Historiographiegeschichte
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„Was nimmt sich dieser Amerikaner heraus, anzukommen und unsere Leichen aus den Wandschränken zu zerren?“, fragte „Le Monde“ am 1. Februar 1973 empört. Dieser unverschämte Amerikaner war der an der New Yorker Columbia-Universität lehrende 40-jährige Historiker Robert O. Paxton, und aus den Schränken zerrte er mit seiner Studie über Frankreich im Zweiten Weltkrieg die Leichen der Besatzungszeit. Das Werk, 1972 in den USA erschienen und ein Jahr später auch auf Französisch, löste eine erhebliche Kontroverse aus. Es war das richtige Buch zur richtigen Zeit: Nach einem Vierteljahrhundert der „unterdrückten Erinnerung“ an die „années noires“ der deutschen Besatzung wandte sich die französische Öffentlichkeit nach 1968 dem Thema verstärkt zu, und vermeintliche Gewissheiten fielen scheppernd in sich zusammen. Bereits in Marcel Ophuls’ für das Fernsehen produziertem Dokumentarfilm „Le Chagrin et la Pitié“ wurde der Mythos einer in der Résistance vereinten französischen Nation dekonstruiert. Vom Programmdirektor als zu schockierend empfunden, wurde der Film nicht ausgestrahlt. Als er 1971 in die Kinos kam, strömten die Menschen monatelang in die Vorstellungen. Auch in Literatur und Spielfilmen zeigte sich der Bruch mit den Repräsentationen der Vichy-Vergangenheit Anfang der 1970er-Jahre. In der Geschichtswissenschaft zweifelten neue Studien die vormals dominante (gaullistische und Pétain-verherrlichende) Interpretation der Geschichte Frankreichs im Zweiten Weltkrieg an. Warum war gerade Paxtons Buch dennoch eine „Revolution“?
Waren die Publikationen des Historikers und Auschwitz-Überlebenden Joseph Wulf umstritten, so war es auch seine Initiative für die Errichtung eines „Internationalen Dokumentationszentrums zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen“ in West-Berlin. Insbesondere der vorgesehene Standort im Haus der Wannsee-Konferenz von 1942 wurde 1966/67 über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus kontrovers diskutiert. Ein symptomatischer Teil dieses Streits war der erbitterte Briefwechsel zwischen Wulf und dem Berliner Propst Heinrich Grüber. Beide waren Verfolgte und Gegner des Nationalsozialismus gewesen, vertraten 1966/67 aber konträre Positionen; Grüber setzte sich dafür ein, die Wannsee-Villa weiterhin als Schullandheim zu nutzen. Der Aufsatz beschreibt den persönlichen Konflikt und interpretiert ihn vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit dem Nationalsozialismus Mitte der 1960er-Jahre. Die Haltung zu historischen Orten wie dem Haus der Wannsee-Konferenz war damals eine grundsätzlich andere als heute.
Wie haben sich die Perspektiven auf die NS-Zeit seit 1989/90 verändert? Nach einem knappen Rückblick auf die „historiographische Systemkonkurrenz“ in der Ära des Kalten Krieges werden zunächst wichtige Blickerweiterungen skizziert, die bereits vor 1989/90 einsetzten: die wachsende Aufmerksamkeit für alltagsgeschichtliche Zusammenhänge sowie vor allem für die Verfolgung und Ermordung der Juden. Die Zäsur von 1989/90 brachte für die NS-Forschung einen zusätzlichen Schub, weil sie die Bedeutung von Akteuren in historischen Entscheidungssituationen nachhaltig in den Vordergrund rückte. Der Aufsatz erläutert darüber hinaus drei Stränge der aktuellen NS-Forschung: Ansätze einer integrierten Geschichte, die eine dichotomische Betrachtung von Opfern und Tätern überwinden; die Europäisierung und Globalisierung nicht nur der Erinnerungspolitik, sondern auch der wissenschaftlichen Arbeiten zur NS-Zeit; sowie das übergreifende Phänomen einer verstärkten Medialisierung von Geschichte.
Die visuelle Überlieferung aus der Zeit der NS-Diktatur lässt sich nur interdisziplinär erforschen. Die fotografische Massenkommunikation, die im NS-Staat dem Propagan-daministerium unterstellt wurde, kann mit herkömmlichen zeithistorischen Methoden, aber auch mit dem kunstwissenschaftlichen Instrumentarium allein nicht umfassend erklärt werden. Qualitative Ansätze etwa der Kommunikationswissenschaft bieten zusätzliche Möglichkeiten des Erkenntnisfortschritts – nicht zuletzt im Hinblick auf die private Fotografie. Im Paradigma der „Bildwissenschaft“ können sich die Kompetenzen der Einzeldisziplinen neu verbinden und zum differenzierten Verständnis der NS-Herrschaft einen wichtigen Beitrag leisten. Der Aufsatz skizziert zunächst die fotohistorische Erforschung der NS-Zeit seit den 1980er-Jahren. Gefragt wird dann nach der Überlieferungssituation in den Archiven und den Auswirkungen der Digitalisierung. Eine zentrale These lautet dabei, dass sich das Problem der bisher oft mangelhaften Klassifizierung und Erschließung von Fotomaterial durch dessen digitale Zirkulation weiter verschärft.
Noch immer liegen NS- und Genozidforschung weit auseinander – und sind zugleich doch eng miteinander verbunden. Denn zum einen bildet der Holocaust für die Genozidforschung bis heute die Matrix der unterschiedlichsten Typologieversuche. Zum anderen gründet die These von der Singularität des Holocaust notwendig, obgleich meist nur implizit auf dem Vergleich mit anderen Massenmorden. Dennoch arbeiten beide Disziplinen bis heute vielfach nebeneinander her. NS-Forscher ignorieren die Forschungsergebnisse zu den übrigen Völkermorden im 20. Jahrhundert weitgehend und perpetuieren damit die Singularitätsthese durch den eigenen eingeengten, überwiegend nationalgeschichtlich-deutschen Horizont. Die zahlreichen Bücher zu Genoziden basieren hingegen oft auf einem Kenntnisstand des Holocaust, der aus den 1970er-Jahren stammt, und beziehen sich damit sich auf eine gänzlich veraltete Matrix, die wiederum die eigenen Schlussfolgerungen verzerrt.
Als das Institut für Zeitgeschichte 2005 ankündigte, dass es in Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv und dem Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg eine ambitionierte 16-bändige Quellenedition zur Geschichte des Holocaust starten werde, mögen manche Fachkollegen und interessierte Laien verwundert gewesen sein. Wie zeitgemäß kann ein solches Vorhaben noch sein – angesichts rasanter technischer Veränderungen und damit verbundener Möglichkeiten der Speicherung und Verbreitung von in den Archiven ‚eingelesenen‘ Akten? Demgegenüber lässt sich die Ansicht vertreten, dass die professionelle Durchführung eines derartigen Projekts längst überfällig war. Wie der Mitherausgeber Dieter Pohl treffend argumentiert hat, ist es trotz mancher Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte und ungeachtet aller Widrigkeiten zu einem Paradigmenwechsel gekommen – vor allem in der systematischen Erfassung des erhaltenen Materials durch die internationale Vernetzung verschiedener Forschungsgemeinschaften.
Walther Hofers Dokumentation über den Nationalsozialismus, erstmals im August 1957 erschienen, war bis zum Jahresende 1957 bereits mit 100.000 Exemplaren verkauft. Mit einer Gesamtauflage von über einer Million Exemplaren zählt sie bis heute zweifellos zu den Klassikern dieser Gattung. Der aus der Schweiz stammende Herausgeber lehrte damals an der Freien Universität Berlin; 1952 hatte er sich bei Hans Herzfeld mit einer diplomatiegeschichtlichen Studie über die „Entfesselung des Zweiten Weltkrieges“ habilitiert. Auf schmaler Quellengrundlage inmitten der Ruinen einer geteilten Hauptstadt verfasst, war diese Publikation, die 1954 als erster Band in der Schriftenreihe des Münchner Instituts für Zeitgeschichte erschien, ein mutiges Unterfangen, das den Ruf Hofers als eines NS-Experten begründete. 1960 wechselte er an die Universität Bern, wo er bis zu seiner Emeritierung 1988 den Lehrstuhl für Neuere Geschichte innehatte und sich als langjähriger Nationalrat der konservativen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (später: SVP) auch aktiv in der Politik betätigte.
Die zu keinem Zeitpunkt besonders exklusive Position der akademischen Zeitgeschichte in der Öffentlichkeit wird heute mehr denn je herausgefordert von außerakademischen Beiträgen zur Geschichtsschreibung. Das gestiegene wie auch pluralisierte Bedürfnis nach geschichtlicher Einordnung der Gegenwart findet in den populären Geschichtsformaten ganz offensichtlich eine breite Resonanz. Bei dieser Ausweitung spielen fundamentale politische, sozialgeschichtliche und kulturelle Entwicklungen eine Rolle, namentlich die Aufweichung der nationalgeschichtlichen und nationalkulturellen Rahmenbedingungen, unter denen die moderne Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung seit dem frühen 19. Jahrhundert entstanden waren. Im frühen 21. Jahrhundert verstehen sich vormals undiskutierte Bezugsrahmen einer solchen Geschichtsschreibung nicht mehr von selbst. Vielmehr muss zunehmend klargestellt werden, wer welche Art der Geschichte für welches Publikum darstellen will.
Die Deutung der jüngeren und jüngsten Vergangenheit liegt nicht allein in der Hand professioneller Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker, sondern ist ein hart umkämpftes Feld mit verschiedensten Akteuren. Das vorliegende Heft widmet sich diesem breiteren Feld der „populären“ Geschichtsschreibung aus unterschiedlichen Perspektiven. Welche Rolle spielt die „akademische“ Zeitgeschichte nun bei der Konstituierung von Geschichtsbildern und Geschichtserzählungen? „Akademisch“ mag wie ein abwertendes Signum klingen – unverständlich, im System Wissenschaft verfangen, vorbei am Publikum –, während es für den praktizierenden Akademiker eine Quelle seines Berufsethos sein dürfte (oder vielleicht der letzte Rettungsanker der Selbstlegitimierung). Strittig bleibt indes, was das „Fachwissenschaftliche“ genau ausmacht: Sind es bestimmte Mindeststandards, die ein Geschichtswerk erfüllen muss, um als „wissenschaftlich“ anerkannt zu werden, oder ist die „akademische“ Geschichtsschreibung im Wesentlichen durch eine (nicht allein fachspezifische) Forschungspraxis gekennzeichnet, die an strukturelle Bedingungen von Drittmittel- und „Exzellenz“-Projekten und akademische Moden gebunden ist sowie zu guter Letzt als „Abschlussbericht“ in Darstellung überführt werden muss?
Wie stellen sich aktuelle Tendenzen in der Zeitgeschichtsschreibung dar – im Vergleich mit dem auffällig gewachsenen Interesse literarischer Autoren für zeitgeschichtliche Themen? Welche Konvergenzen sind zu verzeichnen, und welche textsortenbedingten Differenzen bleiben? Sind die zeitgeschichtlichen Erzählmuster in diesem Umfeld vorwiegend konstant, oder gibt es strukturelle Veränderungen? Worauf lassen sich diese eventuell zurückführen?