1900-1945
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Atomisierung, Entmündigung, Zwangsorganisation. Arbeitsrecht und Arbeitsverfassung im Dritten Reich
(2013)
Die Arbeitsverfassung des Dritten Reiches zielte in ihrem Kern auf die "vollkommene Atomisierung der deutschen Arbeiterklasse", so der sozialdemokratische Politikwissenschaftler Franz Leopold Neumann 1942 in seinem berühmten "Behemoth". Und in den Deutschland-Berichten der SOPADE hieß es bereits 1935: "Das Wesen der faschistischen Massenbeherrschung ist Zwangsorganisation auf der einen, Atomisierung auf der anderen Seite." Atomisierung und eine zugleich repressive wie sozialpaternalistische Integration der Arbeitnehmerschaft in eine rassistisch definierte "deutsche Volks- und Leistungsgemeinschaft" - in diese Formel lassen sich auch die Grundintentionen fassen, nach denen das NS-Regime die neue Arbeitsverfassung und ebenso das Arbeitsrecht zu strukturieren versuchte. Was aber heißt dies konkret? Wie erfolgreich waren das Hitler-Regime und die nationalsozialistischen Arbeitsrechtler bei der Verwirklichung dieser Ziele? Zu diskutieren ist in diesem Zusammenhang außerdem, ob (und inwieweit) sich die Arbeitsmarktkonstellationen, (sonstige) Tarifverhältnisse und innerbetriebliche Sozialbeziehungen auf Dauer überhaupt autoritär-zentralistisch regulieren lassen.
Die Strukturen wie die Ressourcenkonstellationen in der Wissenschaftslandschaft 1930 bis 1945 sind wesentlich durch vier Aspekte charakterisiert: (1.) durch den Primat der Kriegsrelevanz, (2.) durch eine institutionelle, vorgeblich polykratische Zersplitterung, der reichsdeutschen Wissenschaftslandschaft - die ihrerseits den Hintergrund für das von der älteren Historiographie aufgestellte Diktum der vermeintlichen Ineffizienz der Forschung während des "Dritten Reiches" abgab - , (3.) durch eine doppelte Ressourcenverschiebung innerhalb des Gesamtkomplexes der Wissenschaften und (4.) durch die Expansion der reichsdeutschen Wissenschaften auf dem Rücken der Wehrmacht ab 1938.
Bürgertum, Revolution, Diktatur - zum vierten Band von Hans-Ulrich Wehlers "Gesellschaftsgeschichte"
(2004)
Auch der vierte Band der "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" Hans-Ulrich Wehlers übet den Zeitraum 1914 bis 1949 ist zweifelsohne eine große Leistung: Die kaum zu überblickende Forschung zum Ersten Weltkrieg, zur Weimarer Republik, zum "Dritten Reich" und zur unmittelbaren Nachkriegszeit hat der Nestor der Bielefelder Schule wenigstens zum größten Teil rezipiert und zu einer lesbaren, in manchen Teilen prägnant formulierten Synthese zusammengefasst.
Das in seinen quantitativen wie qualitativen Dimensionen bereits von den Zeitgenossen oft unterschätzte Wirtschaftsimperium der "Deutschen Arbeitsfront" (DAF) ist als Untersuchungsgegenstand an den Schnittstellen von Wirtschafts-, Politik- und Sozialgeschichte angesiedelt. Der folgende Beitrag knüpft dabei an die nicht zuletzt von Hans Mommsen aufgeworfene Frage an, in welchem Verhältnis Nationalsozialismus und Modernität bzw. Modernisierung standen. Die gewerkschaftsnahen Genossenschaften und Unternehmen bildeten traditionell bis 1933 zentrale Klammern für den Zusammenhalt der sozialistischen Milieus. Von der DAF im Frühjahr 1933 geraubt und dann zu einem gigantischen Konzern ausgebaut, führt deren Indienstnahme auf ein weiteres Grundproblem der NS-Forschung, das Ausbleiben eines Massenwiderstands gegen die NS-Diktatur, hin, das neben Tim Mason, Detlev Peukert und anderen ebenfalls Hans Mommsen wiederholt diskutiert hat: Warum hat sich gegen die NS-Diktatur kein Massenwiderstand formiert?
Wenn Historiker/innen das NS-Regime als „charismatische Herrschaft“ bezeichnen, dann legen sie ihren Ausführungen explizit oder implizit ein Modell zugrunde, das der deutsche Soziologe Max Weber entwickelt hat. Rüdiger Hachtmann stellt das Modell vor und zeigt die Grenzen und Defizite des Idealtypus „charismatische Herrschaft“ sowie seiner Anwendung auf die NS-Herrschaft auf, würdigt zugleich aber auch Webers Verdienste. Ausgelotet wird schließlich, inwieweit die Forschung daran in der Zukunft anschließen kann.
Die Liste der Wohltaten, mit denen die Deutsche Arbeitsfront (DAF), die mitgliederstärkste und finanzkräftigste Massenorganisation des Dritten Reiches mitsamt ihrer wichtigsten Suborganisation, der NS-Gemeinschaft "Kraft durch Freude" (KdF) das deutsche Volk zu erfreuen gedachte, ist lang. Es kann als bekannt vorausgesetzt werden, dass die DAF mit KdF die größte massentouristische Organisation des Dritten Reiches besaß, außerdem wie eine riesige Theater-, Konzert- und Unterhaltungsagentur fungierte, sich in größeren Dimensionen dem sozialen Wohnungsbau widmete, einkommensschwächeren 'Volksgenossen' den Erwerb eines erschwinglichen PKW in absehbarer Zeit versprach usw. usf. Diese Wohltaten wurden natürlich nicht uneigennützig gewährt oder in Aussicht gestellt. Im Folgenden interessiert der hinter ihnen stehende Eigennutz. Oder, um es paradox und im NS-Jargon zu formulieren: deren nationalsozialistischer 'Gemeinnutz', das 'volksgemeinschaftliche Gemeinwohl'-Konzept, die Prämissen und Zielsetzungen, die die DAF mit ihrer 'Dienstleistungspolitik' verfolgte.
'Rationalisierung' war als - meist höchst unbestimmtes - Schlagwort zwar keineswegs auf den industriellen Betrieb beschränkt, sondern fungierte besonders in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre als eine Art Zauberformel, die auch politisch-gesellschaftliche Probleme zu lösen vorgab. Materieller Kern (oder zumindest Ausgangspunkt) der Rationalisierungsdebatten der zwanziger und dreißiger Jahre waren jedoch zumeist spezifische Aspekte der innerbetrieblichen 'Modernisierung', namentlich die verschiedenen Formen und die spezifischen deutschen Probleme der Fließfertigung sowie - damit unmittelbar verknüpft - die (gleichfalls) aus den USA importierten 'wissenschaftlichen' Arbeits- und Zeitstudien, außerdem die verschiedenen Arbeitsbewertungssysteme. 'Fordismus' und 'Taylorismus' zielten in ihren verschiedenen Varianten nicht nur auf fertigungstechnische und arbeitsorganisatorische Veränderungen. Ihnen parallel lief eine neue Personalpolitik, spezifische Ausformungen der betrieblichen Sozialpolitik und (weitere) 'moderne Sozialtechniken'. Diese drei Problemkreise - fertigungstechnische, arbeitsorganisatorische und soziale 'Rationalisierung' - stehen deshalb nicht zufällig im Zentrum neuerer Untersuchungen.
'Rationalisierung' war als - meist höchst unbestimmtes - Schlagwort zwar keineswegs auf den industriellen Betrieb beschränkt, sondern fungierte besonders in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre als eine Art Zauberformel, die auch politisch-gesellschaftliche Probleme zu lösen vorgab. Materieller Kern (oder zumindest Ausgangspunkt) der Rationalisierungsdebatten der zwanziger und dreißiger Jahre waren jedoch zumeist spezifische Aspekte der innerbetrieblichen 'Modernisierung', namentlich die verschiedenen Formen und die spezifischen deutschen Probleme der Fließfertigung sowie - damit unmittelbar verknüpft - die (gleichfalls) aus den USA importierten 'wissenschaftlichen' Arbeits- und Zeitstudien, außerdem die verschiedenen Arbeitsbewertungssysteme. 'Fordismus' und 'Taylorismus' zielten in ihren verschiedenen Varianten nicht nur auf fertigungstechnische und arbeitsorganisatorische Veränderungen. Ihnen parallel lief eine neue Personalpolitik, spezifische Ausformungen der betrieblichen Sozialpolitik und (weitere) 'moderne Sozialtechniken'. Diese drei Problemkreise - fertigungstechnische, arbeitsorganisatorische und soziale 'Rationalisierung' - stehen deshalb nicht zufällig im Zentrum neuerer Untersuchungen.
In diesen Sätzen ist anschaulich und wie im Brennglas die zentrale Bedeutung der Wissenschaften für die Kriegführung zusammengefaßt. Darüber hinaus macht das Zitat deutlich, daß der Erste Weltkrieg eine Epochenschwelle markiert - für die Geschichte der Kriege, für die Geschichte der Wissenschaften und für die Geschichte des Verhältnisses beider zueinander. Dies heißt selbstredend nicht, daß die Wissenschaften für die älteren Kriege und in den älteren Kriegen keine Rolle gespielt haben. Sie blieben bis weit ins 19. Jahrhundert jedoch von eher untergeordneter Bedeutung. Das änderte sich mit Beginn der Hochindustrialisierung. Die Entwicklungen seit 1945, sowohl innerhalb der Wissenschaften als auch im Verhältnis von Wissenschaften und Militär zueinander, wiederum unterscheiden sich - allen personellen und auch organisatorisch-strukturellen Kontinuitäten zum Trotz - auf Grund eines völlig veränderten politisch-ökonomischen Kontextes von den Jahrzehnten zuvor so stark, daß es den Rahmen eines Aufsatzes sprengen würde, ihnen gleichfalls nachzugehen. Der Schwerpunkt des folgenden Beitrages liegt deshalb auf dem Zeitraum zwischen 1880 und 1950.
Der Aufsatz leistet anhand des deutschen Beispiels einen Beitrag zur historischen Analyse von Ordnungsmodellen des 20. Jahrhunderts. Dem Schlagwort „Fordismus“ sollen mit Blick auf den Produktionsbereich schärfere Konturen gegeben werden. Zugleich wird der Akzent jedoch darauf gelegt, den Fordismus als Herrschaftstechnik in einem breiteren Sinne zu verstehen. Zunächst geht es um die Anfänge von Taylorismus und Fordismus sowie die Auswirkungen auf die Zusammensetzung der betroffenen Belegschaften, sodann um die Verbindungen des Fordismus mit unterschiedlichen politischen Systemen. Fordistische Elemente finden sich sowohl in demokratischen als auch in diktatorischen Kontexten. Diskutiert wird deshalb, wie fordistische, auf Rationalisierung und Effizienzsteigerung ausgerichtete Arbeitszusammenhänge die Macht- und Herrschaftsverhältnisse beeinflussten und welche Widerstandsformen sich entwickelten. Ein Ausblick richtet sich auf den so genannten Postfordismus, die „neuen Produktionskonzepte“ und die Frage nach der Zukunft des Fordismus.
Pathologie der Gesellschaft und liberale Vision. Ralf Dahrendorfs Erkundung der deutschen Demokratie
(2004)
Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ ist in besonderer Weise von den Umständen der noch jungen Bundesrepublik geprägt; das Werk gehört „heute selber zur Frühgeschichte dieses Staates und seiner Gesellschaft“. Der Soziologe Dahrendorf (geb. 1929) hatte eine Zeitdiagnose in nationalpädagogischer Absicht und mit sozialliberalem Impetus verfasst - „politischer Traktat, Einführungsvorlesung und Theorie der Demokratie“ in einem. Seine Untersuchung war „ein Plädoyer für das Prinzip der liberalen Demokratie“ (S. 27). In der Trias von historischer Erklärung, soziologischer Analyse und engagierter politischer Theorie bleibt „Gesellschaft und Demokratie“ bis heute eine Ausnahme und kann wirkungsgeschichtlich kaum überschätzt werden.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schien eine europäische Neuordnung im Sinne internationaler Zusammenarbeit, gemeinsamer liberaler Werte und demokratischer Regierungsformen greifbar zu sein. Kaum jemand ahnte, wie rasch die ideellen Grundpfeiler des westlichen Modells, die US-Präsident Wilson in seinem 14-Punkte-Plan skizziert hatte, durch multiple Krisen erschüttert würden. Die Situation unterschied sich sehr deutlich von den epochalen Zäsuren der Jahre 1945 oder 1989, als die liberale Ordnung in Westeuropa eine historische Legitimation für sich beanspruchte. Nach 1918 zeichnete sich bald ab, dass kein Spielraum für eine selbstgewisse liberaldemokratische Verortung am „Ende der Geschichte“ vorhanden war. Anstelle einer Rückkehr zum optimistischen Fortschrittsparadigma drohte allenthalben Regression.
Die gleichberechtigte Einbeziehung von Frauen in Forschung und Lehre steht heute weit oben auf der politischen Agenda bundesdeutscher Wissenschaftspolitik. Primäres Ziel ist es gemäß dem sogenannten »Kaskadenmodell«, den Frauenanteil auf allen Karrierestufen in Forschung und Lehre demjenigen der Studierenden und Promovierenden anzugleichen. Dies sei, so das Bundesministerium für Bildung und Forschung, »nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit«. Gemischte Gruppen führten, »wenn sie geeignete Rahmenbedingungen vorfinden«, außerdem »zu besseren Forschungs- und Entwicklungsergebnissen« sowie »zu einer Erweiterung der Forschungsperspektive«. Das gelte auch »für die Berücksichtigung von Geschlechterfragestellungen als Forschungsgegenstand«. Ähnlich beschreibt die Europäische Kommission das Ziel ihrer Gleichstellungspolitik für Wissenschaft und Forschung.
Ganz im Freud’schen Sinne war die deutsche Sprache für Theodor W. Adorno das von Anfang an Vertraute, das vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus, der Erfahrung von Verfolgung und Exil sowie dem Wissen um die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden jedoch zum Unvertrauten wurde. Gerade deshalb, so könnte man meinen, hielt Adorno beharrlich am Ideal eigener, »authentischer« Sprachverwendung als Muttersprachler fest, als sei seine Sprache ein autonomer Bereich. Zugleich richtete sich seine Sprachkritik aber gleichsam »objektiv« auf den mit formelhafter Sprachverwendung einhergehenden gesellschaftlichen Erfahrungsverlust. Unter dieser spannungsreichen Doppelperspektive reflektierte Adorno sein Verhältnis zur deutschen Sprache und die Funktion von Sprache als Medium des Denkens in einer Vielzahl von Texten. Während in einigen davon das Deutsche als Muttersprache vor allem ein identitätsstiftendes Moment bedeutet und als biographische Klammer nach der Zäsur von Exil und Holocaust eine Verbindung zur Kindheit herstellt, steht einem solchen emphatischen Verständnis des Deutschen die Analyse entleerter, formelhafter Sprachverwendung in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft gegenüber. So deutet sich an, dass der Remigrant Adorno in der verwalteten Welt nach dem »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) in der deutschen Sprache sprachmächtig agieren konnte, während er zugleich einen allgemeinen Erfahrungsverlust konstatierte. Der Spannung, ja dem Changieren Adornos zwischen radikaler Sprachkritik einerseits und Idealisierung der deutschen Muttersprache andererseits möchte ich hier in fünf Schritten nachgehen.
Stress ist ein ubiquitärer Begriff – seine geschichtswissenschaftliche Erforschung aber hat erst begonnen. Der Aufsatz skizziert programmatisch die Genese und die Funktionen des Stresskonzepts im 20. Jahrhundert. Dabei wird Stress nicht in erster Linie als Syndrom und Krisenphänomen betrachtet, sondern als Deutungs- und Handlungsangebot westlicher Gesellschaften, die sich als instabil, wandelbar, innovativ und dynamisch begreifen. Die performative Kraft des Stresses als Modus gesellschaftlicher Selbstreflexion wird in vier historisch und systematisch aufeinander bezogenen semantischen Feldern untersucht: Stress als Regulations- und Anpassungsmodell, Stress als Prinzip der Wettbewerbsgesellschaft (mit engen Beziehungen zu Arbeit, Leistung und Erfolg), Stress als Zivilisationskritik (mit der stressfreien Gesellschaft als utopischem Gegenbild) sowie Stress als flexible Ökologie von Mensch-Umwelt-Verhältnissen. Dabei handelt es sich weniger um eine chronologische Ordnung als vielmehr um Deutungsvarianten, die in unterschiedlichen Verwendungskontexten aufkamen und sich im heutigen Stressbegriff überlagern.
Rezension: #LastSeen Bildatlas. Fotografische Überlieferung von Deportationen aus dem Reichsgebiet
(2023)
Als Online-Rechercheplattform zur Fotogeschichte der nationalsozialistischen Verfolgung präsentiert sich seit Mitte März 2023 das Projekt #LastSeen und setzt dabei eigene neue Maßstäbe. Auf der Landingpage der Webseite www.lastseen.org hat der:die Benutzer:in zunächst die Wahl zwischen dem Entdeckungsspiel und dem Bildatlas. Der vorliegende Text widmet sich ausschließlich dem Bildatlas sowie der historischen Einbettung und Präsentation der in ihm enthaltenen derzeit 406 Fotografien von Deportationen von Jüdinnen und Juden sowie von Sinti:zze und Rom:nja aus 32 Orten in den Jahren 1938 bis 1943
Das Blatt mit den großen Namen seiner Bildberichterstatter und dem Ruf seines letzten Chefredakteurs in der Weimarer Republik Stefan Lorant gilt bis heute als Keimzelle des modernen Bildjournalismus. Angaben zur Zeitschrift und zu ihrer Redaktion sind oft unvollständig oder falsch, in der nationalen und internationalen bildjournalistischen Literatur lebt sie jedoch beständig fort. Der Fotojournalist Tim N. Gidal prägte ein bis heute mächtiges Narrativ: „Die Photoreportage hatte 1929 bei der Münchner den entscheidenden Schritt zu einem klar umrissenen Selbstverständnis getan. Dasselbe gilt für den Photojournalismus als Ganzes.“ Der moderne Bildjournalismus begann nicht dort, wo Gidal und Lorant den „Paukenschlag“ hörten. Es entwickelte sich in der Forschung ein realitätsnäheres prozessuales Verständnis zu dessen Professionalisierung, die sich auf viele Beiträge berufen kann. Auch gingen die Untersuchungen zeitlich und räumlich über nationale Fokussierungen hinaus. Geblieben ist der Ruf der „Münchner Illustrierte Presse“, obwohl die Zeitschrift – abgesehen von den subjektiven Werturteilen Gidals und Lorants – wenig untersucht worden ist. Wurde die Illustrierte im Jahr 1929 wirklich aus einem „statischen […] etwas provinziell […] in ihrer Aufmachung noch phantasielosen“ Dasein geführt? Und wie würde ein Vergleich mit der auflagenstärkeren „Berliner Illustrirte Zeitung“ ausfallen?
Symbolisch für die menschliche Hoffnung auf eine sichere Landung schaut der kleine Hund in den Himmel (Abb. 1). In der „Parachutes-Number“ vom März 1937 brachte „Life“ einen dreiteiligen Bildbeitrag über den Fallschirmsport. Neben Titelbild und -story von Margaret Bourke-White wurde Agenturmaterial für den beim damaligen Publikum so beliebten „Thrill“ verwendet. Mit dem Bild vom deutschen Dachshund hinterließ Kurt Korff einen Nachweis seiner Beratungsarbeit für das amerikanische Magazin.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts stand Mathematikern, Naturwissenschaftlern und Ingenieuren eine Reihe von mathematischen Methoden (numerischen und graphischen Verfahren) sowie technischen Hilfsmitteln (Instrumente, Apparate, Maschinen, Tafelwerke) zur Verfügung, um exakte Lösungen bzw. Näherungslösungen für mathematische Probleme »ausrechnen« zu können, die im Zusammenhang mit ihrer wissenschaftlichen oder praktischen Arbeit auftraten. Ein genauerer Blick zeigt, dass um 1900 ein ganzer »Apparate- und Methoden-Zoo« zur Verfügung stand, dessen Klassifizierung – um im Bild zu bleiben – einen sehr kundigen »Apparate- und Methoden-Zoologen« erforderte, um die »Morphologie« und »Anatomie« der Apparate und deren »Physiologie« (in Bezug auf die informationsverarbeitenden Funktionen) zu überblicken. So gab es z. B. weit verbreitete Apparate und Methoden wie Rechenschieber und Planimeter, mechanische Rechenmaschinen, Multiplikations- und Logarithmentafeln oder das Runge-Kutta-Verfahren zur numerischen Lösung gewöhnlicher Differentialgleichungen, aber auch nur in Einzelexemplaren existierende Geräte, wie die im 19. Jahrhundert verschiedentlich entwickelten Gleichungswaagen.
What is striking about recent research on residential care is not only its national bias and its tendency to neglect regional variations in ‘texture’, but also its preoccupation with contemporary issues and its lack of historical context. The notion of contingency, that is, the idea that things might have evolved differently, often seems to be missing. Moreover, most of the literature appears to be one-dimensional, downplaying the diversity, complexity and ambiguity of real developments. It often lacks an awareness of the power of precedents in shaping society’s attitudes to residential care and the practical responses to this problem. This is particularly important because, as this article tries to demonstrate, the present situation of residential care reflects the cumulative impact of traditions and cultural norms, of past decisions and commitments.
Für den staatlichen norwegischen Fernsehsender NRK produzierte der Regisseur Alexander Kristiansen die vierteilige Serie „Frontkjempere“ (dt. die Frontkämpfer). Diese sollte Antworten auf die Frage geben, warum sich unter der deutschen Besatzung tausende Norweger freiwillig für die Waffen-SS rekrutieren ließen. Kurz vor der Erstausstrahlung wurde im April 2021 eine Diskussion um die Darstellung der SS-Veteranen durch die Filmemacher entfacht, als der Historiker Terje Emberland sich öffentlich von seiner Mitarbeit an der TV-Produktion distanzierte. Emberland erklärte in einem deutlichen Statement auf Facebook, „Frontkjempere“ spreche die ehemaligen Waffen-SS-Mitglieder von ihrer Verantwortung frei und reproduziere geschichtsrevisionistische Thesen.
Während des gesamten 20. Jahrhunderts standen Frauen in den USA im Fokus öffentlicher Debatten und Expertendiskurse, die ihre biologische und soziale Funktion als Mütter künftiger Staatsbürger reflektierten. Diese Auseinandersetzungen um „Concepts of Motherhood“ erlauben Rückschlüsse auf zentrale gesellschaftliche Wandlungsprozesse und deren Gegenbewegungen. So zeigen die hier analysierten Debatten um Frauenrechte, Frauenarbeit und Reproduktion erstens, dass sich Normen und Handlungsspielräume für Frauen zwar sukzessive erweiterten, sie jedoch stets von Forderungen nach einer Re-Biologisierung der Geschlechterrollen bedroht waren. Zweitens wird deutlich, dass das Ideal der „White Middle Class Nuclear Family“ in den Debatten nicht grundsätzlich angetastet wurde. Vielmehr ging es den Beteiligten um die Ausbalancierung der Geschlechterrollen innerhalb dieser Kerneinheit, unter Vernachlässigung der Bedürfnisse und Lebensrealitäten von Müttern aus anderen ethnischen oder sozialen Gruppen.
Dieser Aufsatz widmet sich urbanen „Gegenorten“ im südafrikanischen Durban, die als spezifisch gewaltsame Räume problematisiert und reguliert wurden bzw. werden: Shebeens (populäre, nicht-lizensierte Bars) im frühen 20. Jahrhundert und Bad Buildings (besetzte, „gekidnappte“ Häuser) im beginnenden 21. Jahrhundert. Anhand von eigenen Interviews mit Sicherheitsmanagern, Kriminalitätsanalysten und Planern sowie durch polizeiliche, lokalpolitische und journalistische Berichte wird ein sich wandelndes Verständnis von Gewalt und ihrer Räumlichkeit herausgearbeitet. Die projektierten Räume der Gewalt haben dabei ein zeitliches Pendant, in welchem die jeweilige Gegenwart als Ausnahmezustand pathologisiert wird. Das (selektive) Sichtbar- und Unsichtbarmachen von Gewaltphänomenen durch Expertendiskurse ist der Schlüssel zum Verständnis der unterschiedlichen Stränge einer räumlichen und zeitlichen Verkapselung von Gewalt.
Der Beitrag verfolgt die Karriere eines Bildes der amerikanischen Fotografin Dorothea Lange, das im März 1936 als Presseaufnahme in Umlauf kam und in der Folge unter dem Titel „Migrant Mother“ zu einer Ikone der Großen Depression in den USA wurde. Das Foto wird hier erstmals im Zusammenhang der gesamten Serie von sieben Aufnahmen analysiert, der es entnommen ist. Ausgehend vom politisch-sozialen Kontext des New Deal leistet der Autor eine ikonographische Analyse; er arbeitet die semantischen Überschreibungen und Adaptionen des Bildes im Verlauf seiner Rezeptionsgeschichte heraus und ordnet das Foto schließlich vier verschiedenen Diskursen zu, die die Semantik der „Migrant Mother“ maßgeblich bestimmt haben. Die historische Bedeutung von Dokumentarfotografie erweist sich dabei im Wesentlichen als eine Funktion der sozialen und diskursiven Praxis ihrer Verwendung.
Unfreundliche Häme schüttete sich noch Ende des letzten Jahres in der Öffentlichkeit über einem vormals so vielgerühmten Berufsstand aus. Die Ökonomen wurden sehr unverblümt dafür kritisiert, dass sie vor der Wirtschaftskrise ahnungslos und in der Wirtschaftskrise orientierungslos gewesen seien. Lisa Nienhaus, Wirtschaftsredakteurin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), bezeichnete sie als kollektive „Blindgänger“. Als „Starökonomen“ wurden plötzlich Wissenschaftler gelobt, die dem Fach zuvor als Außenseiter und Schwarzseher galten, wie der vor der Finanzkrise noch als „Dr. Doom“ verspottete Nouriel Roubini, der sich nun in Medien und Fachorganen zu Wort melden durfte, dabei aber nicht mehr als Vertreter der Zunft galt, sondern als in der Vergangenheit gegen die Wirtschaftswissenschaften angehender Einzelkämpfer. Gleichzeitig erhoben sich wortgewaltige Verfechter der Mainstream-Ökonomie wie der Münchener Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn: Er habe – ließ er die „FAZ“ und durch sie die Öffentlichkeit wissen – seit längerem auf die Probleme des Finanzmarktes hingewiesen und Veränderungen gefordert, und letztlich sei es das Problem der Journalisten, dass sie lieber über börsliche Höhenflüge als über mahnende wissenschaftliche Expertise berichtet hätten. Die Krise sei also gerade dadurch entstanden, dass die Welt nicht auf die Ökonomen gehört habe.
Wie verändern sich die Objekte der Geschichtsschreibung, also die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit, durch die Medien? Wie verändert sich die Geschichtsschreibung selbst durch die Medien? Was bedeutet die in Forschung und Öffentlichkeit verbreitete Rede von der ‚Mediengesellschaft‘ aus historischer Perspektive eigentlich genau? Der Aufsatz unterscheidet zunächst einige Prozesse der ‚Medialisierung‘, geht damit verbundenen Strukturverschiebungen nach und betrachtet insbesondere Veränderungen von Öffentlichkeiten. Dabei wird dafür plädiert, die Ambivalenz der Entwicklungen anzuerkennen und nicht vorschnell Paradigmenwechsel zu behaupten. Zudem werden einige Leitlinien formuliert, was eine Medialisierung der Zeitgeschichtsschreibung bedeuten könnte. Hier gilt es, neue Wege zu beschreiten und neue Ziele zu setzen, die der Ära der Audiovisualität gerecht werden.
Niall Ferguson, vormals Fellow and Tutor in Modern History in Oxford und jetzt Professor of International History an der Harvard University, steht ohne Zweifel in der Tradition debattierfreudiger und argumentationsstarker britischer Historiker. Neben fundierten Einzelstudien, vor allem zur Geschichte Hamburgs in der Weimarer Republik und zur Geschichte der Familie Rothschild, zielen seine häufig provozierenden Arbeiten auf eine breite historisch interessierte Öffentlichkeit.1 Mit seiner medialen Präsenz steht er in der Tradition britischer „Tele-Dons“ nach dem Vorbild des Oxford-Historikers A.J.P. Taylor. Der Blick in die Vergangenheit dient auch für Ferguson nicht allein der Aufklärung der Gegenwart, sondern als konkrete Handlungsanweisung in politischen Krisen und damit der Legitimation des Historikers als eines politischen Ratgebers. Dazu kommt die ausgeprägte Lust des Autors an der Dekonstruktion vermeintlich etablierter historischer Wahrheiten. Aber bereits im Falle seines provozierenden Buches über Großbritanniens Rolle im Ersten Weltkrieg2 monierten nicht wenige Rezensenten, dass Ferguson sich verzweifelt bemühe, Türen einzurennen, die seit langem offen stehen.
Die inhärenten Probleme des amerikanischen Imperiums sind nur zu begreifen, wenn man sich dessen tieferliegenden inneren Widersprüchen zuwendet. Dabei rückt vorwiegend eine Schwierigkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung: Wie können die USA gleichzeitig ein Imperium und ein an eigenen Sicherheitsinteressen ausgerichteter Nationalstaat sein? Es erscheint nahezu unmöglich, die von Peter Bender ausgemachte „augusteische Schwelle“ zum dauerhaften Imperium zu überschreiten, wenn dieses Problem nicht gelöst wird – sonst droht dem amerikanischen Imperium das gleiche Schicksal wie seinem britischen Vorgänger. Diese These wird in drei Schritten hergeleitet. Erstens verfolgt der Artikel die komplizierten Linien der inneramerikanischen Diskussion über den Begriff des empire. In einem zweiten Schritt werden die zum Teil weit zurückreichenden historischen Entstehungsbedingungen des amerikanischen Imperiums untersucht; dabei ist festzuhalten, dass die USA bereits an der Schwelle zum 20. Jahrhundert den entscheidenden Schritt zum Imperium taten. Drittens wird die These von den strukturellen inneren Widersprüchen des amerikanischen Imperiums näher erläutert.
Zeitgeschichte - verstanden als Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts - ist im Bereich der Ausstellungen in der Regel darauf angewiesen, dass es zu dem gewählten Thema Objekte gibt. Das gilt für Sonderausstellungen ebenso wie für die Teile einer Dauerausstellung. Ein eigener Ausstellungstyp sind solche Veranstaltungen, die - wie vergrößerte Bücher - einen Denkraum schaffen, in dem man entlang der Zeitleiste Ereignisse kennenlernen kann. Im Gegensatz zum Buch sind sie soziale Orte - Plätze, an denen Menschen miteinander ins Gespräch kommen können, an denen sie sich gemeinsam etwas intellektuell aneignen. Wie für eine gute Unterrichtsstunde sollte dabei ein Medienwechsel stattfinden zwischen Texten, vergrößerten Fotografien, Filmen - seien es Wochenschauen oder mitgeschnittene Reden von Politikern, Dokumentar- oder Spielfilme.
Wohl kaum ein anderer Film hat die Vision von der Stadt der Zukunft und dem mechanisierten Menschen so geprägt wie Fritz Langs „Metropolis“. Dabei war dieser heutige Klassiker 1927 im Kino zunächst mit mäßigem Erfolg gestartet. Obwohl er mit einem für die damalige Zeit sehr hohen Aufwand produziert wurde (18 Monate Drehzeit, Budget von letztlich 6 bis 7 Mio. Reichsmark), wollten ihn nach der Premiere nur 15.000 Berliner sehen. Inzwischen hingegen hat sich das Filmbild der Metropole mit ihren auftürmenden Hochhäusern, dem pulsierenden Verkehr mit Autos, Bahnen und Flugzeugen in unser kollektives Gedächtnis eingeschrieben. Es ist zum Symbol geworden für die architektonische Moderne und für die Visualisierung des Begriffs „Moloch Großstadt“. „Metropolis“ gilt inzwischen als der wichtigste deutsche Stummfilm und wurde 2001 als erster Film überhaupt von der UNESCO in das Register „Memory of the World“ aufgenommen. Neben der vielfältigen Rezeptionsgeschichte hat der Film auch eine höchst interessante Überlieferungsgeschichte.
Three processes provided a dynamic of violence that involved the whole continent of Europe in varying degrees. First, “total war” meant the escalation of violence applied to the entire population of enemy states. Second, “totalitarian” ideologies drew on the experience of war and sought to annihilate their own projected antagonists. Third, the tension between territory, peoples, and nation-states was resolved through ethnic violence. The worst episodes of violence, especially the Holocaust, combined all three processes. Democratic states were affected by the same violence but to a much lesser extent, due to inbuilt restraints. Determining whether this dynamic of violence was distinctively European or one dimension of a wider modernity means rethinking European history in a global historical context.
Angesichts der Vielzahl mittlerweile vorliegender Rezensionen zum vierten Band von Wehlers „Deutscher Gesellschaftsgeschichte“ sollen dessen Vorzüge und Nachteile hier nicht mehr im Einzelnen abgewogen werden. Vielmehr geht es mir um einen etwas distanzierteren Blick auf die theoretische und methodische Anlage des Buchs. Seine Veröffentlichung fällt nämlich in eine Zeit, in der es als Test für die Leistungsfähigkeit des gesellschaftsgeschichtlichen Projekts Wehlers überhaupt gelesen werden kann: Bildet es doch nicht nur - trotz des noch angekündigten fünften Bandes - den vorläufigen Abschluss einer historiografischen Lebensleistung, sondern fällt auch in die Endphase einer Epoche der deutschen Geschichtswissenschaft, die mit Fug und Recht als Epoche der Sozialgeschichte bezeichnet werden kann. Drei kritische Punkte möchte ich im Folgenden ansprechen: den Stellenwert der Kulturgeschichte, die bei Wehler weiterhin ein Stiefkind der Gesellschaftsgeschichte bleibt, die damit verbundene sozialstatistische Verkürzung der historischen Wirklichkeit sowie die Grenzen der historischen Selbstreflexivität.
Seit 1950 sind mehr als 778.000 Menschen auf deutschen Straßen gestorben und mehr als 31 Millionen Menschen verletzt worden (in der Bundesrepublik und der DDR zusammen). In anderen Industriestaaten liegen die Zahlen der Opfer von Verkehrsunfällen in vergleichbarer Höhe, in den Schwellenländern steigen sie angesichts einer zunehmenden Mobilität weiter. Wie lässt sich erklären, dass eine moderne Gesellschaft wie die deutsche des 20. Jahrhunderts bereit war, diesen Blutzoll zu zahlen? Die Frage weist über sich selbst hinaus, denn sie macht auf ein zentrales Problem der Epoche der Industriemoderne aufmerksam: Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden neue, von industriellen Produktionsweisen geprägte Technologien, die die Lebensgewohnheiten tiefgreifend veränderten und mit denen sich Hoffnungen einer überaus fortschrittlichen Zeit verbanden.
Historische Ausstellungen und Museen gelten als typische Arbeitsfelder für Historiker. In der Tat ist eine geschichtswissenschaftliche Grundausbildung eine gute Voraussetzung, doch reicht sie aus, um eine gute historische Ausstellung zu entwickeln? Was macht überhaupt eine gute Ausstellung aus? Hier kommt neben der wissenschaftlichen Arbeit die praktische Umsetzung ins Spiel - ein Aspekt, der bei der Beurteilung von Ausstellungen oft vergessen wird. Dabei geht es nicht um die Entscheidung zwischen Oberflächlichkeit und Tiefgang, zwischen Inszenierung und Originalobjekten oder zwischen Eventkultur und Bildungsangebot. Vielmehr geht es darum, sich der sprachlichen Unschärfen sowie der Vermischung von Begriffen wie Geschichte, Museum, Ausstellung, Erinnerung, Gedächtnis auf der einen und Event, Erlebnis, Management, Unterhaltung auf der anderen Seite bewusst zu werden. Erst dann nämlich steht die Qualität einer Ausstellung zur Debatte, nicht die Güte der wissenschaftlichen Leistung. Anders ausgedrückt: Eine Ausstellung zu realisieren erfordert mehr als die wissenschaftliche Basis der Fachdisziplin, in unserem Fall der Geschichtswissenschaft. Hier geht es darum, (aktuelle) Bezugspunkte für die Besucher zu schaffen, ein Konzept zu entwickeln, das Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes (be)greifbar macht. Es ist der dreidimensionale Raum, in dem sich das Konzept bewähren muss, in dem Geschichte gestaltet werden will. Dazu gehören auch und vor allem die Objekte - die im Geschichtsstudium nicht oder nur am Rande behandelt werden. Hinzu kommt die praktische Durchführung des Vorhabens, die Planung und Organisation von Arbeitsabläufen, die Vermittlung sowie die Finanzierung. Und spätestens hier sieht sich der Historiker vor Aufgaben gestellt, auf die ihn sein Studium in den seltensten Fällen vorbereitet hat.
‘Silenced Power’. Warfare Technology and the Changing Role of Sounds in Twentieth-Century Europe
(2011)
How did the technological ability to manipulate the sounds of weapons affect warfare in Europe during the twentieth century? The article first observes the role of warfare sounds in Europe prior to the First World War. The focus here is on the connection between the large-scale use of artillery and rapid-fire technologies and the development of sonic perceptions of ‘sounded power’ during the late nineteenth century. The second part discusses the introduction of ‘soundless weapons’ during the First World War. The horror of ‘silenced power’ as a force undermining the long-term tradition of ‘sounded power’ on the battlefield is exemplified by the case of gas warfare in the First World War and its long-term influence in Germany during the Weimar Republic and National Socialism. The paper points to existing gaps in research regarding the role of sound and silence on the battlefield, and further argues that although the notion of ‘silenced power’ was more prevalent in the first half of the twentieth century its potential horror could not be ignored after 1945.
Over recent years, several private photos of the persecution of the Hungarian Jews have been made accessible to the public online. However, due to the lack of historical context and basic metadata, these photographs remain difficult to trace. This problem is particularly significant for international researchers without knowledge of Hungarian.
In 2020, I started examining ways to design and develop online exhibitions, and this short essay outlines the process and results: the online gallery “Forced Labour, Hungary 1940”. The aim of this project was to present and contextualise one small collection of family materials – two photo albums and a diary – to make them accessible for a broader, international public.
"There’s nobody left". Anti-Semitic exclusion and persecution in Rauischholzhausen, 1933-1942
(2018)
"I just can’t go back there. [...] I [would] like to go once more to Holzhausen, to the cemetery, and to Kirchhain. I want to see, but ... there’s nobody left." – Martin Spier, New York City 2009.
The people no longer left there are the Jewish residents of Rauischholzhausen. They were persecuted and deprived of their rights, then expelled and murdered. At the same time, the history of Jewish life in this village goes a long way back, as does the antisemitism there. In 1933, the village still had 20 Jewish residents.
On September 6, 1942, the last 18 Jewish individuals from Rauischholzhausen and the surrounding areas were forced onto lorries at the village square and transported from there to Theresienstadt. Three of them survived the Holocaust, returning to the village in 1945.
This book is the result of searching for those who are missing and the reasons for their absence. It is the result of an extensive search in archives and conversations with contemporary witnesses from the village. Yet, in particular, it is the result of conversations with four Jewish survivors, the siblings of the Spier family. On the basis of their memories, this book attempts to describe those years between 1933 and 1942—years that beggar description. It presents a history of events in Rauischholzhausen that developed their own dynamic and that in many respects preempted the state’s policies of exclusion and persecution.
Weltgeschichte ist zu einer neuen Herausforderung für Historiker geworden. Neue Handbücher zur Weltgeschichte werden veröffentlicht. Artikel über die Zukunftschancen und die Schwierigkeiten beim Schreiben einer Weltgeschichte werden zahlreicher. Konferenzen über Weltgeschichte werden häufiger organisiert. Verleger eröffnen in ihren Katalogen Rubriken zur Weltgeschichte. Seminare über Weltgeschichte sind voll. In manchen Ländern soll Weltgeschichte sogar in die Schulbücher aufgenommen werden.
Es ist erst einige Jahre her, da erinnerte ein überdimensionales, begehbares Prostatamodell Männer an die Wichtigkeit der Krebsvorsorge. Eine „Urolisken“- Skulptur, die in verschiedenen deutschen Städten aufgestellt wurde, hatte dasselbe Ziel. Beide Aktionen zeigen: Alternde Männer werden derzeit in ihrer Körperlichkeit verstärkt sichtbar. Für alternde Frauen könnte man Ähnliches feststellen.1 Dies war längst nicht immer so. Wer die Situation alter Männer mit Prostatakarzinom als Familienväter und -versorger im frühen 20. Jahrhundert nachzuzeichnen versucht, stößt schnell an Grenzen, was mit der schwierigen Quellenlage zu tun hat. Mediziner hatten für diese Patienten wenig Handlungsspielraum, Behandlungsmethoden reduzierten sich oftmals auf Palliation, und für die Öffentlichkeit blieben die Krankheitsverläufe dieser Männer ohnehin meist unsichtbar. Im Gegensatz dazu gibt es im späten 20. und beginnenden 21. Jahrhundert eine öffentliche Zurschaustellung.
Die Diskursgeschichte, die sich im Zuge des linguistic turn auch in Deutschland recht erfolgreich etabliert hat, eröffnet vielschichtige Zugänge, die auch für die Erforschung des Nationalsozialismus und des Holocaust wichtige Impulse zu geben vermögen. Dies gilt etwa für die Rolle von Homosexualitätsdiskursen in NS-Organisationen, für sprachliche Ausformungen genozidaler Gewalt und für narrative (Überlebens-)Strategien von Verfolgten. Besonders deutlich geworden sind die Verbindungen von sprachlichen Praktiken und Gewalt in der Diskussion über die 1995 veröffentlichten Tagebücher des Romanisten Victor Klemperer (1881–1960) aus der NS-Zeit. Diese Tagebücher hatten Klemperer, der den Holocaust in Dresden überlebte, als Vorarbeiten seiner Studie zur Sprache des „Dritten Reiches“ gedient. In dieser bereits 1947 erstmals erschienenen Arbeit argumentierte Klemperer, dass „der Nazismus […] in Fleisch und Blut der Menge […] durch die Einzelworte, die Redewendungen“ übergegangen sei, die ein Großteil der Bevölkerung „mechanisch und unbewußt übernommen“ habe. Während Klemperers Studie gerade in den letzten 15 Jahren wieder verstärkte Beachtung gefunden hat, bleibt ihre bedeu-tendste westdeutsche Parallelarbeit heute auffällig unterbelichtet: das von Dolf Sternberger (1907–1989) federführend konzipierte „Wörterbuch des Unmenschen“.
Westeuropas Wiederaufbau – Made in Germany? Baumaterial aus Deutschland im Versailler Vertrag
(2016)
Die Geschichtsschreibung der Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg handelt bislang vor allem von Geld. Dieser Aufsatz plädiert dafür, auch die Sachlieferungen als einen wesentlichen Bestandteil des Versailler Vertrags zu interpretieren. Exemplarisch wird erprobt, wie sich theoretische Überlegungen zur sozialen Dimension von Dingen auf die Geschichte des Versailler Vertrags und seiner Folgen anwenden lassen. Anhand der zeitgenössischen Diskussionen über geplante Lieferungen von Baumaterial nach Nordfrankreich lässt sich nachvollziehen, dass man auf deutscher Seite mit diesen Reparationsleistungen durchaus Erwartungen verknüpfte: Aus Sicht der Politik sollten Sachlieferungen dazu beitragen, die Gesamtsumme der Reparationen zu mindern. Findige Unternehmen hofften schon 1919 auf einträgliche Geschäfte, etwa durch den Verkauf von Fertighäusern. Auch die Baugewerkschaften setzten auf neue Möglichkeiten für »deutsche Arbeiter und deutsches Material«. Selbst wenn die Lieferung in die Aufbaugebiete Nordfrankreichs in der Praxis begrenzt blieb, eröffnen die damit verbundenen Debatten neue Perspektiven auf die Geschichte des Nachkriegs.
Die montierte Stadt. Das Berlin der Weimarer Republik in zwei Graphic Novels der 2000er Jahre
(2021)
Vom Königreich Preußen bis zur Bundesrepublik Deutschland: Berlin war in seiner wechselhaften Geschichte die Hauptstadt unterschiedlichster Staatsformen und Gesellschaften. Mittlerweile ist es auch zur „Hauptstadt des Comics“ geworden, zu einem Zentrum, aber vor allem auch Objekt von Comicproduktionen. 2012 zählte der Journalist Lars von Törne fast 100 Comic-Hefte und Graphic Novels, die Berlin zum Schauplatz haben. Seitdem hat sich ihre Zahl stetig vergrößert, und die Vielfalt an historischen sowie gegenwärtigen Themen und künstlerischen Stilen ist immens. Im Folgenden soll anhand von zwei Graphic Novels, die beide in der Zeit der Weimarer Republik angesiedelt sind, besprochen werden, wie diese stadtgeschichtliche Epoche eine grafisch erzählende Verarbeitung findet: Jason Lutes’ „Klassiker“ „Berlin – Steinerne Stadt“ (erster Teil der ab 2003 in der deutschen Übersetzung von Heinrich Anders beim Carlsen-Verlag erschienenen Trilogie) und der deutlich weniger bekannte Band „Wolkenbügel – Berlin im Rausch“ von Sebastian Strombach (erschienen 2018 im Jovis Verlag).
Staatssymbole sind ein unverzichtbares Attribut souveräner Nationalstaaten. Als visuelle und audiovisuelle Medien geben sie Aufschluss über den Kern staatlichen Selbstverständnisses, was sie zu einer interessanten Quelle für die historische Forschung macht. Symbole wie Flagge, Staatswappen und Nationalhymne repräsentieren den Staat nach außen und unterstreichen seine Souveränität, während sie nach innen der Integration und der Identitätsbildung dienen. Weil Staatssymbolik auf Beständigkeit angelegt ist, wird sie nur selten Modifikationen unterworfen. Meist sind es Systemwechsel, die Veränderungen der symbolischen Ordnung nach sich ziehen. In solchen Umbruchsituationen gilt den üblicherweise kaum bewusst wahrgenommenen Staatssymbolen verstärktes öffentliches Interesse. In der jüngeren Vergangenheit war dies am Beispiel der postsozialistischen Staaten gut zu beobachten. Deren Staatssymbolik lässt wie in einem Brennglas den Wandel des politischen und des Wertesystems erkennen, der seit dem Ende des Staatssozialismus stattgefunden hat.
Der Dresdner Kunst- und Fotohistoriker Wolfgang Hesse forscht seit vielen Jahren zur proletarischen Amateurfotografie. Seine hier vorliegende Internet-Publikation befasst sich mit dem „Roten Abreißkalender“ der KPD der Weimarer Republik. Sowohl die Arbeiter- wie die Abreißkalender gehen in ihrer Tradition auf das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurück. Die ersten Arbeiterkalender sind 1867 in Budapest und 1868 in Berlin nachweisbar. Die wichtigsten inhaltlichen Änderungen gegenüber dem traditionellen „Volkskalender“ bestanden darin, dass die geschichtlichen Teile statt der bisherigen „Heldengeschichtsschreibung“ Daten der allgemeinen Weltgeschichte, der demokratischen und der deutschen Arbeiterbewegung enthielten. Um 1880 tauchten in Deutschland die ersten (nicht-politischen) Abreißkalender auf, die, dem englischen Vorbild der date blocks folgend, literarische, religiöse oder Texte aus dem Alltagsleben auf den Kalenderblättern anboten. Sie inspirierten, unter neuem Vorzeichen, auch Unternehmungen wie das hier vorgestellte.
Verlagstext, s. http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-04503-6.html: "In seinem kurzen Leben behauptete sich der Historiker und Politiker Arthur Rosenberg (1889-1943) auf verschiedenen Gebieten. Geboren und aufgewachsen im kaiserlichen Berlin, erwarb er sich früh einen guten Ruf als Althistoriker. Nach dem Bruch mit seinem Herkunftsmilieu, dem assimilierten jüdischen Bürgertum und der deutschnationalen Gelehrtenwelt, wurde er ab 1918 ein führender kommunistischer Politiker, der dem Reichstag und der KPD-Spitze angehörte und dort ultralinke Positionen vertrat. Mitte der zwanziger Jahre gelangte er zu einer realistischeren politischen Haltung und verließ 1927 die KPD. In den folgenden Jahren profilierte er sich als Zeithistoriker und unabhängiger Marxist. Er starb 1943 im New Yorker Exil. Seine Bücher über Aufstieg und Fall der Weimarer Republik, zur Geschichte des Bolschewismus und über Demokratie und Sozialismus übten und üben noch immer einen bemerkenswerten Einfluss auf die intellektuellen Debatten zu diesen Themen aus. Die vorliegende Biographie Arthur Rosenbergs zeichnet auch seine wechselvollen Positionen zum Judentum und zum Zionismus nach."
„Wir wissen wenig über die Fotografie der Landser“, merkte Bernd Hüppauf noch im Jahr 2015 in seiner Abhandlung über Fotografie im Krieg an. Um diesen Missstand weiter aufzulösen, wird im Folgenden ein Bereich der privaten Fotografien des Zweiten Weltkriegs betrachtet, der neben dem Gestalten von Fotoalben und dem Handel mit Bildern ebenfalls eine große Rolle innerhalb der Landserfotografie spielte: das Verfassen von illustrierten Tagebüchern bzw. von Fotoheften.
In den 1970er- und 1980er-Jahren galt die militärgeschichtliche Forschung in der Bundesrepublik als sehr konservativ. Viele sich als progressiv verstehende Geschichtswissenschaftler und -lehrer betrachteten eine zu intensive Beschäftigung mit Militär und Krieg als politisch verfehlt, pädagogisch gefährlich und wissenschaftlich anachronistisch. Zwar wurde „Militarismus“ als historisches und soziologisches Phänomen erforscht sowie „historische Friedensforschung“ zum Postulat der Geschichtsdidaktik gemacht, doch entfernte man sich in „pazifistischem Affekt“ (Jan Philipp Reemtsma) von der konkreteren Realität des Gewalthandelns und der militärischen Vergesellschaftung. Dies war einerseits verständlich und aus heutiger Sicht dringend geboten, um die preußisch-deutschen Traditionen einer Glorifizierung des Militärs und einer anwendungsorientierten Operationsgeschichtsschreibung zu überwinden. Andererseits wurden durch die dezidierte Abkehr vom Militärischen viele Gegenstandsbereiche ausgegrenzt, die zum Verständnis der deutschen und internationalen Geschichte besonders des 19./20. Jahrhunderts essenziell sind.
"Ein wahres Bücherfest wartet auf das Publikum, auf die Rezensenten aber ein hartes Stück Arbeit - und mancher von ihnen reist in diesem Sommer mit schweren Fahnen im Gepäck", schrieb Volker Ullrich in einer Vorschau auf die Verlagsprogramme für den Herbst 2003 (DIE ZEIT, 24.7.2003). Dabei verwies er unter anderem auf Band 4 von Hans-Ulrich Wehlers "Deutscher Gesellschaftsgeschichte". Auf dieses Buch durfte man in der Tat gespannt sein, und so hat die Redaktion der "Zeithistorischen Forschungen" gleich mehreren Rezensenten schweres Gepäck aufgebürdet. Richard J. Evans hat Wehlers Gesamtprojekt der "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" mit ,einem majestätischen Ozeanriesen" verglichen (Frankfurter Rundschau, 8.10.2003).