Staatssozialismus
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Gleich nach dem Erscheinen im August 1977 erntete das Buch von damaligen Stars der linksintellektuellen Szene wie Herbert Marcuse oder Ernest Mandel allerhöchstes Lob. Marcuse stellte fest, das Werk des bis zum Zeitpunkt seiner Verhaftung durch die Staatsorgane der DDR nur Insidern bekannten Autors Rudolf Bahro sei „der wichtigste Beitrag zur marxistischen Theorie und Praxis, der in den letzten Jahrzehnten erschienen ist“. Mandel, der führende Denker der trotzkistischen Vierten Internationale, bezeugte, Bahro sei ein „wirklicher Kommunist“ und „Revolutionär“. Keinen Gefallen an Bahros Werk fanden hingegen jene Theoriearbeiter, die dem „real existierenden Sozialismus“ nahe standen. So erklärte beispielsweise der Marburger Politologe Wolfgang Abendroth, Bahro verliere sich „in gelegentlich zutreffender, aber häufig verzerrter und übersteigerter Kritik der sozialistischen Länder“. Ihm hielt der Theologe Helmut Gollwitzer entgegen, Abendroth beschränke sich in seiner Auseinandersetzung mit Bahro auf eine Rechtfertigung des Sowjetsystems und übersehe die Herausforderung der „Alternative“ für die marxistische Theoriebildung: „Die kommunistische Zielsetzung wird hier endlich einmal wieder ernst genommen, wird aus dem Himmel der Ideale heruntergeholt in ‚konkrete Denkbarkeit‘; den schon erreichten Verhältnissen wird die Melodie ihrer Möglichkeiten vorgesungen, und diese wird zum Kriterium der Kritik - zu einem Kriterium, dem keiner sich entziehen kann, dem es um das Ziel des Sozialismus noch ernst ist.“
Träume und Realitäten. Timothy Garton Ashs Reportagen über die „Refolution“ in Ostmitteleuropa
(2009)
Das Buch galt uns bei seinem Erscheinen als Geheimtipp – ein Werk nicht nur der genauen Analyse, sondern einer beeindruckenden Deutung. Für eine Interpretation des verwirrenden Geschehens, das wir erlebten, benötigten wir so etwas ganz dringend. Ich habe das Buch allerdings erst 1992 gründlich gelesen, zumindest steht in meiner Bibliothek die in jenem Jahr erschienene Taschenbuchausgabe. Die Seitenangaben im vorliegenden Text beziehen sich alle auf diese Ausgabe.
Der untergegangene Staatssozialismus war eine Gesellschaft der Gleichen. Mit ihrer Gleichheit war es aber so eine Sache. Wie es in Orwells „Farm der Tiere“ heißt: „Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher.“ Trotz dieses Einwandes erscheint manchem die Unterscheidung zwischen vergangener Gleichheit und heutiger Ungleichheit plausibel, weil es seit 1989/90 eine rasante soziale Ausdifferenzierung gab. Sie hat den Staatssozialismus nachträglich in ein milderes Licht getaucht. Der vorliegende Essay wird sich mit dem sozialen Wandel und der Entstehung der gegenwärtigen Ungleichheit in Osteuropa beschäftigen – die einigen als gerecht, anderen aber als ungerecht erscheint. Um genauer verstehen zu können, was die Ungleichheit für die Politik und den Alltag in diesen Gesellschaften bedeutet, soll gefragt werden: Wie stand es mit Gleichheit und Ungleichheit im Spätsozialismus? Welche Art von sozialer Ungleichheit bildete sich nach 1989 heraus, und welche Aufgaben für deren politikwissenschaftliche und zeitgeschichtliche Analyse lassen sich identifizieren?
Die Fernsehreihe »Wettlauf mit der Zeit« stellte von 1986 bis 1989 in über 80 Folgen den Zuschauern die Entwicklung und Anwendung sogenannter Schlüsseltechnologien vor und zeigte deren vorgeblich positive Wirkung sowohl auf die Volkswirtschaft der DDR wie auch auf die gesamte sozialistische Gesellschaft. Die Darstellung erfolgte dabei stets aus produktionsbezogener Sicht, nur selten rückte die Konsumentenperspektive in den Fokus. Schlüsseltechnologien wurden definiert als Techniken, »die auf längere Sicht die Produktivkraftentwicklung in der gegenwärtigen Etappe der wissenschaftlich-technischen Revolution wesentlich bestimmen«. Den Zuschauern der Reihe wurden als solche präsentiert: die Mikroelektronik, die Informatik, CAD/CAM-Systeme, verschiedene Automatisierungstechniken, Formen neuer bzw. verbesserter Energieverwendung und -verwertung, der Einsatz von Biotechnik und die so bezeichnete »sozialistische Umweltgestaltung«. Worin aber bestand nun der »Wettlauf mit der Zeit«?
Quelle: http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-20647-5.html
Das Buch beschreibt die Entwicklung einer "sozialistischen Wissenschaft" an den Hochschulen der DDR am Beispiel der Humboldt-Universität zu Berlin. Die so genannte 3. Hochschulreform 1968/69 stellte dabei einen markanten Einschnitt dar, in deren Folge sich die zentralen Strukturen und Verfahrensweisen herausbildeten, die das Wissenschaftssystem der DDR bis 1989/90 prägten. Die Entwicklung war gekennzeichnet durch Ambivalenzen zwischen den Erfordernissen einer Modernisierung und einer gleichzeitigen Ideologisierung der Universität. Diese ergaben sich aus den politischen Zielvorstellungen der SED an die Institution Universität, aus den Herausforderungen, die sich dem Bildungssystem jeder modernen Industriegesellschaft seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts stellten, und aus der institutionellen Eigenlogik des spezifischen Raumes der Universität.
Der vorliegende Band vereint methodisch-theoretische Überlegungen zur sozialhistorischen Netzwerkanalyse und empirische Einzelstudien zum Phänomen der Netzwerke im Realsozialismus. Er lädt dazu ein, die Substrukturen der realsozialistischen Gesellschaften zu analysieren. Netzwerke sind definitorisch nur schwer zu erfassen und lassen sich nicht immer scharf gegenüber Begriffen wie Patronage, Seilschaft, Arrangement etc. abgrenzen. Die Autoren der Beiträge experimentieren quasi mit dem Netzwerkbegriff auf der Grundlage ihrer jeweiligen empirischen Ergebnisse. Dabei kommt es zu Überschneidungen mit den Netzwerkbegriffen der Wirtschaftsgeschichte, der Organisationssoziologie und der Politikwissenschaften. Auf den ersten Blick scheinen sich einige der vorliegenden Untersuchungen wenig auf den Netzwerkbegriff zu beziehen. Auf den zweiten Blick jedoch, und das macht die Spezifik des Bandes aus, untersuchen sie Sonderformen von Netzwerken. Die Netzwerke in staatssozialistischen Systemen wurden, anders als etwa in westlichen Unternehmen, nicht aufgrund kalkulierter Effizienzkriterien installiert und aktiv betrieben, sondern dienten in der Regel dazu, eine Vielzahl von Defiziten zu kompensieren.
Verlagstext, s. http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-02706-3.html
"Betriebe in der DDR hatten neben ihrem Produktionsauftrag eine Vielfalt von sozialen und kulturellen Funktionen zu erfüllen, wodurch der Arbeitsort eine zentrale Stellung im Alltag und Leben des Einzelnen erhielt. Hauptzielgruppe der betriebsgebundenen Kulturangebote war die Industriearbeiterschaft.
Neben der Vermittlung einer stark selektiven Erzählung kommunistischer Arbeiter- und Widerstandsgeschichte sollte betriebliche Kulturarbeit die künstlerische Selbstbetätigung der Belegschaften fördern, die Freizeitbeschäftigung der Arbeiter lenken und inhaltlich am Gestaltungswillen der SED ausrichten.
Die Autorin untersucht, wie die an Produktivitätssteigerung und politischer Erziehung orientierte betriebliche Kulturarbeit installiert wurde und wie die Belegschaften sie transformierten. Dabei wird ein Bild der alltäglichen Praxis betrieblicher Kulturarbeit sichtbar, das sich nur selten mit den Intentionen der Organisatoren in Partei und Gewerkschaft deckte."
In der gegenwärtigen Debatte über Imperien wird die konstitutive Bedeutung des Raumes hervorgehoben. Seine Repräsentation in Gestalt von Karten wird aber bisher selten zum Forschungsgegenstand gemacht, obwohl Untersuchungen zum British Empire auf den Zusammenhang von kognitiven und materiellen Karten für die Ausbildung eines Raumbewusstseins innerhalb des Imperiums und in Bezug zur Welt verweisen. In der Sowjetunion war die Produktion und Verbreitung von Karten von Anfang an ein grundlegender Bestandteil imperialer Politik, weil das dokumentierte Wissen über das Territorium, seine Strukturen und Bewohner eine Voraussetzung für eine umfassende Sowjetisierungspolitik darstellte. Einer der sowjetischen „Vermesser“ war der ungarische Kartograph Alexander (Sándor) Radó, der seit den 1920er-Jahren an der Produktion sowjetischer und europäischer Atlanten beteiligt war. Die Karten sind in mehrfacher Hinsicht Dokumente eines imperialen Konstruktionsprozesses, weil sie einerseits als Projektionsfläche genutzt wurden und andererseits die innenpolitische Entwicklung in der Sowjetunion spiegelten und beeinflussten.
Eine besondere Chance, bottom-up-Einblicke in die Alltagsgeschichte von Menschen mit Behinderungen in der DDR und ihre Agency zu erhalten, bieten Eingaben: Bitt- und Beschwerdebriefe, die die Bürger:innen der DDR zu Hunderttausenden jährlich an staatliche Organe richteten, um Probleme im Alltagsleben und Konflikte mit Staat und Verwaltung zu lösen. Zunächst werden in diesem Beitrag die Besonderheiten solcher Eingaben in der DDR skizziert. Sodann wird erörtert, inwiefern die Analyse der Eingaben von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen eine wertvolle Perspektive auf ihr Alltagsleben und ihre Interaktionen mit Staat und Expert:innen ermöglicht und wo dabei Grenzen der Aussagekraft liegen. Dies wird anhand von Einzelfällen exemplarisch veranschaulicht.
Heiße Rhythmen im Kalten Krieg. Swing und Jazz hören in der SBZ/DDR und der VR Polen (1945–1970)
(2011)
Der Aufsatz geht der Frage nach, wie Hörerinnen und Hörer in der SBZ/DDR und in Polen über Radio, Schallplatten und Live-Musik Zugang zu Jazzmusik erhielten. In beiden Gesellschaften entwickelte sich die Jazzszene in einem charakteristischen Spannungsfeld: Einerseits bezeichneten die sozialistischen Regime Jazz mit Beginn des Kalten Kriegs als „amerikanisch-imperialistische Musik“ und versuchten den „Jazztumult“ aus dem öffentlichen Raum und dem Rundfunk zu verdrängen. Andererseits war es mit Hilfe persönlicher Kontakte zu Menschen im Westen sowie vermittelt über die Programme der US Information Agency weiterhin möglich, sich Zugang zu Jazzmusik zu verschaffen. Der Vergleich der DDR mit Polen zeigt dabei, dass sich die bis dahin ähnlichen Kulturpolitiken beider Staaten ab 1956 wesentlich unterschieden. Polen öffnete sich für Jazz und unterstützte zum Teil die Szene wie auch die Musiker; an den Konzerteinnahmen verdienten die Kulturfunktionäre mit. In der DDR agierte das Regime dem Jazz gegenüber zunächst weiter ablehnend, bis der Beat zum neuen musikalischen Feindbild avancierte.
Drei Bücher haben im 20. Jahrhundert zu unterschiedlichen Zeitpunkten das Bild der Deutschen über die Sowjetunion geprägt: René Fülöp-Millers „Geist und Gesicht des Bolschewismus“ aus dem Jahr 1926, Klaus Mehnerts „Der Sowjetmensch“ aus dem Jahr 1958 und Lois Fisher-Ruges „Alltag in Moskau“ aus dem Jahr 1984. Allen drei Publikationen ist gemeinsam, dass sie kaum auf die historischen Ereignisse oder das politische Tagesgeschäft zu sprechen kommen, sondern einen Einblick in die sowjetische Alltagskultur zu geben versuchen. Den Autoren der drei Bücher war von Anfang an klar, dass sie eigentlich Unmögliches vorhatten: Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, alle Facetten einer Gegenwartskultur zu erfassen und darzustellen. Im Fall der Sowjetunion kam erschwerend dazu, dass man kaum auf verlässliche Quellen zurückgreifen konnte: Die Kultur teilte sich in einen offiziellen Betrieb und einen verbotenen Untergrund, soziologische Daten waren nicht erhältlich oder manipuliert, die Gesprächspartner mussten immer auf der Hut vor den staatlichen Überwachungsorganen sein. So blieb den Autoren nichts anderes übrig, als sich auf ihre persönliche Erfahrung zu stützen, die naturgemäß nur einen beschränkten Radius aufwies. Der Erfolg der genannten Bücher verdankte sich nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch dem Erscheinungsdatum, das jeweils eine Wendezeit markierte: Fülöp-Miller lieferte nach zehn Jahren Sowjetregime eine erste Bilanz, Mehnert dokumentierte das Ende des Stalinismus, Fisher-Ruge gab einen Einblick in die gesellschaftlichen Startbedingungen der Perestrojka.
Der Sozialismus sollte ein Gegenentwurf zum Kapitalismus sein. Dessen immanente Schwächen und seinen daraus vermeintlich zwangsläufig resultierenden Zusammenbruch hatte Karl Marx in seinen Schriften eingehend dargelegt. Seine Epigonen gingen davon aus, daß es reiche, die grundlegenden Konstellationen des Kapitalismus zu beseitigen, um damit eine dauerhaft krisenfreie Entwicklung der Gesellschaft zu gewährleisten. Diese Zuversicht beruhte darauf, daß der Mensch in der Lage sei, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und Gesellschaft nach rationalen Kriterien zu planen und zu gestalten - oder wie es bei Marx hieß „Geschichte [zu] machen“.
Die Gesellschaft sozialistischer Staaten wird oft als „arbeiterlich“ bezeichnet. Unabhängig davon, ob man dieser Pointierung folgt oder nicht, ist wohl sicher, daß diese Gesellschaften in hohem Maße von Arbeit geprägt waren. Mit dem Themenkreis „Arbeitsbeziehungen, Arbeitsverhältnisse, Arbeiterexistenzen“ wird also ein Bereich berührt, der eins der wichtigsten Laboratorien staatssozialistischer Politik war. Die besondere Bedeutung der Arbeitswelt sozialistischer Staaten betont auch Peter Hübner in seinem Beitrag. Er weist darauf hin, daß diese Sphäre seit 1989 eine nachträgliche, überwiegend positive Bewertung durch die ehemalige Bevölkerung erfahren habe und sie darum heute einen zentralen Bezugspunkt sentimentaler Rückschau darstelle.
Solidarität und Alltag der DDR aus der Sicht exilierter Mitglieder des African National Congress
(2023)
Der demokratische Zentralismus als das prägende Herrschaftsprinzip staatssozialistischer Gesellschaften, das nicht nur in der politischen Sphäre, sondern auch in der Staats- und Wirtschaftsordnung volle Gültigkeit beanspruchte, lässt die Frage nach möglicherweise daneben existierenden kooperativen „Netzwerken“ auf den ersten Blick als nachgeordnet erscheinen. Das Herrschaftsprinzip des demokratischen Zentralismus, das sei kurz in Erinnerung gerufen, stellte die wichtigste Grundlage für die zentralistische Leitung und den einheitlich-hierarchischen Aufbau des gesamten politischen, staatlichen und wirtschaftlichen Institutionengefiiges in den staatssozialistischen Gesellschaften dar. Legitimiert wurde es bekanntlich mit dem ideologischen Postulat, die sozialistische Gesellschaft bedürfe der einheitlichen und planmäßigen Führung durch die Partei der Arbeiterklasse, die deshalb keine konkurrierenden Macht- und Selbstbestimmungsansprüche neben sich dulden könne. Von der Partei wurde das Prinzip des demokratischen Zentralismus folglich nicht nur im eigenen Organisationsaufbau berücksichtigt, sondern - leicht abgewandelt - auch auf den ihrer Leitung subordinierten Staat sowie die ihm einverleibte Wirtschaft übertragen.
Für den 17. Dezember 1958 hatte die Abteilung Wissenschaften des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu einer Besprechung „im Großen Sitzungssaal des Zentralhauses der Einheit“ gebeten, auf der sich im Beisein des Staats- und Parteichefs die Elite der ostdeutschen Historikerschaft versammelte. Unter den Eingeladenen waren Institutsdirektoren, Universitätsprofessoren und Parteihistoriker, und sie waren zusammen- gekommen, um zusammen mit der politischen Führung des Landes über die Stellung der DDR-Geschichtswissenschaft gegenüber ihrer bundesdeutschen Schwesterdisziplin zu beraten. Um in die einzelnen Aspekte des Themas einzuführen, waren prominente Referenten gewonnen worden, und der Parteichef selbst trug zu der Frage vor, wie die Beziehungen zwischen Geschichtswissenschaft und Politik unter seinem Bonner Amtskollegen geregelt seien: „Die Historiker [...] arbeiten gegenwärtig für die Durchführung des psychologischen Krieges, und Adenauer hat sie ganz hübsch an die Strippe genommen. Welches ist die Aufgabe, die Adenauer ihnen gestellt hat? Adenauer hat diese ganzen Historiker zusammen genommen und ihnen klar gemacht, daß sie beweisen müssen die geschichtliche Notwendigkeit der europäischen Integration und die Rolle Westdeutschlands in der NATO. Und sie schreiben alle tapfer in dem Sinne, wie ihnen das angeordnet wurde, alle, angefangen bei Ritter bis hin zum letzten Schulmeister in den Dörfern. [...] Die ganze Geschichtsschreibung, wie sie dort im Westen betrieben wird, dient dieser Aufgabe. Es gibt dort eine einheitlich ideologisch-politische Leitung der gesamten Geschichtsforschung. [...] Die Geschichtsschreibung Westdeutschlands ist auf die Durchführung des psychologischen Krieges abgestellt und darauf, daß im Jahre 1961 die Rüstung der westdeutschen NATO-Truppen fertig ist, und bis zu dieser Zeit muß die entsprechende ideologische Verseuchung in Westdeutschland erreicht sein. Das ist dort exakt ausgearbeitet.“
Planprojekt Meistererzählung. Die Entstehungsgeschichte des "Lehrbuchs der deutschen Geschichte"
(2000)
Kein anderes historiographisches Unternehmen in der DDR hat im Kampf um die Deutungshoheit über die Vergangenheit eine so umfassende Rolle gespielt wie das Hochschullehrbuch der deutschen Geschichte. Es unterfing sich, die ganze historische Zeit von den Jäger- und Sammlerhorden im Altpaläolithikum bis zur deutschen Doppelstaatlichkeit in der Gegenwart darzustellen, und es spiegelte in den fünfunddreißig Jahren, die zwischen dem ersten Entwurf 1952 und den letzten Neuauflagen 1986 lagen, die ganze Wegstrecke von der Konstitution bis zur Erosion des sozialistischen Geschichtsbildes. „Es geht darum, den werktätigen Massen - den wahren Schöpfern der Geschichte - die Vergangenheit zu beleuchten, damit sie ihren heutigen Kampf mit den revolutionären Traditionen verbinden“ - mit diesen Worten umriß der wissenschaftliche Sekretär des Lehrbuch-Projekts 1955 die Aufgabe in einem für das „Neue Deutschland“ bestimmten Beitrag.
Die Lebensgeschichte des SED-Chefs Erich Honecker (1912–1994) gilt gemeinhin als reizlos. Näheres biographisches Interesse hat bislang vor allem die Frage erweckt, weshalb ein so „mittelmäßiger“ Parteifunktionär sich über 18 Jahre lang in der DDR an der Macht halten konnte. Der Beitrag versucht zu zeigen, dass ein klassischer individualbiographischer Zugang dem Phänomen des „blassen Diktators“ Honecker nicht gerecht wird. Erst in einer milieu- und generationsgeschichtlichen Perspektive wird die biographische Bindungskraft des Herrschaftsstils fassbar, den Honecker als Repräsentant der jüngsten Kohorte der ostdeutschen Gründergeneration entwickelte. Die für ihn charakteristische Verbindung von Starrheit und Elastizität trieb zunächst den Übergang der kommunistischen Herrschaft in ihre auf bloße Machtsicherung bedachte Veralltäglichungsphase voran; später beschleunigte sie den Untergang dieses Systems.
Honeckers Herrscherporträt zeigt in seinen zahllosen einzelnen Varianten weder Emotionen, noch ist es räumlich oder zeitlich klar zuzuordnen. Die Botschaft, die es aussendet, ist abstrakt: Das SED-Parteiabzeichen an Honeckers Revers führt dem Betrachter die kollektive Kraft der kommunistischen Partei vor, lässt in seiner korrekten Kleidung die staatsmännische Handlungssicherheit erkennen und strahlt im unverwandten Blick die ruhige Selbstgewissheit der Herrschaftselite aus. Wenn die Visualisierung des bürgerlichen Politikers im 20. Jahrhundert in seiner Körperlichkeit nacheinander Würde, Leistung und Glaubwürdigkeit präsentierte, wie Thomas Mergel dies am Beispiel deutscher Politikerfotos beschrieben hat,so stellt das kommunistische Funktionärsporträt die überindividuelle Gesetzmäßigkeit der sozialistischen Ordnung vor.
Der Beitrag untersucht sowjetische Diskurse zur Welternährung und Hungerhilfe im »Zeitalter der Ideologien« während der 1950er- bis 1980er-Jahre. Trotz Versorgungsengpässen stellten die wechselnden sowjetischen Führungen den Export von Getreide und Hilfsgütern schon seit den 1920er-Jahren als moralische Pflicht des sozialistischen Systems und als Zeichen seiner Überlegenheit dar. Die Hilfspropaganda betonte die Notwendigkeit, die Kolonien bzw. die dekolonialisierten Staaten aus den Klauen der kapitalistischen Ausbeutung zu befreien. Ab Mitte der 1970er-Jahre hinterfragten sowjetische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angesichts globaler Probleme bisherige ideologische Dogmen, wiesen auf die Vorteile der Handelsbeziehungen für die UdSSR hin und gingen von einer interdependenten globalen Ökonomie aus. Der Mangel an Zahlen führte bei der Bevölkerung indes zu Spekulationen über das Ausmaß der Hilfsleistungen. Sowjetische Publikationen, Karikaturen und andere Bilder geben Auskunft über den damaligen offiziellen Diskurs. Anekdoten aus sowjetischer Zeit, aber auch heutige Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen belegen, wie die offiziellen Verlautbarungen und die visuelle Propaganda zur Getreideproduktion und zur Entwicklungshilfe in der Gesellschaft rezipiert und kritisiert wurden. Der Eindruck, die UdSSR habe zum Nachteil der eigenen Bevölkerung »Afrika gefüttert«, ist bis in die Gegenwart ein verbreitetes Stereotyp.
This article examines Soviet discourses on world food and famine relief in the ›age of ideologies‹ during the 1950s to 1980s. Despite supply shortages, the various Soviet governments presented the export of grain and aid since the 1920s as a moral duty of the socialist system and a sign of its superiority. Aid propaganda emphasised the need to free the colonies or decolonised states from the clutches of capitalist exploitation. From the mid-1970s onwards, Soviet scholars questioned previous ideological dogmas in the face of global problems, pointed to the advantages of trade relations for the USSR, and postulated an interdependent global economy. The lack of concrete figures, however, led to speculation among the population about the extent of the aid. Soviet publications, cartoons and other images provide information about the official discourse at the time. Anecdotes from the Soviet period and present-day conversations with contemporary witnesses provide evidence of how the official pronouncements and visual propaganda concerning grain production and development aid were perceived and criticised in society. The impression that the USSR ›fed Africa‹ to the detriment of its own population remains pervasive to this day.