte ist, sondern ein eigenständiges Forschungsfeld. Die Kollaborationsforschung legt die agency der nichtdeutschen Akteure offen und zeigt, wie sie die Geschichte der Besatzung, des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs aktiv mitgestalteten.
Die mexikanische Fotojournalistin Julia Le Duc nahm das Foto der Toten am Montag, dem 24. Juni 2019, auf. Der vorliegende Beitrag nimmt dieses im Juni 2019 weltweit verbreitete Foto zum Anlass, um über Bildzirkulation und Medienkritik nachzudenken. Nach einer Kontextualisierung des Fotos einerseits mit dem Fall Alan Kurdi, andererseits mit Folgebildern der Hinterbliebenen und Überlebenden, führt der Beitrag neuere Foto- und Bildtheorien von Ariella Azoulay, Lilie Chouliaraki, Robert Hariman und John Louis Lucaites weiter. Die These lautet, dass über Fragen der Bildethik hinaus es vor allem darum gehen muss, Gesellschaften so zu verändern, dass – auch strukturelle – Gewalt nicht mehr stattfindet. Hierin liegt die imaginativ-transformative Kraft des Fotojournalismus.
Othering begegnet uns nicht nur im geschriebenen Wort. Es kann sich ebenfalls in der Kombination von Bild und Text manifestieren. Wie wichtig eine Reflexion der Artikelbebilderung durch die Redaktion ist, möchte ich im Folgenden anhand eines Artikels der „Berliner Morgenpost“ veranschaulichen. Hierzu ist ein poststrukturalistisch orientierter Zugriff besonders geeignet, da hier die Auffassung vertreten wird, dass die Bedeutungen den Dingen nicht immanent sind, sondern sie ihnen diskursiv zugewiesen werden. Somit werden im Diskurs die Dinge erst als soziale Phänomene konstituiert, über die gesprochen bzw. geschrieben wird. Mittels einer solchen anti-essentialistischen Perspektive auf Identitäten kann die Forschung dazu beitragen, binäre Identitätskonstruktionen aufzudecken, zu hinterfragen und letztlich zu überwinden.
Kontrollverlust
(2020)
Sie habe versucht, das Bild unsichtbar zu machen, gestand die Fotografin Nina Berman 2016 in einem Vortrag über ihr Hochzeitsfoto einer jungen Frau mit einem schwer verletzten Veteranen aus dem Irak-Krieg: „It’s a very strange thing”, so Berman, „to have fought really hard in my career to make a story known about a subject that people were trying to hide, which is the human cost of war, and then feeling that I need to keep this picture, which I know is a very powerful picture, under wraps because for me the viral experience was very crass.“
Wie verändern sich die Objekte der Geschichtsschreibung, also die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit, durch die Medien? Wie verändert sich die Geschichtsschreibung selbst durch die Medien? Was bedeutet die in Forschung und Öffentlichkeit verbreitete Rede von der ‚Mediengesellschaft‘ aus historischer Perspektive eigentlich genau? Der Aufsatz unterscheidet zunächst einige Prozesse der ‚Medialisierung‘, geht damit verbundenen Strukturverschiebungen nach und betrachtet insbesondere Veränderungen von Öffentlichkeiten. Dabei wird dafür plädiert, die Ambivalenz der Entwicklungen anzuerkennen und nicht vorschnell Paradigmenwechsel zu behaupten. Zudem werden einige Leitlinien formuliert, was eine Medialisierung der Zeitgeschichtsschreibung bedeuten könnte. Hier gilt es, neue Wege zu beschreiten und neue Ziele zu setzen, die der Ära der Audiovisualität gerecht werden.
Der Artikel widmet sich aus medienwissenschaftlicher Perspektive der „televisiven Historiographie“ und speziell dem Format „Virtual History“, welches der Sender „Discovery Channel“ entwickelt hat. Dieses Sendeformat versucht mittels aufwändiger digitaler Techniken, Bildmaterial von historischen Ereignissen neu zu produzieren, das dennoch einer historischen „Realität“ entsprechen soll und als „authentisch“ deklariert wird. Ausgehend von der Annahme, dass das Fernsehen generell weniger dem Authentischen als dem Falschen und der Verfälschung verpflichtet ist, fragt der Artikel nach der „Indexikalität“ virtueller digitaler Fernsehbilder. Im Anschluss an Maurice Halbwachs’ Unterscheidung von Geschichte und Gedächtnis wird die These entwickelt, dass der klassische Film mit der Konstitutionslogik der Geschichte korrespondiert, während das Fernsehen ein paradoxes Gedächtnismedium ist: Indem es überall dabei (gewesen) sein will, unterläuft es die operative Gedächtnisfunktion, zwischen Erinnern und Vergessen zu unterscheiden.
In Auseinandersetzung mit Jörn Rüsens „vier Typen des historischen Erzählens“ (traditionales, exemplarisches, kritisches und genetisches Erzählen) wird ein fünfter Idealtypus zu begründen versucht, der sich aus gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen sowie der Emergenz digitaler Medien ergibt. Das „situative Erzählen“ als neuer Modus der historischen Sinnbildung antwortet zum einen auf Formen der Identitätskonstruktion innerhalb einer „flüchtigen Moderne“, deren Kennzeichen die Absage an „große Erzählungen“ und die Auflösung stabiler Identitäten sind. Zum anderen wird diese Erzähl- und Sinnbildungspraxis durch hypertextuelle Kulturtechniken codiert, ausgestaltet und prämiert. Der Beitrag nennt einige historiographische Ansätze des „situativen Erzählens“ und fragt nach den Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft.
Wie stellen sich aktuelle Tendenzen in der Zeitgeschichtsschreibung dar – im Vergleich mit dem auffällig gewachsenen Interesse literarischer Autoren für zeitgeschichtliche Themen? Welche Konvergenzen sind zu verzeichnen, und welche textsortenbedingten Differenzen bleiben? Sind die zeitgeschichtlichen Erzählmuster in diesem Umfeld vorwiegend konstant, oder gibt es strukturelle Veränderungen? Worauf lassen sich diese eventuell zurückführen?
Geschichtstourismus
(2020)
Der Beitrag skizziert ein Forschungsfeld der Public History, das bislang wenig systematische Betrachtung gefunden hat – Geschichte im globalen Tourismus. Ausgehend von Konzepten und Begriffen der Tourismustheorie, der Heritage Studies, der Ethnologie und der Geografie plädiert die Autorin dafür, die Spezifik des touristischen Geschichtskonsums entlang verschiedener Perspektiven zu untersuchen: als transkulturelle Zirkulation von Erinnerung, als performative Praxis im Raum sowie als Ausdruck der Ökonomisierung von Geschichte. Empirisch bieten sich neben Reiseführern, Blogs, Reviewportalen und Werbung auch Stadt- und Museumsführungen zur Analyse raumgebundener und interaktiver Geschichtserzählungen im Tourismus an.
Der Begriff »Diversität« hat in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Verbreitung erfahren. Traditionell bezeichnete das Wort nur einen Zustand der Verschiedenheit; in der Gegenwart erscheint es in vielen Kontexten, um dessen Gegenteil zu erreichen: Das Wort meint Verschiedenheit und zielt auf Gleichheit. Schulen und Universitäten regeln Chancengleichheit im Namen von Diversität, Unternehmen formen eine heterogene Belegschaft mittels eines »Diversitätsmanagements«, und Migrationsbewegungen haben die alte Debatte um den Multikulturalismus wieder belebt. Durch seine vielseitige Anschlussfähigkeit ist Diversität zu einem populären und meist positiv besetzten Begriff geworden, der theoretisch jedoch weithin unterbestimmt blieb. Seine Paradoxie besteht in der Kollektivierung von Individuen zu homogenen Gruppen bei gleichzeitiger Pluralisierung dieser Gruppen zu nebeneinanderstehenden Einheiten – ausdrücklich ohne eine umfassende Universalisierung anzustreben.
Seit einigen Jahren verdichtet sich auch in Deutschland das Gespräch über Herausforderungen und Perspektiven des digitalen Zeitalters für die Geschichtswissenschaft. Auf jedem Historikertag seit 2010 gab es mehrere Sektionen, die sich unterschiedlichen Facetten des Themas zuwandten. Es entstehen Fachpublikationen, Überblickswerke, Dissertationen und erste Ansätze, das Feld institutionell neu zu gestalten. Die Geschichtswissenschaft bemüht sich, produktiv auf die Veränderungen einzugehen. Punktuell ist es auch bereits zu einem Dialog mit Archiven und der Archivwissenschaft gekommen. So hat der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) 2015 unter Federführung der Vorsitzenden Eva Schlotheuber und Frank Bösch ein Grundsatzpapier verabschiedet, das sich der Quellenkritik im digitalen Zeitalter annimmt. Die Forderung, Elemente der Digital Humanities in die Historischen Grundwissenschaften zu integrieren, wurde seitdem noch weiter unterstrichen.
»[…] wenn ›die Quelle‹ die Reliquie historischen Arbeitens ist – nicht nur Überbleibsel, sondern auch Objekt wissenschaftlicher Verehrung –, dann wäre analog ›das Archiv‹ die Kirche der Geschichtswissenschaft, in der die heiligen Handlungen des Suchens, Findens, Entdeckens und Erforschens vollzogen werden.« Achim Landwehr wirft in seinem geschichtstheoretischen Essay den Historikern ihren »Quellenglauben« vor – diese Kritik ließe sich im digitalen Zeitalter leicht auf die Heilsversprechen der Apostel der »Big Data Revolution« übertragen. Zwar regen sich mittlerweile vermehrt Stimmen, die den »Wahnwitz« der digitalen Utopie in Frage stellen, doch wird der öffentliche Diskurs weiterhin von jener Revolutionsrhetorik dominiert, die standardmäßig als Begleitmusik neuer Technologien ertönt. Statt in der intellektuell wenig fruchtbaren Dichotomie von Gegnern und Befürwortern, »First Movers« und Ignoranten zu verharren, welche die Landschaft der »Digital Humanities« ein wenig überspitzt auch heute noch kennzeichnet, ist das Ziel dieses Beitrages eine praxeologische Reflexion, die den Einfluss von digitalen Infrastrukturen, digitalen Werkzeugen und digitalen »Quellen« auf die Praxis historischen Arbeitens zeigen möchte. Ausgehend von der These, dass ebenjene digitalen Infrastrukturen, Werkzeuge und »Quellen« heute einen zentralen Einfluss darauf haben, wie wir Geschichte denken, erforschen und erzählen, plädiert der Beitrag für ein »Update« der klassischen Hermeneutik in der Geschichtswissenschaft. Die kritische Reflexion über die konstitutive Rolle des Digitalen in der Konstruktion und Vermittlung historischen Wissens ist nicht nur eine Frage epistemologischer Dringlichkeit, sondern zentraler Bestandteil der Selbstverständigung eines Faches, dessen Anspruch als Wissenschaft sich auf die Methoden der Quellenkritik gründet.
Zu den drängenden Problemen der Historischen Grundwissenschaften gehört es heute, ein erweitertes Instrumentarium für digitale Quellengattungen zu entwickeln. Dabei ist das breite Feld der digitalen Informationstypen der Gegenwart, der sogenannten born digitals (also der genuin digitalen Objekte), noch nicht einmal vollständig in den Blick geraten.1 Dies liegt zum einen daran, dass sich das Quelleninteresse der Zeitgeschichtsforschung in wachsendem Maße auch auf frei im Netz zugängliche Ressourcen richtet.2 Das dort vorhandene Material ist von beachtlicher Vielfalt (und quellenkritischer Brisanz), was eine quellenkundliche Erfassung erschwert. Die mangelnde Durchdringung des digitalen Quellenkanons hat aber auch mit den im Umbruch befindlichen Fachaufgaben der Archive als »traditionellem Ort« der Geschichtsforschung zu tun. Denn die Archive haben in vielen Fällen erst in den letzten Jahren mit systematischen Übernahmen und der Bereitstellung digitaler Unterlagen begonnen. Dementsprechend stehen viele digitale Quellen aus Verwaltungszusammenhängen der Forschung noch gar nicht zur Verfügung. Gleichwohl werden sie für die spätere geschichtswissenschaftliche Erforschung unserer heutigen Gegenwart und jüngsten Vergangenheit von zentraler Bedeutung sein.
Archive investieren mittlerweile sehr viel Geld in die Digitalisierung ihrer Bestände, um sie ihren NutzerInnen komfortabel online bereitzustellen. Mit dem Aufbau virtueller Lesesäle geht es nicht mehr um die schon traditionell zu nennende Form der Digitalisierung, bei der exemplarisch besondere Einzelstücke in Form einer Ausstellung online präsentiert werden, sondern es geht tatsächlich um die Bereitstellung von Archivgut zur wissenschaftlichen Auswertung im virtuellen Raum statt im analogen Lesesaal. Doch während Fördermittel in großem Stil beantragt und bewilligt sowie die technischen Rahmenbedingungen geschaffen und ausgebaut werden, finden inhaltlich-methodische Diskussionen in Deutschland bisher kaum statt. In Frankreich hingegen wird in Anlehnung an das vor 30 Jahren erschienene Buch von Arlette Farge der »Geschmack des Archivs« im digitalen Zeitalter debattiert, und in der Schweiz wird das klare Ziel verfolgt, dass der virtuelle Raum den analogen ersetzen soll. In skandinavischen Ländern ist dies sogar schon geschehen. Dabei ist es in Deutschland keine programmatische Festlegung, dass am traditionellen Lesesaal festgehalten wird, oder muss es zumindest nicht sein, weil die schiere Menge an analogem Archivgut noch für lange Zeit auch herkömmliche Lesesäle erforderlich machen wird. Umso schwieriger wird es in dieser Übergangsphase, die Konturen des virtuellen Raumes genauer zu fassen und zu klären, was eigentlich das Ziel der digitalen Bereitstellung sein soll: eine Art Add-on, ein gleichwertiges Nebeneinander oder eine neue Form der Quellennutzung?
Der einstmals weitverbreitete Zeitvertreib der Philatelie gilt – ob zu Recht oder zu Unrecht sei einmal dahingestellt – als verstaubte Sammelleidenschaft von Stubenhockern und Philistern. Übersehen wird indes, dass zwei prominente Wegbereiter der kulturwissenschaftlichen Wende in der Geschichtswissenschaft und somit auch der visual history zu dieser im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftretenden Spezies gehörten. Denn sowohl Aby Warburg als auch Walter Benjamin waren passionierte Briefmarkensammler.
Living History
(2020)
Der Artikel zeichnet den Sammelbegriff Living History in seinen verschiedenen Definitionen, Formen und Ausprägungen nach, um einen Überblick zum breiten Phänomenbestand zu geben. Dabei werden sowohl Entwicklungen in den USA als auch in Europa berücksichtigt sowie historische Vorläufer gegenwärtiger Phänomene thematisiert. Während im angloamerikanischen Raum Living History als Bildungsangebot und Programmbestandteil vollständig in die Museumslandschaft integriert ist, gibt es in Deutschland noch immer Vorbehalte gegen diese Art der Darstellung. Abschließend wird der Frage nachgegangen, wie sich die Geschichts- und Kulturwissenschaften zur Living History verhalten können: Welche theoretischen Zugänge und Ansätze gibt es zur Untersuchung und Analyse von Living History?
Obwohl Psychologie und Psychoanalyse Nachbardisziplinen der Geschichtswissenschaft sind, findet eine methodische und theoretische Auseinandersetzung mit diesen kaum statt. Dennoch können sie, wie Nikolas R. Dörr im vorliegenden Beitrag erörtert, hervorragende Hilfswissenschaften der (zeit-)historischen Forschung sein, wenn sie richtig ausgewählt und angewendet werden. Er plädiert für eine (Wieder-)Entdeckung beider Disziplinen und erörtert den Nutzen mithilfe eines kurzen geschichtlichen Abrisses sowie von praxisbezogenen Anwendungsbeispielen.