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Bilder von Flüchtlingslagern rufen in der Regel emotionale Reaktionen, ja Bestürzung über die enormen Ausmaße dieser prekären Einrichtungen hervor. Manchmal führen sie gar zur Frage, ob und wie diese Orte überhaupt existieren können. Bei der Betrachtung von Fotos und der gesamten Bildwelt der Flüchtlingslager stellen sich spontan Assoziationen ein: materielle Not, eine offensichtlich nur provisorische Organisation der Räume, schwach ausgeprägte Spuren, die das Lager als Form von der natürlichen Umgebung und dem Boden kaum abheben. All dies vermittelt den Eindruck, dass morgen bereits verschwunden sein könnte, was uns heute vor Augen steht. Wir werden von einem Gefühl der Unwirklichkeit ergriffen, das mit der europäischen Geschichte verknüpft ist, mit den in Europa vorherrschenden Normen der Raumorganisation und den Lebensweisen des Westens. Dieses Gefühl legt eine bestimmte Einordnung nahe. Es mischt sich mit einer von den Themen Ausnahmezustand und Thanatopolitik geprägten Vorstellung des Lagers. Manche Sozialwissenschaftler/innen, Journalist/innen und Fotograf/innen haben sich von dieser stark vereinfachenden Repräsentation täuschen lassen und die Lager der Gegenwart vor dem Hintergrund der Shoah betrachtet. Global gesehen, ist die Wirklichkeit der Lager des 21. Jahrhunderts jedoch wesentlich komplexer und ambivalenter. Einerseits muss das Modell der Ausnahme relativiert werden durch die sowohl globale als auch lokale Kontextualisierung der Lager – selbst wenn sich die für die Sicherheit verantwortlichen oder humanitären Mächte gern von diesem Modell inspirieren lassen. Andererseits prallen im Alltag der Flüchtlingslager zwei unterschiedliche Zeitregime aufeinander, ereignet sich gleichsam ein Schock zwischen der Langsamkeit des Alltags der Ein-Gelagerten (encampés) und der von der humanitären Dringlichkeit bzw. der Brutalität der Sicherheitseinsätze verursachten Hektik und Betriebsamkeit (urgentisme). Aus diesem Grund sind Spannung und Ungewissheit stets Teil des Handelns, der Sinnzuschreibung solcher Orte und ihrer Zukunft.
Beyond Nostalgia and the Prison of English. Positioning Japan in a Global History of Emotions
(2021)
This article interrogates the history of emotions at a pivotal moment in its growth as a discipline. It does so by bringing into conversation the ways in which scholars in Japan have approached ›nostalgia‹ (and emotions more broadly) as an object of study with concepts, theories, and methods prioritised by a predominantly Eurocentric field. It argues that Anglocentric notions of nostalgia as conceptual frameworks often neglect the particularisms that underlie the way that the Japanese language communicates and operationalizes cultural norms and codes of feeling. It also examines the aisthetic work of musicologist Tsugami Eisuke to help understand historical and psychological distinctions between ›nostalgia‹ and Japanese ideas of temporal ›longing‹, working towards a global history of emotions that meaningfully embraces multilateral and multi-lingual interaction. This article thus argues for a more nuanced way of discussing nostalgia cross-culturally, transcending dominant approaches in the field which are often grounded in a specifically Euro-Western experience but claim universal reach.
The American evangelist Billy Graham held several revival meetings – so-called crusades – in West Germany in the 1950s and 1960s. Many thousands of Germans came to hear him. This article explores the reasons for Graham’s success in the Federal Republic in the context of a transatlantic religious and cultural history. Graham’s campaigns were embedded in the discourse of rechristianization and secularization after the end of the Second World War. Leading Protestant bishops such as Otto Dibelius and Hanns Lilje supported him. Furthermore, Graham’s campaigns played an important role in the West German culture of the Cold War as political stagings of the Free World consensus. In addition, the orchestration of the crusades reconciled religion and consumerism. Billy Graham’s crusades are a prism through which to explore important modernization processes in German Protestantism in the first two decades of the Federal Republic.
Seit 2004 ist in Berlin vielfach die Einrichtung eines speziellen Museums zur Geschichte des Kalten Krieges gefordert worden. Auslöser war ein Projekt Alexandra Hildebrandts, der Leiterin des Mauermuseums/Haus am Checkpoint Charlie. Auf einer Freifläche neben dem Grundstück des Mauermuseums eröffnete sie am 31. Oktober 2004 ein privates Denkmal. Es bestand aus einem aus Originalteilen neu zusammengesetzten Stück der Berliner Mauer und 1.065 Holzkreuzen. Die Kreuze waren überwiegend mit Namen und Fotografien versehen und sollten an diejenigen erinnern, die infolge der deutschen Teilung zu Tode gekommen waren. Im Juli 2005 wurde das Areal von der Polizei zwangsgeräumt, da Hildebrandt die Pacht für das Grundstück nicht mehr bezahlen konnte. In der publizistischen Debatte, die diese Aktion begleitete, ging es zunächst einmal um die genaue Zahl der Mauertoten und um angemessene Formen des Gedenkens an die Opfer der deutschen Teilung, mittelbar aber auch um die historische Bewertung der Rolle Berlins im Kalten Krieg. Der Streit über die Umsetzung eines fachlich fundierten Erinnerungskonzepts am Checkpoint Charlie und somit über die Deutungshoheit im Hinblick auf den Kalten Krieg entbrannte zwischen Pressevertretern unterschiedlicher politischer Lager, der Berliner Landespolitik und engagierten Wissenschaftlern – ein klassischer geschichtspolitischer Konflikt.
Blick durchs Ökoskop. Rachel Carsons Klassiker und die Anfänge des modernen Umweltbewusstseins
(2012)
Kaum ein anderes amerikanisches Buch hat in aller Welt so hohe Wellen geschlagen wie „Silent Spring“. Einem Tsunami vergleichbar, der sich von seinem unterirdischen Ursprung über lange Perioden und große Entfernungen hinweg ausbreitet, hat Rachel Carsons Buch tradierte Sichtweisen auf die Natur erschüttert, unerhörte Zerstörungen sichtbar gemacht und den Ausblick auf eine gefährdete Welt zurückgelassen. Eine „Flutwelle von Briefen“ fegte unmittelbar nach der Veröffentlichung des ersten Kapitels im „New Yorker“ im Juni 1962 über die USA hinweg. Carson sah in den anhaltenden Reaktionen auf ihr Buch dessen eigentliche Bedeutung. Vieles spricht dafür, dass „Silent Spring“ einer der Auslöser für die ‚ökologische Revolution‘ der 1960er-Jahre war. Woher kam diese Sprengkraft? Und welche Bedeutung hat Carsons Klassiker heute – ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen?
In 1892, the year the American writer Pearl S. Buck was born, the US Congress renewed the Chinese Exclusion Act, initially passed in 1882, for another ten years. It sought to prevent all laborers of Chinese ethnicity from entering or reentering the US, with breaches punishable by law. Three months after her birth, Buck moved with her missionary parents to China and spent most of her life until her early forties there. During the global Cold War, Buck, already a Nobel Laureate (1938), sharply criticized US foreign policy and its racism, the ignorance of American diplomats about China, and the arrogant belief in solving conflicts in Asia through military means in her book Friend to Friend (1958). While there is little doubt about Buck’s official US nationality, her cultural belonging of choice – which decisively shaped her lifelong literary writing, in particular the novel The Good Earth (1931) that earned her the Nobel Prize – is inherently multivalent. In The Good Earth, Buck depicts the lives of Chinese peasants and their loyalty to the earth that nurtures humanity and provides all that lives on it with nutrition. In the following pages, I will discuss Buck’s bicultural biography and several aspects of this extremely popular and influential novel and, rather than viewing it as a piece of classic American literature, I will propose re-reading it as a work in the Chinese tradition of literary realism and in the context of the emerging trend of rural realism in the early twentieth century. The purpose of my re-reading of The Good Earth is to highlight less apparent global connections in the tradition of rural nostalgia and to complicate the paradigm of national literature and national history. Indeed, the earth, ruralism, nutrition, and food, as the novel describes, constitute the very foundation of human existence across borders, political camps, language barriers, and cultural differences from antiquity to the present day.
Bernd Greiner präsentiert in seinem konzisen Überblick die jüngeren Tendenzen der Cold War Studies. In dreifacher Hinsicht habe sich der historische Blick geöffnet: Zum einen seien die Cold War Studies einer multipolaren bzw. transnationalen Perspektive verpflichtet, zum Zweiten führten sie zu einer Neugewichtung der beteiligten Akteure, und zum Dritten entwickelten sie eine Gesellschaftsgeschichte des Kalten Kriegs, die Bereiche des kulturellen und sozialen Lebens berücksichtige, die in den klassischen Meistererzählungen bisher vernachlässigt würden.
Computeranschaffungen in Deutschland und weltweit, in Auszügen. Die Tabellen und Daten schlüsseln auf, welche Institutionen zu welchem Zeitpunkt welche Computer zu welchem Zweck angeschafft und eingesetzt haben. Abgedeckt werden vor allem die Banken und Sparkassen der Bundesrepublik, der DDR und international. Darüber hinaus bietet die Aufstellung breiterer Anschaffungsprozesse in Wirtschaft, Staat, Wissenschaft, Militär und Gesellschaft eine Einordnung dieser Daten.
Computerliebe. Die Anfänge der elektronischen Partnervermittlung in den USA und in Westeuropa
(2020)
Lange vor der Ära des Online-Datings begannen Heiratsagenturen und Partnerschaftsvermittlungen in den USA und in Europa den Computer einzusetzen, um die Märkte der »einsamen Herzen« zu erobern. Der Beitrag untersucht die Geschichte dieser elektronischen Kontaktvermittlung zwischen den 1950er- und den 1980er-Jahren. Wie änderten sich Vorstellungen von Liebe, Partnerschaft und Ehe im Zeitalter der »technokratischen Hochmoderne«? Und welche Rolle spielte der Computer dabei als »Elektronen-Amor« und »Matchmaking Machine«? Schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte der Rechner zum »wissenschaftlichen« Werkzeug einer Optimierung des Privaten. Dabei reflektierte die Geschichte der elektronischen Partnervermittlung – von der »Eheanbahnung« bis zum »Single-Dating« – einen tiefgreifenden soziokulturellen Wandel. Allerdings gab es zugleich eine erstaunliche Persistenz tradierter Werte und Muster des Kennenlernens. So eröffnete das Computer-Dating einerseits gerade für Frauen neue Wege der Partnerwahl. Andererseits (re)produzierte es soziale, ökonomische, religiöse und kulturelle Trennlinien der Gesellschaft. Die »Algorithmen der Liebe« suchten vornehmlich nach Übereinstimmungen; sie schrieben dabei konventionelle Geschlechterbilder und soziale Rollenzuweisungen fort.
Bildagenturen, die zwischen Fotografen und Redaktionen vermitteln, sind zentrale Akteure bei der Produktion massenmedialer Sichtbarkeit. Ihre Rolle im System der NS-Bildpropaganda ist weitgehend unerforscht. Der Aufsatz widmet sich einem brisanten Spezialfall, der amerikanischen Associated Press und ihrer Niederlassung im Deutschen Reich. 1935 unterstellte sich die deutsche AP GmbH dem Schriftleitergesetz und ließ sich damit »gleichschalten«. Bis zum Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 hatte sie eine eminente Bedeutung als transatlantischer Bildlieferant für die nationalsozialistische Propaganda. Außerdem durfte AP weiterhin im Deutschen Reich produzieren. Die von der Agentur unter der Ägide des Propagandaministeriums, der Wehrmacht und der SS aufgenommenen Fotos bestückten die NS-Presse, aber die New Yorker AP-Zentrale stellte sie auch der nordamerikanischen Presse zur Verfügung, wo sie mal als scheinbar neutrale Nachrichtenbilder erschienen, mal ausdrücklich als Propagandabilder gekennzeichnet wurden.
Mit dem Übergang zum 21. Jahrhundert stellt sich die Frage nach den spezifischen Konturen des vergangenen 20. Jahrhunderts. Je nach Perspektive lassen sich unterschiedliche Aspekte herausarbeiten, die das letzte Jahrhundert über die Epochengrenzen hinweg entscheidend geprägt haben. Wenn Zeithistoriker versuchten, das – „kurze“ oder „lange“ – 20. Jahrhundert auf einen Begriff zu bringen, nannten sie es beispielsweise das „Zeitalter der Extreme“, „A Century of Genocide“, das „Jahrhundert des Industrialismus“ oder auch das „Zeitalter der (Hoch-)Moderne“, welches sich durch umfassendes technokratisches Ordnungs- und Planungsdenken ausgezeichnet habe. Unumstritten dürfte sein, dass der Fordismus und die damit verbundenen betrieblichen Rationalisierungsbewegungen ebenso zu den markanten Signaturen des vergangenen Jahrhunderts gehören wie die mit dem Fordismus verknüpfte Vision, gesellschaftliche Interessenkonflikte sozialtechnisch regulieren zu können. Darüber hinaus sollten die Volkswirtschaften, die Gesellschaften, die Städte und die Menschen analog zu den maschinengesteuerten Prozessen in den Fabriken rationalisiert werden, um eine größtmögliche Effizienz zu erzielen. Viele dieser technischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bestrebungen verbanden sich bereits für die Zeitgenossen mit dem Namen des US-amerikanischen „Automobilkönigs“ Henry Ford.
»WAS IST WAS« – hinter diesem etwas kryptischen Titel verbarg sich für Kinder und Jugendliche der 1960er- bis 1980er-Jahre das Wissen der Welt. Mindestens einige dieser etwa 40-seitigen Bildbände über »Dinosaurier«, »Das Weltall«, »Seeschlachten«, »Das Mittelalter«, »Autos« »Päpste« oder »Insekten« standen in so gut wie jedem westdeutschen Kinderzimmer. Und wer sie besaß, wird zugeben müssen, noch heute von diesem Wissen zu zehren. »WAS IST WAS« war die deutsche Variante einer amerikanischen Kindersachbuchreihe, die unter dem Titel »How and Why – Wonderbooks« seit den 1950er-Jahren erschien. Der Nürnberger Tessloff-Verlag erwarb die Rechte an diesem Titel, übersetzte ihn in »WAS IST WAS« und brachte die ersten vier Kindersachbücher 1961 heraus (zunächst als Zeitschriftenreihe, ab 1963 dann in Buchform). Über 140 Bände sind bisher erschienen, und viele von ihnen sind in aktualisierten Neuauflagen weiterhin lieferbar. Die Reihe ist nicht abgeschlossen, inzwischen aber multi-medialisiert – und sie hat Konkurrenz bekommen.
Die Gewalt ist nicht eingehegt. Sie ist überall, allgegenwärtig, sie zeigt sich in ihrer brutalsten, grausamsten Gestalt im Nordirak und in Syrien, in Afghanistan und Somalia, im Sudan und im Nahen Osten. Gewalt nimmt viele Formen an, sie zerstört Leben, ihre Erfahrung traumatisiert Menschen für immer, sie verletzt und verstümmelt. Gewalterfahrungen können menschliche Gemeinschaften und soziale Ordnungen zerstören, mit Gewalt werden lebensnotwendige Ressourcen vernichtet. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund, der uns doch tagtäglich vor Augen tritt, überhaupt davon sprechen, es läge ein Jahrhundert der Gewalt und ihrer Einhegung hinter uns?
Der Aufsatz skizziert die Geschichte und die Veränderungen eines der bedeutendsten Porträts der Zeitgeschichte: des Mao-Porträts auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz) in Peking. Er spannt den Bogen von 1949 bis in die Gegenwart und untersucht dabei die unterschiedlichen Funktionen und Gebrauchsweisen des Bildes als Herrschaftssymbol, als Ikone der studentischen Protestbewegungen des Westens und der Pop Art um 1968, als kollektivem Protestobjekt im Frühjahr 1989, als Motiv der chinesischen Gegenwartskunst sowie als Bestandteil des Alltagskults. Ein besonderer Akzent wird dabei auf die immanenten Wirkungspotenziale des Bildes und den Ort seiner Präsentation gelegt. In allgemeinerer Perspektive versteht sich der Aufsatz als Plädoyer für eine Visual History von Herrscherbildern der Zeitgeschichte.
Der erste Flüchtlingsausweis der Welt war gleich ein Sondermodell: International ausgehandelt, wurde er im Völkerbund 1922 für staatenlose russische Flüchtlinge entwickelt, um eine neue Massenerscheinung im sortie de guerre zu kanalisieren – die von Krieg und Bürgerkrieg, Revolution und Vertreibungen ausgelösten Fluchtbewegungen. Dieses für ganz bestimmte Gruppen reservierte Identitätsdokument war unter Flüchtenden und Exilanten ebenso heiß begehrt wie auch verachtet, denn der während der 1920er-Jahre in mehr als 50 Ländern ausgestellte Pass-Ersatz war in seiner Rechtsqualität äußerst zwiespältig. Das Personendokument soll im Folgenden aus mehreren Forschungsperspektiven knapp beleuchtet werden, um zu einer Historisierung dieser ambivalenten Quelle der internationalen Flucht- und Asylgeschichte des 20. Jahrhunderts beizutragen. Um dieses zweidimensionale »Ding« der Rechtsgeschichte zum Sprechen zu bringen, sind auch Zugänge der Politik- und der Mediengeschichte sowie der Sozial- und der Alltagsgeschichte zu berücksichtigen.
In dem letztlich gescheiterten Bemühen, seine Existenz zu sichern, zeigt das Osmanische Reich Ähnlichkeiten zum Habsburger- und zum Zarenreich. Einen deutlich imperialen Status besaß das Osmanische Reich vor allem vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, während der imperiale Charakter osmanischer Herrschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert weniger ausgeprägt war. Eine islamisch-christliche Konfrontation zur Erklärungsgrundlage des Verständnisses zwischen dem Osmanischen Reich und den anderen europäischen Großmächten machen zu wollen würde in eine Sackgasse führen; so zeigte die von Sultan Abdülhamid II. um 1900 verfolgte Option eines Panislamismus deutlich machtstrategisch-utilitaristische Züge. Nach wie vor wird in der internationalen Geschichtsforschung jedoch debattiert, wie die Elemente einer Gleichrangigkeit oder einer Marginalisierung des Osmanischen Reichs im Verhältnis zu den europäischen Großmächten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu bewerten sind. Das imperiale Erbe der Osmanen in Südosteuropa und in den arabischen Nachfolgestaaten ist umstritten und bisher nicht ernsthaft erforscht worden; ob es zu einer Erklärung der heutigen Konfrontation von Islamismus und amerikanischem Imperium beitragen könnte, wäre noch zu untersuchen.
Die amerikanische Aggression in Vietnam ist in Europa und Nordamerika als „der Vietnamkrieg" bekannt. Sinnvoller wäre es aber, den Konflikt im Kontext von nationalen Befreiungskriegen als „Indochinakonflikt" zu bezeichnen. Es handelte sich um mehrere Kriege, die miteinander verwoben sowie durch lokale, metropolitane und internationale Faktoren geprägt waren. Der Indochinakonflikt verdeutlicht die Handlungsautonomie von Klientelsystemen im Kalten Krieg; er verweist auf die ideologische und machtpolitische Fragmentierung des so genannten kommunistischen Blocks. Unterhalb der Ebene der globalen Auseinandersetzung war das System des Kalten Krieges multipolar konfiguriert.
Im 20. Jahrhundert fanden es die Deutschen kaum verwunderlich, dass es wenig Zuwanderung aus den (ehemaligen) Kolonien gab. Aus Politik, Gesellschaft und Wissenschaft kam niemand auf die Idee, überhaupt die Frage nach (post-)kolonialer Einwanderung zu stellen. Die ausbleibende Verwunderung lässt sich durch die Selbstverständlichkeit erklären, mit der man annahm, Weiß-Sein sei eine Bedingung für Deutschsein und die deutsche Nation „kein Einwanderungsland” (Zitat Helmut Kohl, 1992). Beim Blick nach Frankreich und Großbritannien hätte man zwar ein Defizit bei der nachkolonialen Einwanderung nach Deutschland feststellen können (1974 gab es in Frankreich regulär über eine Million Menschen allein aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien). Das Gegenteil war jedoch der Fall. Man bemühte in Deutschland den Vergleich mit Frankreich und Großbritannien lediglich, um zu behaupten, dass das deutsche Kolonialreich nur kurze Zeit existierte und zeitlich zu weit zurück lag, um einen dauernden Einfluss zu hinterlassen. Kohls Zitat, das deutsche Einwanderungsbehörden schon seit 1945 zum Leitmotiv ihrer Arbeit gemacht hatten, war weniger deskriptiv als präskriptiv gemeint. Bei der Zuwanderung nach Deutschland sollte es weder einen „Kolonialbonus“ für Auswanderungswillige aus den ehemaligen Überseegebieten geben, noch kam die deutsche Regierung auf die Idee, durch Bevorzugung von Migrant:innen oder „Gastarbeiter:innen“-Rekrutierung aus den ehemaligen Kolonien Wiedergutmachungspolitik zu betreiben, wie es zum Beispiel die englische Regierung mit der Einladung an die „Windrush-Generation“ aus karibischen Ländern zwischen 1948 und 1971 getan hatte.
Dieser Beitrag befaßt sich mit den bekannten und denkbaren anderen Erklärungsgründen des ,Scheiterns‘ des frühen Elektrofahrzeugs. Archivrecherchen in Europa und Amerika zeigen, daß nur eine differenzierte Analyse (temporal und geographisch, aber auch nach Fahrzeuggattung und -Anwendung) sinnvoll ist. Da das Elektrofahrzeug hier als Alternative, das heißt als eine ,materielle Kritik‘ an der herrschenden Technik aufgefaßt wird, muß auch das Benzinfahrzeug und dessen Kultur mit in die Analyse einbezogen werden. Dazu werden zunächst die Begriffe Struktur, System und Feld eingeführt. Schließlich wird mit Hilfe eines vierten Begriffs, der Metapher des Pluto-Effekts, das ,Scheitern‘ des Elektroantriebs als ein Erfolg des Autos (aufgefaßt als Idealtypus) umgedeutet: Unser ,Auto‘ ist heutzutage im technischen als auch im kulturellen Sinn ein ,elektrisiertes‘ Auto.
I first came across Harlan Lane’s work towards the end of my PhD, which I was undertaking at University College London, UK. My dissertation was on the construction of ›difference‹ in the British Empire, particularly the differences ascribed to race and gender. Using nineteenth-century medical missionaries as a way in, I had started to think about differences evoked by health, disability, and the body. In particular, I noted the way in which missionaries used the language of disability as a discourse of racialisation. The African and Indian colonial subjects they encountered were described throughout missionary literature as ›deaf to the Word‹, ›blind to the light‹ and ›too lame‹ to walk alone. I have two d/Deaf cousins, one of whom is the sign language sociolinguist Nick Palfreyman, and around about this time Nick had started to familiarise me with some of the issues surrounding Deaf politics. Becoming interested and wanting to know more, I began to learn British Sign Language (BSL) and contemplate the connections between the historical work I was doing and contemporary struggles of Deaf politics and disability politics (I was particularly interested in DPAC – Disabled People Against Cuts – given the contemporary climate of austerity in the UK). As I did so I became acquainted with the work of Harlan Lane. Here, although acutely aware of my own positionality as a white, British, hearing woman, I have taken up the challenge set by the editors of this special issue to re-read his work twelve years on from my initial encounter with it, using the insights into postcolonial study I have gained through my historical work.
Seit sich die republikanische Regierungsform in Frankreich endgültig durchgesetzt hatte (1875), waren vier Gruppen von Franzosen Diskriminierungen ausgesetzt, die im Staatsangehörigkeitsrecht festgeschrieben waren: französische Frauen, die Ausländer heirateten; algerische Muslime, Eingebürgerte und Juden. Die Republik erkannte sie als Franzosen an, gewährte ihnen aber nicht in jeder Hinsicht gleiche Rechte. Heute sind diese Diskriminierungen verschwunden. Doch zwei der vier Gruppen – die Juden und die algerischen Muslime – tragen weiterhin die gelebte Erfahrung und die Erinnerung früherer Diskriminierungen, auch wenn sie inzwischen völlig gleichberechtigt sind und zum Teil Anerkennung oder Reparationen erhalten haben. Der Aufsatz soll verstehen helfen, warum dies so ist, und greift dafür auf psychoanalytische Erklärungsansätze zurück. In beiden Fällen gab es ein zweites Ereignis, das die schmerzliche Vergangenheit reaktivierte: eine Rede de Gaulles 1967 bzw. die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 1993. Dieses zweite Ereignis geschah in einer Zeit formaler Rechtsgleichheit und wies dennoch auf die Zeit der Diskriminierung zurück.
Selten gerinnt „ein Stück empirisch orientierter, projektiver Gesellschaftstheorie“ (S. 13) aus der Feder eines Soziologen so rasch zum Schlagwort der Feuilletons wie Ulrich Becks „Risikogesellschaft“. Kurz vor der Drucklegung mit einem zweiten Vorwort versehen („Aus gegebenem Anlaß“), offerierte sich der Text selbst als Kommentar zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl; Beck ordnete den Vorfall historisch am Ende einer Kette von „zwei Weltkriege[n], Auschwitz, Nagasaki, dann Harrisburg und Bhopal, nun Tschernobyl“ ein (S. 7). Rhetorisch beginnend mit einem Paukenschlag, bleibt das Zugespitzte, Provokante für seinen Stil bis zur letzten Seite kennzeichnend. Die erste Auflage war schnell verkauft, schon 1987 erschien eine zweite, mittlerweile liegt das Buch in der 19. Auflage vor. Seit 1992 ist es auf Englisch und in vielen weiteren Sprachen auf dem Markt.
Während des Kalten Krieges wurde in Millionen Wohnzimmern, Kasernen und Schulen gespielt: Klassische Unterhaltungsspiele wie Memory bzw. Merk-Fix, aber auch Spiele wie Fulda Gap oder Klassenkampf, die die Systemkonfrontation als Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse erleb- und simulierbar machten. Der Aufsatz betrachtet eine in der zeithistorischen Forschung und in den Cold War Studies bislang vernachlässigte Quellengattung, die gerade in den 1970er- und 1980er-Jahren für die populärkulturelle Vermittlung von Grundcharakteristika des Ost-West-Konflikts sehr bedeutsam war. Untersucht wird, wie sich Brett- und Computerspiele in die Wettkampflogik des Kalten Krieges einschrieben, inwiefern sie für die Systemkonfrontation auf beiden Seiten sinnbildend waren, nationale Spezifika aufwiesen oder aber als Foren der Gesellschaftskritik dienten. Deutlich wird auch, wo für die jeweiligen Obrigkeiten die Grenzen des »Spielbaren« lagen. Den eigenen Untergang als Handlungsmöglichkeit oder Dystopie zu erproben, erschien vielfach als moralisch und politisch bedenklich, weil die in Spielen entwickelten Szenarien womöglich den Blick auf die Realität verändern und Kritik verstärken konnten. Andererseits konnten die Spiele aber auch die Veralltäglichung des Kalten Krieges unterstützen: Sie bereiteten Wissen über militärische Sachverhalte auf und trugen zur Gewöhnung an das atomare Drohpotential bei.
Denkmäler haben wieder Konjunktur – nicht nur in der Kontroverse um Erinnerungs- und Ehrungszeichen im öffentlichen Raum, die einen kolonialgeschichtlichen oder rassistischen Hintergrund besitzen. In der letzten Zeit wurde zwar heftig darüber gestritten, ob derartige Denkmäler, die im Konflikt oder sogar Widerspruch zum heutigen Wertekonsens stehen, erhalten bleiben, kommentiert oder ergänzt werden, ins Museum wandern oder besser ganz verschwinden sollten. Neben der Debatte über die Entrümpelung der deutschen Denkmallandschaft werden aber auch Vorschläge für eine Neumöblierung des öffentlichen Gedenkraumes gemacht. Alternative oder zusätzliche Denkmäler werden ins Gespräch gebracht, initiiert und auch errichtet, die dem gesellschaftlichen Selbstverständnis der Gegenwart besser entsprechen, es genauer zum Ausdruck bringen und gleichzeitig mitprägen sollen. Dazu gehören nicht zuletzt Denkmäler, die an Migration und Zuwanderung erinnern.
Der chinesische Premierminister Zhou Enlai soll in den 1970er-Jahren einmal bemerkt haben, es sei noch zu früh, die Bedeutung der Französischen Revolution zu beurteilen. Obwohl das Zitat vermutlich apokryph ist, wird es immer wieder gern bemüht, um die Flüchtigkeit des historischen Urteils zu illustrieren. Wer in solchen Zeiträumen wie der virtuelle Zhou denkt, dem muss der Versuch, nach gerade einmal zehn Jahren die Frage zu beantworten, ob die Terroranschläge des 11. September 2001 eine historische Zäsur markieren, einigermaßen absurd vorkommen. In der Tat ist gegenüber dem inflationären Gebrauch bedeutungsschwerer Begriffe wie Revolution, Epoche und Zäsur eine gesunde Skepsis angezeigt, denn in der Rückschau pflegt sich der historische Stellenwert vieler Ereignisse, welche die Zeitgenossen in Atem hielten, zu relativieren. Historiker sind sich bewusst, dass es sich bei Zäsuren um nachträgliche Konstruktionen von begrenzter räumlicher, zeitlicher und sachlicher Reichweite handelt. Dass mit wachsendem Zeitabstand auch die Klarheit des historischen Urteils zunimmt, wie es das Zhou-Zitat offenbar zum Ausdruck bringen soll, ist jedoch nicht zwingend. Genauso gut lässt sich argumentieren, nur Zeitgenossenschaft befähige zu der Empathie, die nötig sei, das Bewusstsein der Mitlebenden für einen unerwarteten und intuitiv als fundamental empfundenen historischen Bruch zu erfassen. Wer, wie der Verfasser, den Fall der Berliner Mauer vor Ort erlebt hat, wird alle Versuche, den Zäsurcharakter des 9. Novembers 1989 zu bestreiten, als blutleere Stubengelehrsamkeit empfinden.
Nach dem Ende des Kalten Krieges gewann ein spezifisches Genre von Büchern an Popularität, die durch klangvolle Titel auf sich aufmerksam machten und versprachen, sowohl das globale Geschehen zu erklären als auch die künftige Rolle der USA in der Welt zu skizzieren. Dabei wurde der große Wurf meist eher angekündigt als tatsächlich erzielt. Wenige dieser Bücher erwiesen sich jedoch als so breitenwirksam und langlebig wie das 1996 veröffentlichte Werk »The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order« des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington (1927–2008). Der Verfasser schien kaum zu übertreiben, wenn er im Vorwort schrieb, dass seine These »in jeder Zivilisation« einen »Nerv getroffen« habe. Laut einem »Newsweek«-Bericht bestellte die Iranische Revolutionsgarde in den 1990er-Jahren stapelweise übersetzte Kopien, um sie an ihre Mitglieder zu verteilen. Übersetzungen mit nicht weniger griffigen Titeln – »Der Kampf der Kulturen« oder »Le Choc des civilisations« – fanden sich rasch auf den Bestsellerlisten verschiedener Länder. Die Rede von einem »Clash« war aber auch besonders geeignet, sich zu verselbstständigen. Ihr wurde eine unmittelbare Plausibilität und Erklärungskraft beigemessen, ganz gleich, ob es um internationale Konflikte, Terrorakte oder innergesellschaftliche Auseinandersetzungen ging – das zeigte insbesondere die Verbreitung der Formel nach den Anschlägen vom 11. September 2001.
Der Bau der neuen UNESCO-Gebäude in Paris war in den 1950er-Jahren von Konflikten begleitet, die auf die schwierige Genese einer neuen internationalen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg verweisen. Der Aufsatz knüpft an jüngere Forschungen zur internationalen Geschichte sowie zu internationalen Organisationen an. Im Hinblick auf die UNESCO interessieren erstens die Etappen der Auseinandersetzung und zweitens die Bauten selbst. Drittens geht es um Gebrauchsweisen und Lesarten des Gebäudeensembles. Die Analyse beruht auf der These, dass die durch die Architektur geschaffene räumliche Ordnung und die verwendeten Materialien als bedeutungstragend zu verstehen sind. Allerdings deckte sich das realisierte Gebäude nicht völlig mit den Programmen und Wunschvorstellungen seiner Initiatoren. Die zeitgenössischen Kritiken sowie heutige Analysen geben den Blick frei auf nicht weiter explizierte Annahmen und Hierarchien, die die Organisation als politische und soziale Ordnung in den 1950er-Jahren prägten – und sie möglicherweise nach wie vor bestimmen.
Der »Weltkrieg« oder »Große Krieg« wurde von vielen Zeitgenossen als eines der ruhmreichsten, denkwürdigsten Ereignisse der Weltgeschichte und insbesondere der beteiligten Mächte aufgefasst. So standen auch von Anfang an gestalterische Konzepte zur Ehrung der Gefallenen als »Helden einer großen Zeit« mittels Kriegerdenkmälern, Totenhainen und Ehrenhallen zur Diskussion. Im Gegensatz zu dieser übergreifenden heroisierenden Deutung waren die Erinnerungserzählungen seit 1918 sehr heterogen. Modellhaft für die Bewahrung des Ersten Weltkriegs im »Funktionsgedächtnis« (Aleida Assmann) ist Großbritannien, wo beiden Weltkriegen eine ähnliche Relevanz zuerkannt wird. Der »Armistice Day« am 11. November repräsentiert seit 1920 kontinuierlich die öffentliche Erinnerung an das Ende des »Great War«. Zwei Schweigeminuten »at the 11th hour of the 11th day of the 11th month«, Gedenkveranstaltungen wie jene am »Tomb of the Unknown Warrior« in der Westminster Abbey oder auch historische Fernsehserien, in denen der »Große Krieg« regelmäßig vorkommt, sind Belege für seine Sichtbarkeit und mediale Verbreitung bis heute. Ein Beispiel für das Gegenmodell, in dem der Zweite Weltkrieg den Ersten weitgehend überschrieben hat, ist Österreich, wo nach 1945 dem Ersten Weltkrieg nur geringe Relevanz für aktuelle Identitätskonzepte und Erinnerungserzählungen beigemessen wurde. Zeichensetzungen im öffentlichen Raum beschränken sich (mit regionalen Ausnahmen wie Tirol) weitgehend auf einige Straßennamen und auf Kriegerdenkmäler, die für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs adaptiert wurden. Zwischen diesen Optionen – der Gleichrangigkeit beider Weltkriege oder der Dominanz des Zweiten Weltkriegs – lässt sich die Gedächtnislandschaft in den europäischen Ländern einordnen.
Es herrscht Bürgerkrieg, Bürokratie und Korruption lähmen die Regierung, das Parlament ergeht sich in endlosen Debatten - dies ist die Situation, in der sich die Demokratie selbst den Todesstoß versetzt: Sie ruft nach einem starken Mann. Damit beginnt der Aufstieg eines Politikers zur Herrschaft über das Imperium in der Star-Wars-Galaxis. „Um weiterhin allgemeine Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten, wird die Republik umgestaltet werden, und zwar zum ersten galaktischen Imperium zum Wohle und Nutzen einer stabilen und sicheren Gesellschaft“, erklärt der künftige Diktator, während sich die Kamera öffnet und den Blick auf eine unüberschaubare Masse begeistert zustimmender Parlamentarier freigibt. Nur sehr leise gibt es auch eine kritische Stimme zu hören: „So geht die Freiheit zu Grunde mit donnerndem Applaus.“ Die imperiale Machtübernahme steht im Mittelpunkt der Handlung des Star-Wars-Films „Die Rache der Sith“, der im Mai 2005 als sechster und letzter Film der Serie in die Kinos kam.
Wir haben den Klang der Zeitgeschichte im Ohr. Wenn wir diese Zitate lesen, dann hören wir sie auch. Wir kennen die Stimmen ihrer Urheber ebenso wie diejenigen vieler anderer Personen der Zeitgeschichte, von Adolf Hitler bis Willy Brandt. Daneben kennen wir auch den musikalischen Soundtrack des 20. Jahrhunderts, der spätestens seit den 1940er-Jahren vornehmlich von der Populärmusik geprägt wurde – von Lale Andersen und Elvis Presley über die Beatles und Jimi Hendrix bis hin zur Neuen Deutschen Welle und Michael Jackson. Wir wissen, wie sich Luftschutzsirenen anhören und wie Geschützdonner klingt. Wir können einen Radiosprecher der 1950er-Jahre schon anhand seiner Redeweise von einem Radiosprecher der 1980er-Jahre unterscheiden. Zeitgeschichte, so folgt daraus, ist uns nicht nur visuell präsent, über ikonische Motive aus dem „Jahrhundert der Bilder“ (Gerhard Paul), sondern ebenso auditiv. Alle die genannten Stimmen, Klänge und Geräusche rufen ein historisches Wissen in uns auf, sobald wir sie hören.
Im Juni/Juli 1976 wurde eine Air France-Maschine nach Entebbe (Uganda) entführt; dabei trennte ein deutsch-palästinensisches Terrorkommando die jüdischen von den nichtjüdischen Passagieren und behielt allein die jüdischen Geiseln in seiner Gewalt. Skizziert wird, welche Bedeutung den äußerst medienwirksamen Flugzeugentführungen der Jahre 1968–1977 im Kontext der Entwicklung des internationalen Terrorismus zukam. Vor allem anhand der Reaktionen auf den Sechstagekrieg von 1967 und die Entebbe-Entführung von 1976 wird gezeigt, dass das Verhältnis der deutschen Linken zum Staat Israel und zur NS-Vergangenheit entgegen früheren Annahmen ambivalent und problematisch blieb. Unter dem Deckmantel des Antiimperialismus schlug die Haltung der vorgeblich geschichtsbewussten ‚68er‘ zum Nahostkonflikt zeitweise in offenen Antisemitismus um.
„Die Seele im technischen Zeitalter“ war Arnold Gehlens meistverkauftes Buch. Von 1957 bis zu Gehlens Todesjahr 1976 erschienen 15 Auflagen mit insgesamt 106.000 Exemplaren. Die Abhandlung wird seitdem nicht nur zu den „Klassikern der Technikphilosophie“ gezählt, sondern gar zu den „Büchern, die das Jahrhundert bewegten“. Der Verkaufserfolg war dabei sicher auch der Tatsache geschuldet, dass das Buch nach einer ersten und kürzeren, 1949 unter dem späteren Untertitel „Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft“ erschienenen Fassung 1957 mit klangvollerem Obertitel und zusätzlichen Kapiteln in „rowohlts deutsche enzyklopädie“ aufgenommen wurde. Diese von Ernesto Grassi herausgegebene Reihe, in der unter anderem Hans Sedlmayrs „Revolution der modernen Kunst“, Ortega y Gassets „Aufstand der Massen“ und Margret Boveris „Verrat im 20. Jahrhundert“ erschienen waren, war eines der einflussreichsten Publikationsforen der 1950er-Jahre, so dass sich für diese Zeit von einer der späteren „Suhrkamp-Kultur“ vergleichbaren „rde-Kultur“ sprechen lässt.
1967 rückte der Palästinakonflikt in den Fokus der politischen Arbeit des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der diesen Konflikt im Zusammenhang mit den Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt deutete. Politischen Zuspruch erhielt der SDS von palästinensischen wie auch israelischen Studentengruppen, die in Frankfurt am Main ihr Wirkungszentrum hatten. Diese sich als antizionistisch verstehenden Akteure fanden in dem ebenfalls in Frankfurt sitzenden Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland (BJSD) einen Kontrahenten. Die Präsenz dieser zentralen Protagonisten transformierte das studentische Milieu im Frankfurter Westend zum bundesrepublikanischen Nukleus eines Deutungskampfes um die Geschehnisse im Nahen Osten. Eine sabotierte Veranstaltung mit dem israelischen Botschafter Asher Ben-Natan im Frankfurter Hörsaal VI am 9. Juni 1969 dient dem Aufsatz als Beispiel, um diesen Konflikt zu historisieren. Neben schriftlichen Quellen stützt sich der Beitrag auf Bildmaterial des Frankfurter Fotografen Kurt Weiner.
In den heutigen »wissens- und technologieintensiven« Zeiten, so könnte man annehmen, drehen sich Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr um Immaterielles. Manche hoffen sogar, dass diese post-industrielle Revolution der Weltwirtschaft den Schub geben wird, den sie braucht, um weiterhin auf einem Wachstumspfad zu bleiben und – dieses kleine Detail bleibt oft unerwähnt – weiterhin eine asymmetrische Verteilung von Produktivität und Einkommen sicherzustellen. Warum sollte sich also ein Themenheft der »Zeithistorischen Forschungen« ausgerechnet jetzt mit dem »Wert der Dinge« beschäftigen, wo diese doch gerade zusammen mit der industriellen Produktion an Bedeutung zu verlieren scheinen? Gewählt haben wir dieses Thema nicht primär aufgrund der Konjunktur, welche die dinglichen Dimensionen der Vergangenheit momentan in der Geschichtswissenschaft genießen, sondern eben aufgrund der Rede vom Bedeutungsverlust des Materiellen. Sie macht es notwendig, den vermeintlichen Gegensatz zwischen Dingen und Menschen oder zwischen Stoffen und Gedanken neu zu fassen.
Der Western im Osten. Genre, Zeitlichkeit und Authentizität im DEFA- und im Hollywood-Western
(2004)
„Die Söhne der großen Bärin“ (1966) war der erste von insgesamt 13 Westernfilmen der DEFA. Die Resonanz des DDR-Publikums war überwältigend – ähnlich wie bei den Karl-May-Verfilmungen in der Bundesrepublik. Der Anspruch der DEFA lautete, „Abenteuerfilme in historischem Gewand“ zu zeigen. Durch geschichtliche Korrektheit wollte man den Gründungsmythos der USA, der im Filmgenre des Western massenmediale Verbreitung erfahren hatte, und auch das tagespolitische Geschehen kritisch kommentieren. Bei einem Vergleich des DEFA-Films „Ulzana“ (1974) und der US-Produktion „Broken Arrow“ (1950), die beide Authentizität reklamierten, wird deutlich, wie an Konventionen von Filmgenres angeknüpft und zugleich durch eine Fiktion von historischer Realität versucht wurde, diese Konventionen zu überwinden. Der Aufsatz untersucht, ob und inwieweit die DEFA-Produktionen das Genre Western ästhetisch und inhaltlich umwandelten.
Destination Vergangenheit. David Lowenthals Panorama geschichtskultureller Aneignungen (1985/2015)
(2021)
»The Past is a Foreign Country« ist ein Zentralmassiv der Heritage Studies, der Cultural and Historical Geography und der Public History. Das 1985 erschienene Buch nimmt populäre Zugänge und Formen der Bewahrung und Repräsentation der Vergangenheit in den Blick; dabei spannt es den Bogen von der Gegenwart bis zurück in die Renaissance. Lowenthal zitiert mit seinem Titel den britischen Schriftsteller Leslie Poles (L.P.) Hartley (1895–1972), der seinen Roman »The Go-Between« (1953) mit den Worten begann: »The past is a foreign country; they do things differently there.« Schon die Umschlagbilder legen eine Reise in ferne Vergangenheiten nahe und wecken zugleich den mit dem (Geschichts-)Tourismus verbundenen Exotismus, der aus dem Fremden ebenso wie aus dem Vergangenen das unberührt-unverfälscht Natürliche und Authentische macht. Die Destinationen, die Lowenthal bei seiner Reise in vergangene Geschichtskulturen aufsuchte, lagen vor allem im Vereinigten Königreich, in Nordamerika und im westlichen Europa. Das Buch durchzieht die These, dass alle populären Versuche, die Vergangenheit möglichst authentisch zu bewahren, zu rekonstruieren, darzustellen oder wahrzunehmen, auf die eine oder andere Weise zum Scheitern verurteilt sind, dass sich aber gerade aus der Formbarkeit der Vergangenheit ihre identitätsbildende Kraft erschließt.
Die zeitgeschichtliche Forschung hat sich erst vor kurzem den 1970er-Jahren zugewandt. In der öffentlichen Erinnerung ist dieses Jahrzehnt hingegen sehr präsent, wie sich an Erfolgsbüchern wie Florian Illies’ „Generation Golf. Eine Inspektion“ und „Generation Golf zwei“ (München 2000/03 u.ö.) oder jüngst an den Debatten um den „Deutschen Herbst“ 1977 und seine Folgen gezeigt hat. Besonders in der Populärkultur - Mode, Musik, Möbel etc. - erfreuen sich die 1970er-Jahre (zumindest in Deutschland) großer Beliebtheit; man kann geradezu von einer „Retrowelle“ sprechen. Während diese Dekade aus Sicht der Geschichtswissenschaft vor allem eine Zeit der Krisen und beginnenden Transformationen darstellt, erscheint sie im alltäglichen Geschichtsbewusstsein eher als buntes Experimentierfeld unterschiedlicher Lebensstile und als eine Phase vergleichsweise gesicherten Wohlstands.
Die Aktualität der Antiquiertheit. Günther Anders’ Anthropologie des industriellen Zeitalters
(2006)
Der Titel von Günther Anders’ philosophischem Hauptwerk, das vor 50 Jahren erschienen ist, macht es leicht, die historische Distanz, die uns heute von diesem Buch trennt, mit seinem eigenen Begriff zum Ausdruck zu bringen: Die „Antiquiertheit des Menschen“ erscheint heute selbst in vielerlei Hinsicht antiquiert. Anders’ „Gelegenheitsphilosophie“ (S. 8) blieb auf spezifische Weise an die Gelegenheit ihres Entstehens gebunden. Seine Studie „über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution“, so der Untertitel, ist damit zugleich ein Dokument der Zeitgeschichte und der Biographie ihres Autors. Als solches enthält sie aber auch Anregungen für die Zeitgeschichtsforschung, die durchaus noch aktuell sind.
Sowohl der Aufstieg der christlichen Rechten in den USA als auch der 11. September 2001 und seine Folgen haben erneut gezeigt, dass Religion und Politik keine Dichotomien darstellen, sondern vielfach miteinander verflochten sind. Das für die Erklärung dieses Sachverhaltes eminent wichtige Konzept der „Zivilreligion“ ist aber bislang hauptsächlich in den USA diskutiert worden und gerade von HistorikerInnen (sträflich) vernachlässigt worden. Wir plädieren im Folgenden für eine „offenere“ Definition von Zivilreligion sowie für eine intensivere Nutzung des Konzepts, um Phänomene des Religiösen im Politischen zu erklären sowie Politik-, Kultur- und Kirchengeschichte stärker miteinander zu vernetzen.
Als die im April 2006 mit 89 Jahren verstorbene Stadtforscherin Jane Jacobs im Oktober 2004 für einen letzten Vortrag in ihre ehemalige Heimatstadt New York zurückkehrte, bereitete ihr das Publikum einen großen Empfang. Fast die gesamte Urbanisten- und Planungsprominenz der Stadt war erschienen und feierte die 1968 nach Kanada ausgewanderte „Grande Dame“ der nordamerikanischen Stadtforschung mit stehenden Ovationen. Einer Einladung des New Yorker City Colleges folgend, war sie gekommen, um die Auftaktrede für eine neue Vorlesungsreihe zu Ehren Lewis Mumfords zu halten, der an dem besagten College im Norden Manhattans studiert hatte. Es war, als schlösse sich ein Kreis: Jacobs’ Karriere hatte 1961 mit der Publikation ihres Erstlingswerks „Death and Life of Great American Cities“ in New York ihren Anfang genommen; der Inhalt dieses Buchs verwickelte sie dann in einen Jahre andauernden Streit mit Mumford. Am Ende ihres Schaffens angelangt, entschied sie sich als erste Referentin der zu Mumfords Ehren eingerichteten Vorlesungsreihe, in New York ihren alten Gegenspieler zu würdigen. Bedeutungsschwer war Jacobs’ Auftritt aber auch deshalb, weil er zum Ausdruck brachte, wie sehr sich das Verhältnis zwischen der Planungskritikerin Jacobs und der planenden Zunft in den USA über die Jahrzehnte geändert hatte. Zu Beginn ihrer Karriere wegen ihrer mangelnden akademischen Ausbildung in der von Männern dominierten Profession noch als „Hausfrau“ belächelt, stieg Jacobs innerhalb weniger Jahre zu einer der meistbeachteten Persönlichkeiten der amerikanischen Stadtforschung auf. Jacobs’ Bedeutung als Kritikerin modernistischer Planungsexzesse und Mitbegründerin eines neuen Verständnisses städtischer Entwicklung und Planung ist Grund genug, sich ihres ersten und wohl wichtigsten Werks erneut zu widmen - dem Essay „Death and Life of Great American Cities“, der in einem deutschen Nachruf auf Jacobs als „urbanistische Bibel des späten 20. Jahrhunderts“ bezeichnet wurde.
Wie haben sich die Perspektiven auf die NS-Zeit seit 1989/90 verändert? Nach einem knappen Rückblick auf die „historiographische Systemkonkurrenz“ in der Ära des Kalten Krieges werden zunächst wichtige Blickerweiterungen skizziert, die bereits vor 1989/90 einsetzten: die wachsende Aufmerksamkeit für alltagsgeschichtliche Zusammenhänge sowie vor allem für die Verfolgung und Ermordung der Juden. Die Zäsur von 1989/90 brachte für die NS-Forschung einen zusätzlichen Schub, weil sie die Bedeutung von Akteuren in historischen Entscheidungssituationen nachhaltig in den Vordergrund rückte. Der Aufsatz erläutert darüber hinaus drei Stränge der aktuellen NS-Forschung: Ansätze einer integrierten Geschichte, die eine dichotomische Betrachtung von Opfern und Tätern überwinden; die Europäisierung und Globalisierung nicht nur der Erinnerungspolitik, sondern auch der wissenschaftlichen Arbeiten zur NS-Zeit; sowie das übergreifende Phänomen einer verstärkten Medialisierung von Geschichte.
Die revolutionären Ereignisse in den europäischen Hauptstädten Anfang 1848 besiegelten das Schicksal der Ancien régimes. Dies gilt mit Einschränkungen bereits für das Vorspiel der europäischen Revolution von 1848/49, den kurzen Schweizer Bürgerkrieg, der als Sonderbundkrieg in die Geschichte einging: Mit dem Einmarsch der Truppen der Schweizer Mehrheitskantone am 24. November 1847 in Luzem, der neben Zürich und Bern dritten Schweizer Hauptstadt, im Krisenjahr politisches Zentrum der separierten sieben konservativ-'jesuitischen' Minderheitskantone, fand der Sonderbundkrieg faktisch sein Ende. Uneingeschränkt gilt dies für den italienischen Auftakt der europäischen Revolution sowie die Februar- und Märzrevolutionen: Der Aufstand in der sizilianischen (Provinz-)Hauptstadt Palermo Mitte Januar und Massendemonstrationen in Neapel Ende Januar 1848 zwangen den König beider Sizilien, Ferdinand II., eine Verfassung zu gewähren und damit vorübergehend den Übergang zu einer konstitutionellen Monarchie zu vollziehen. Nach Kämpfen am 22. und 23. Februar in Paris wurde am 24. Februar der Bürgerkönig Louis Philippe aus der französischen Hauptstadt vertrieben und Frankreich zur Republik erklärt. Die Ereignisse in Wien am 13. und 14. März und die Barrikadenkämpfe vom 18. März in Berlin machten aus den beiden deutschen Hegemonialmächten konstitutionelle Monarchien. Am 15. März begann mit großen Demonstrationen und der Konstituierung eines ,Komités der öffentlichen Sicherheit' in Buda-Pest - friedlich - die erste Phase der ungarischen Revolution. Der Mailändische Aufstand vom 18. bis 22. März und die Revolution in Venedig am 22. März hatten zur Folge, daß ganz Norditalien vorübergehend die Herrschaft der Habsburger abschütteln konnte.
Die visuelle Überlieferung aus der Zeit der NS-Diktatur lässt sich nur interdisziplinär erforschen. Die fotografische Massenkommunikation, die im NS-Staat dem Propagan-daministerium unterstellt wurde, kann mit herkömmlichen zeithistorischen Methoden, aber auch mit dem kunstwissenschaftlichen Instrumentarium allein nicht umfassend erklärt werden. Qualitative Ansätze etwa der Kommunikationswissenschaft bieten zusätzliche Möglichkeiten des Erkenntnisfortschritts – nicht zuletzt im Hinblick auf die private Fotografie. Im Paradigma der „Bildwissenschaft“ können sich die Kompetenzen der Einzeldisziplinen neu verbinden und zum differenzierten Verständnis der NS-Herrschaft einen wichtigen Beitrag leisten. Der Aufsatz skizziert zunächst die fotohistorische Erforschung der NS-Zeit seit den 1980er-Jahren. Gefragt wird dann nach der Überlieferungssituation in den Archiven und den Auswirkungen der Digitalisierung. Eine zentrale These lautet dabei, dass sich das Problem der bisher oft mangelhaften Klassifizierung und Erschließung von Fotomaterial durch dessen digitale Zirkulation weiter verschärft.
Mit keinem anderen Bild verbindet sich der Schrecken des Vietnamkrieges und der Schrecken des Krieges im Allgemeinen so sehr wie mit dem Foto des Mädchens Kim Phúc. Die Aufnahme machte der vietnamesische Fotograf Nick Ut am 8. Juni 1972 in der Nähe des Dorfes Trang Bang. Sein vielfach ausgezeichnetes Bild wurde zu einer zentralen Ikone des 20. Jahrhunderts. Als solche führt sie im kollektiven Gedächtnis mittlerweile ein eigenes Leben und konstituiert eine Wirklichkeit, die mit der ursprünglich abgebildeten nur noch wenig gemein hat. Immer wieder ist das Bild politisch, kommerziell und religiös funktionalisiert und in neue Kontexte gestellt worden. Der Aufsatz rekonstruiert die politischen und medialen Zusammenhänge, in denen das Bild entstand. Zugleich verfolgt er den jedem großen Krieg nachfolgenden Prozess der Überzeichnung und Überschreibung der ursprünglichen Bilder sowie der mit wachsendem Zeitabstand zunehmenden Legenden- und Mythenbildung.
Ein stärkerer Dialog, ja eine Zusammenarbeit zwischen der europäischen und der außereuropäischen Zeitgeschichte ist dringend notwendig. Hierfür ist die Geschichte der einzelnen Weltregionen im 20. Jahrhunderts zu verwoben und geprägt von globalen Krisen, weltweiten kulturellen Strömungen und sozioökonomischen Strukturen. Allerdings sehe ich die Notwendigkeit einer solchen Kooperation weniger darin begründet, dass - wie es der Einleitungstext in Anknüpfung an Fernand Braudel formuliert - Europa beständig über seine Grenzen hinausgegriffen“ habe. Dies klingt, als ob sich Europa vor allem deswegen mit dem Rest der Welt beschäftigen müsse, da es diesen nachhaltig geprägt habe. Die Sichtweise, dass Europa vornehmlich als Kolonialmacht und modernisierende Schockwelle mit anderen Erdteilen in Berührung kam, sollte neu überdacht werden.
So viel Krise war lange nicht. Spätestens die erstaunliche Geschwindigkeit, mit der im Herbst 2008 astronomische Summen zur Stützung des internationalen Bankensystems mobilisiert wurden, machte offensichtlich, dass es sich diesmal nicht um einen letztlich sektoral oder regional begrenzten Einbruch der Finanzmärkte und Aktienkurse handelte wie bei der „Asienkrise“ 1997/98 oder beim Platzen der Dotcom-Blase im März 2000. Die wesentlich dramatischere öffentliche Wahrnehmung der Situation dürfte zum nicht geringen Teil die Undurchschaubarkeit jener „strukturierten Produkte“ reflektieren, die aus amerikanischen Immobilienspekulationen für jedermann zunächst eine weltumspannende Banken-, sodann eine allgemeine Wirtschaftskrise gemacht haben, deren Ende trotz der Erholungssignale der Finanzmärkte keineswegs ausgemacht ist.
Am 2. Oktober 1985 tagte der Unterausschuss für Sicherheit und Terrorismus des US-Senats anlässlich eines ebenso ungewöhnlichen wie aktuellen Themas: Es ging um die wachsende Zahl so genannter Söldnerschulen und paramilitärischer Ausbildungscamps auf amerikanischem Boden. Am Rande diskutierten die Senatoren über die Verbreitung von Publikationen, die das Söldnerleben glorifizierten. Der demokratische US-Senator Patrick Leahy aus Vermont äußerte sich besorgt über die Entstehung einer »zusammenhängenden Söldnerbewegung«: Bei einigen Mitgliedern dieser Szene möge es sich zwar um »übergewichtige Wochenendkrieger« handeln, doch andere seien »gefährliche Individuen« verschiedener Herkunft und Affiliation – oder US-Bürger, die durch ihre Aktivitäten außenpolitische Schäden verursachten. Die Anhörung war nur eine von mehreren parlamentarischen Untersuchungen, die sich seit Mitte der 1970er-Jahre mit dem Söldnerproblem der USA beschäftigten. Zugleich häuften sich Zivilklagen gegen Söldnerzeitschriften, Anti-Söldner-Komitees von besorgten Bürgern und journalistische Enthüllungsstories. Dies alles waren Reaktionen auf ein Phänomen, das der Autor Peter Tickler als »obsessive amerikanische Begeisterung für den Lebensstil des Söldners« beschrieb.
Weltweit ist wohl kaum eine Schützenwaffe so verbreitet und hat einen derart legendären Ruf wie „die Kalaschnikow“. Der nach seinem Konstrukteur Michail Timofejewitsch Kalaschnikow benannte Maschinenkarabiner AK-47 (Автомат Калашникова образца 47) bildete den Ausgangspunkt für eine ganze Familie automatischer Infanteriewaffen, die umgangssprachlich als „Kalaschnikow“ bezeichnet werden - seien es sowjetische Originale, Lizenzproduktionen oder illegale Nachbauten aus pakistanischen Dorfschmieden. Die Kalaschnikow ist auch rund 60 Jahre nach ihrer Einführung in die sowjetischen Streitkräfte aus dem weltweiten Gewaltgeschehen nicht wegzudenken. Mit je nach Schätzung insgesamt 50, 70 oder gar über 100 Millionen Exemplaren ist sie längst zum Synonym für Kleinwaffen geworden, mit denen Jahr für Jahr Hunderttausende Menschen getötet werden. In den im Schatten der Atombombe geführten „kleinen“ Kriegen ist die Kalaschnikow somit gleichsam zu einer kumulativen Massenvernichtungswaffe geworden. Ursächlich für ihre weite und andauernde Verbreitung war die Verbindung von einfach gehaltener Konstruktion mit einer relativ guten Schussgenauigkeit und hohen Zuverlässigkeit. Die Kalaschnikow funktioniert unter allen Gefechtsbedingungen, was sie zur bevorzugten Waffe für Kriege in der „Dritten Welt“ macht. Im vorliegenden Beitrag soll ein kurzer Überblick zur Geschichte und symbolischen Aufladung dieser Waffe gegeben werden. Auf den ersten Blick mag es befremden, eine Waffe als zeithistorische „Quelle“ vorzustellen, doch ist damit selbstverständlich keine Verherrlichung militärischer Technik und Gewalt beabsichtigt, sondern gerade ein kritischer Blick auf den militärischen, terroristischen und symbolischen Gebrauch einer Waffe, deren zeitgeschichtliche Bedeutung leider unbestreitbar ist.
Die Last der Vergangenheit
(2008)
Das übergreifende Thema dieser Debatte ist der ‚Dialog der Disziplinen‘. Die Gedächtnisforschung eignet sich besonders gut für einen solchen Dialog, denn sie ist selbst ja keine Einzeldisziplin, sondern ein Thema, in dem sich die Fragen vieler Disziplinen kreuzen. Die Neurowissenschaften, die Psychologie, die Psychoanalyse, die Soziologie, die Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft, die Politologie und nicht zuletzt die Geschichtswissenschaft sind in diesen Diskurs eingebunden. Die verstärkte Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung bedeutet für die Geschichtswissenschaft auch, dass sie sich in einer immer stärker ausdifferenzierten Medienlandschaft verorten muss. Die Ge-schichte ‚gehört‘ heute einer ständig wachsenden Gruppe von Sachwaltern - neben den Professoren auch den Politikern, den Ausstellungsmachern, den Geschichtswerkstätten, den Bürgerbewegungen, den Filmregisseuren, den Künstlern, den Tourismusveranstaltern, den Infotainern und den Eventplanern. Das heißt keineswegs, dass der Einflussbereich der Historiker schrumpfen würde - im Gegenteil: Sie werden bei allen Geschichtsprojekten dringend gebraucht, müssen sich aber daran gewöhnen, enger mit anderen Akteuren zusammenzuarbeiten. Die Auseinandersetzung mit Geschichte verlagert ihren Schwerpunkt von der Universität zum Kulturbetrieb und damit zur Logik des Marktes. Im Folgenden sollen zwei Themenbereiche angesprochen werden, die auf eine paradigmatische Weise im Spannungsfeld von ‚Geschichte‘ und ‚Gedächtnis‘ stehen: die Figur des ‚Zeitzeugen‘ und die Frage des Umgangs mit historisch belasteter Vergangenheit.