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Vergangene Zukunft? Der russisch-ukrainische Krieg und die Rückkehr der modernen Zeiterfahrung
(2024)
Seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine überbieten sich die Prognosen über den Anbruch einer neuen (oder alten?) Zeit der Geopolitik. Es prägen die Sorgen des „Krieges in Europa“ beziehungsweise eines „Dritten Weltkrieges“, in dem sich die Kategorien des Westens und Ostens, der Demokratie und Diktatur (wieder) feindselig gegenüberstehen.
Die Bedrohungskulisse des Krieges suggeriert die Reaktivierung einer Zukunftsperspektive, die sich als genuin modern bezeichnen lässt: erstens und ganz banal, weil sich darin die moderne Geschichte des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts zu wiederholen scheint; zweitens aufgrund der wiedergewonnenen Bedeutung des historischen Ost-West-Konfliktes, die die bereits länger diskreditierte These eines postmodernen Endes der Geschichte nach 1989 endgültig archiviert; und schließlich, weil der Krieg einen Erwartungshorizont eröffnet, dessen Gestaltung allein in den Händen der Menschen – nicht Gottes, der Viren oder des Klimas – liegt und somit eine völlig menschliche „Machbarkeit“ der eigenen Geschichte voraussetzt.
Erleben wir aber wirklich eine Rückkehr der Moderne oder wie können wir die Zeiterfahrung sonst begreifen, die durch den Diskurs über den Krieg gerade ausgelöst wird? Ich möchte hier einige Überlegungen über diese Fragen zusammentragen, die mich in den letzten Tagen und Wochen begleitet haben.
Im Südafrika der 1950er-Jahre kam jede neue Ausgabe des Magazins »Drum« dem Öffnen eines Fensters zu einer anderen Welt gleich. Visuelle Repräsentationen vom urbanen Leben der Bevölkerungsmehrheit, von Kunst und Kultur, panafrikanischer Politik, aber auch von den Missständen in Südafrika waren in der offiziellen Bildwelt der 1950er-Jahre eine Sensation. Die 1951, drei Jahre nach Einführung der Apartheid als offizieller Regierungspolitik, zum ersten Mal erschienene englischsprachige Zeitschrift war daher revolutionär. Peter Magubane, einer der Fotojournalisten von »Drum«, bezeichnete die Redaktionsstube im Rückblick als eine Art Heterotopie innerhalb des segregierten Stadtraums: »›Drum‹ war eine andere Art von Zuhause, hier gab es keine Apartheid.«
Ein Foto von der US-amerikanischen Flaggenhissung auf der japanischen Insel Iwo Jima vom Februar 1945 entwickelte sich noch während des Zweiten Weltkrieges zu einer national mobilisierenden Ikone für letzte Kriegsanstrengungen. Nach dem Krieg betonte das US Marine Corps mit diesem Foto seine Leistungen und seine Eigenständigkeit. Ein Bronzedenkmal, das 1954 am Rande von Arlington eingeweiht wurde, war gleichsam die dreidimensionale Umsetzung des Fotos und Ausdruck des Selbstbewusstseins des Marine Corps. Dieser Beitrag geht der Konkurrenz nationaler Indienstnahme und sektoraler Interessen bis in die Gegenwart nach. Aufgezeigt werden die unterschiedlichen medialen Repräsentationen der Iwo-Jima-Geste und ihre wechselnden Bedeutungen – beispielsweise die fotografische Aktualisierung im Zusammenhang des 11. September 2001. So entsteht ein Panorama der nationalen Ikonographie der USA seit dem Zweiten Weltkrieg.
Sehnsucht nach einem stillen Land. Wie zwei Reporter der „ZEIT“ im Jahr 1979 die DDR darstellten.
(2009)
Die heutige Lektüre des Buches irritiert, so eigenartig und doch auch vertraut wirkt das vor 30 Jahren entworfene DDR-Bild. Die Texte und Fotos wurden zwischen Herbst 1978 und Sommer 1979 zunächst als einzelne Reportagen im „ZEIT“-Magazin veröffentlicht. Die Journalistin Marlies Menge und der Fotograf Rudi Meisel waren seit 1977/78 die ersten akkreditierten „ZEIT“-Korrespondenten in der DDR - und blieben es bis 1990. Der Hanser-Verlag brachte sieben dieser Beiträge als großformatigen Bildband heraus. Meisel erhielt dafür 1979 den Kodak-Fotobuchpreis.
Nach 1989/90 wurde kriegerische Gewalt innerhalb Europas auf neue Weise zum Thema und gerade auch für Intellektuelle zu einer unerwarteten Herausforderung. Die Diskussion unter deutschsprachigen Schriftstellern über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien war hauptsächlich eine Debatte um Peter Handke. Sie fungierte als eine Art Stellvertreterdebatte, während engagierte politische Interventionen deutscher Literaten meist ausblieben. In seinen kontroversen Texten seit 1996 versuchte Handke einen ‚dritten‘ Standpunkt jenseits der zweiwertigen Logik des politischen Diskurses in den Medien zur Geltung zu bringen. Dennoch tendierte sein ‚poetischer‘ Blick auf Serbien zunehmend zur politischen Parteinahme, wie etwa seine Annäherung an den in Den Haag angeklagten serbischen Präsidenten Miloševic zeigt. Obwohl seine Sprache eine Alternative zum ‚herrschenden‘ medialen Diskurs suchte, wurde sie wie die Figur ‚Peter Handke‘ letztlich von den Regeln der politischen Öffentlichkeit absorbiert.
Der koloniale Blick auf Osteuropa. Der Auftritt von Harald Welzer als Symptom deutscher Schieflagen
(2024)
Am 8. Mai 2022 war in der Talkshow von Anne Will der Krieg Russlands gegen die Ukraine Thema. Die Gäste waren der Generalsekretär der SPD Kevin Kühnert, der ehemalige CDU-Politiker Ruprecht Polenz, der Botschafter der Ukraine in Deutschland Andrij Melnyk, die Fraktionsvorsitzende der Grünen Britta Haßelmann sowie der Soziologe/Sozialpsychologe Harald Welzer. Jede Einladungsliste einer Talkshow folgt einer bestimmten Logik: Es sollen konträre Positionen aufeinandertreffen und Repräsentant:innen aus Medien, Gesellschaft und Politik und (manchmal) der Wissenschaft vertreten sein. Auf den ersten Blick könnte man also sagen, dass diese Runde durchaus gut gewählt war mit Stimmen bei denen es absehbar war, dass die Debatte kontrovers werden würde. Tatsächlich aber war die Rollenzuweisung Welzers von vorneherein problematisch: Er ist zwar zweifelsohne ein ausgewiesener Wissenschaftler, der mit "Opa war kein Nazi" auch für die Geschichtswissenschaft ein wichtiges Buch vorgelegt hatte, Osteuropa-Expertise besitzt Welzer hingegen nicht.
Der vorliegende Aufsatz analysiert, wie die aus damaliger und heutiger Sicht unerwartet große Flüchtlingshilfe gegenüber den vietnamesischen »Boat People« aufkam und ihre starke Dynamik gewann. Untersucht wird, welche Rolle zivilgesellschaftliche Gruppen, die staatliche Bürokratie, politische Parteien sowie Medien dabei spielten und wie diese bei der konkreten Aufnahme von Flüchtlingen interagierten. Dabei wird erstens gezeigt, dass anfangs vor allem öffentlicher Druck die sozialliberale Regierung zu einer Aufnahme der Indochina-Flüchtlinge bewegte, sich dann aber zivilgesellschaftliches und staatliches Handeln wechselseitig ergänzten. Das zweite Argument lautet, dass der öffentliche Druck insbesondere durch mediale Kampagnen und durch christdemokratische Initiativen aufkam, die entschieden für die Aufnahme der Flüchtlinge eintraten. Eine wichtige Rolle spielte dabei, so die dritte These, dass die »Boat People« diskursiv mit der deutschen Nachkriegsgeschichte verbunden wurden – speziell mit der Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Viertens zeigt der Aufsatz, wie Techniken der Flüchtlingsaufnahme und neue Formen humanitärer Hilfe entstanden, die sich als zivilgesellschaftlicher und bürokratischer Wandel interpretieren lassen.
Elektronisches Publizieren und online verfügbare Quellenbestände haben die Geschichtswissenschaft verändert. Gesunkene Zugangshürden und einfache Suchmöglichkeiten beschleunigen den Blick in Quellen sowie Literatur und verbreitern die empirische Basis. Programme zum Bibliographieren, Recherchieren und Exzerpieren ersetzen den Zettelkasten, strukturieren unser Wissen neu und vereinfachen den Blick über geographische und disziplinäre Grenzen hinaus. In der Geschichtswissenschaft viel weniger bekannt sind dagegen Möglichkeiten zur Untersuchung großer Textkorpora mittels computerlinguistischer Methoden. Solche Forschungen versuchen qualitative und quantitative Analyseschritte miteinander zu verbinden. Dieser Sprung von der »digitalisierten« zu einer »digitalen« Geschichtswissenschaft, die algorithmische Analyseverfahren methodisch innovativ nutzt und reflektiert, ist längst noch nicht vollzogen.
Fotohistorikerinnen und -historiker – deren Perspektive auch diese Rezension folgt – machen seit vielen Jahren darauf aufmerksam, dass die Geschichtsschreibung des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts Bildquellen in die historische Analyse einbeziehen muss. Wie Fotografien politik-, sozial- und kulturgeschichtliche Prozesse in der Vergangenheit mit gestaltet haben, kann man seit den 1980er-Jahren in den Fachzeitschriften „Fotogeschichte“ und dem „Rundbrief Fotografie“, in unzähligen Monografien und Tagungsdokumentationen, seit einigen Jahren auch in geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften wie den „Zeithistorischen Forschungen“ und nicht zuletzt an dieser Stelle nachlesen. Nun legt Annette Vowinckel eine fotohistorische Studie vor, die ausdrücklich nicht von den Fotos ausgeht, sondern „von den Handlungen, deren Ziel und Inhalt die Produktion und Zirkulation von Bildern ist“ (S. 15).
Mit Stalins „Revolution von oben“ seit 1928 und dem Beginn der Fünfjahrespläne wandte sich die UdSSR von Europa ab. Während die Bolschewiki im Jahrzehnt nach ihrer Machtübernahme Europa revolutionieren wollten, erklärten sie nun die radikale Umgestaltung des eigenen Landes zur Priorität. Um die verschiedenen Nationen und Ethnien des Vielvölkerreiches für den „Aufbau des Sozialismus“ zu mobilisieren, bediente sich der Propagandastaat seit 1935 der Metapher der „Großen Freundschaft“ der sowjetischen Völker. Seit Ende der dreißiger Jahre betonte die Propaganda außerdem die Vorreiterrolle des russischen Volkes - seine Verdienste um die Revolution und seine historischen Leistungen in der Staatsbildung erhoben es zum primus inter pares, zu dem die kleineren Brudervölker der UdSSR in „Liebe und Dankbarkeit“ aufblicken sollten. Der Diskurs der Völkerfreundschaft war Bestandteil eines bolschewistischen Nationalismus, der die politische Kultur der Sowjetunion bis zu ihrem Ende prägte und die russische Gesellschaft bis in die Gegenwart beeinflusst.