21. Jahrhundert
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Was vor einigen Jahren ein Schreckensszenario war, ist längst eingetreten. Für den wissenschaftlichen Nachwuchs gilt schon heute: »Quod non est in google, non est in mundo.« Freilich, eine verkürzte Sicht. Der Aufbau elektronischer Findmittel zur Durchforstung von Archiv-, Bibliotheks- und Museumsbeständen hat in den vergangenen Jahren ein starkes wissenschaftliches Interesse gefunden. Die Gesellschaft vernetzte sich, es entstanden viele nützliche Service-Angebote, neue Begehrlichkeiten wurden geweckt. Heute geht es nicht mehr darum, Inhalte nur zu erschließen, sondern darum, sie online zu vermitteln. In sozialen Medien werden diese Inhalte »getaggt«, »geliked«, empfohlen oder gar kommentiert. Die sammelnden Institutionen stehen damit vor einer gewaltigen Herausforderung – technisch, finanziell und vor allem konzeptionell. Mit dem Aufkommen von Bits und Bytes befindet sich die Kulturtechnik des Sammelns und Präsentierens in einem tiefgreifenden Umbruch. Der digitale Wandel impliziert die Frage, ob Gedächtnisinstitutionen künftig noch derselbe Stellenwert zukommen wird, zukommen muss wie heute: Schaffen entmaterialisierte Kulturgüter eine neue Kulturgesellschaft?
Im Jahr 2012 kam der Film »Fetih 1453« in die türkischen Kinos. Das Heldenepos um den 18-jährigen Sultan Mehmed II., dessen Truppen die oströmische Hauptstadt einnahmen, war unter Einsatz neuester Computertechnik, Animationen und vielerlei Effekten hergestellt worden. Der Kinostart in Istanbul war – damit die geschichtsträchtige Symbolik sich auch jedem Türken deutlich erschließe – um 14.53 Uhr. Der Film entwickelte sich rasch zum Kassenschlager. Er war nicht nur der teuerste in der Türkei jemals gedrehte Film – seine Produktionskosten beliefen sich auf 17 Mio. US-Dollar –, sondern zog auch die meisten Besucher an.
Seit einiger Zeit löst sich die Schockstarre, die bei Bekanntwerden des Ergebnisses des Referendums vom Juni 2016 über die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs eingesetzt hatte. Mittlerweile wird sie außerdem gelegentlich durch Entwicklungen in den USA, Italien und anderswo überlagert, die alle ihrerseits für die weitere Entwicklung in Bezug auf den Brexit folgenreich sind. Weiterhin ist das Vereinigte Königreich Teil der Europäischen Union, wobei die Perspektive eines Austritts längst ihren Schatten vorauswirft. Viel ist in den vergangenen Monaten international gesagt und geschrieben worden, um das lange Zeit Undenkbare zu erklären. Eine beachtliche Reihe von Kommentatoren hat sich zu Ergründungen des britischen Nationalcharakters hinreißen lassen und etwa Beispiele für ein tief verankertes Sonderbewusstsein und Anzeichen für einen Sonderweg in Kultur und Geschichte bemüht.
Cemal Kemal Altun nahm sich am 30. August 1983 durch einen Sprung aus dem sechsten Stock des Berliner Verwaltungsgerichts das Leben. Damit wollte er seiner Abschiebung in die Türkei und der dort drohenden Folter entgehen. Dreizehn Monate Auslieferungshaft und ein zermürbendes Rechtsverfahren machten den »Fall Altun« zum Symbol der Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit bundesdeutscher Ausweisungspraxis. Der Hohe Kommissar für Flüchtlingsfragen der Vereinten Nationen ermahnte die deutschen Behörden, ihre inhumane Behandlung von Migrant*innen zu beenden. Der Europarat protestierte, und die Europäische Kommission für Menschenrechte in Straßburg wurde hinzugezogen. In der Bundesrepublik traten Aktivist*innen in Hungerstreik, und etwa 10.000 Menschen setzten ein Zeichen, als sie Altuns Leichenzug durch West-Berlin in einen Protestmarsch verwandelten. Anti-Abschiebe-Proteste nahmen zu und institutionalisierten sich Mitte der 1980er-Jahre in Form von Kirchenasyl, Flüchtlingsräten, Pro Asyl, Fluchtburg-Bewegung, migrantischer Selbstorganisation und antirassistischen Initiativen.
»Es gibt ein Menschenrecht auf Bleiberecht!«, verkündete Sevim Dağdelen, damals Bundestagsabgeordnete für Die Linke, im März 2006. Dabei bezog sie sich auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall »Sisojeva u.a. gegen Lettland« vom Juni 2005. Es ging dabei um das Ehepaar Svetlana Sisojeva und Arkady Sisojev, die zur Zeit der Sowjetunion Ende der 1960er-Jahre nach Lettland gekommen waren und dort auch eine Tochter bekommen hatten. Ihr Aufenthaltsstatus blieb nach der Unabhängigkeit des baltischen Staates 1991 ungeklärt, da Lettland die Annexion des schon in der Zwischenkriegszeit unabhängigen Landes durch die Sowjetunion 1940 bzw. 1944 nicht anerkannte und die zur Sowjetzeit ins Land gekommenen Personen daher als Ausländer bzw. Staatenlose betrachtete, die gegebenenfalls das Land zu verlassen hätten. Aus einer Binnenmigration wurde somit quasi rückwirkend eine internationale Migration. In ihrer Beschwerde beim EGMR machte die Familie geltend, dass der lettische Staat durch seine Weigerung, ihren Aufenthaltsstatus zu regeln, ihr Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK) verletze. Der EGMR schloss sich mehrheitlich dieser Auffassung an, woraus die Bundestagsabgeordnete Dağdelen folgerte: »Es gibt – unter bestimmten Bedingungen – ein Menschenrecht auf Bleiberecht, das der ausländerrechtlichen Allmacht der Nationalstaaten Grenzen setzt. Dieses Recht steht auch nicht im ›humanitären Ermessen‹ der Behörden. Es gilt absolut!«
»Leise über den Dächern reisen«, so war im Herbst 2012 ein Artikel zu städtischen Seilbahnen betitelt. Der zentrale Vorteil dieses Transportmittels: Seine Nutzer würden hoch über den verstopften Straßen schweben, ihr Ziel fast lautlos, ohne Verzögerung und beinahe CO2-neutral erreichen. In Europa ist die zu den Olympischen Sommerspielen 2012 in London eröffnete und nach ihrem Sponsor benannte Luftseilbahn Emirates Air Line eines der bekanntesten Prestigeprojekte für diese neue städtische Mobilitätsform. Als Vorbilder dienten die urbanen Seilbahnen in Asien und Lateinamerika, obschon vereinzelt auch westliche Städte wie Barcelona, New York oder Koblenz im ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhundert auf dieses Konzept gesetzt hatten. Gerade in Metropolregionen und Megastädten, die sich mit einem massiven Verkehrsaufkommen und einem immer weiter voranschreitenden Bevölkerungswachstum konfrontiert sehen, entwickelt sich die Seilbahn zu einem Fortbewegungsmittel, das Zukunftsutopien bedient.
Herfried Münkler, seit 1992 Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin, betrachtet Imperien als „eine Form von Problembearbeitung neben der des Staates und anderen Organisationsformen des Politischen“. Idealtypisch unterscheidet er zwischen dem „pluriversen Ordnungsmodell der Politik“, d.h. einer von mehr oder weniger gleichberechtigten Staaten ausgehandelten Weltordnung, und dem imperialen, d.h. von einer klaren Vormacht bestimmten Ordnungskonzept. Dieser Gegensatz könne auch und gerade viele Konfliktlagen des 20. Jahrhunderts erklären. Anders als die Imperialismustheoretiker, die imperiale Herrschaftsformen seit Ende des 19. Jahrhunderts auf unterschiedliche Weise kritisiert haben, fragt Münkler zunächst einmal wertfrei nach den Merkmalen von Imperien, den Quellen ihrer Macht, ihren Stabilitätsbedingungen und Techniken der Krisenbewältigung sowie nach den Ursachen ihres Scheiterns. Sein universalhistorischer Blick reicht vom Imperium Romanum über das Mongolenreich, die frühneuzeitlichen See-Imperien und das russische Zarenreich bis zum heutigen Europa und den USA.
Seit den 1980er-Jahren erleben wir in der Bundesrepublik und auch in anderen Ländern einen Museumsboom, der noch lange nicht abgeschlossen zu sein scheint. Er zeichnet sich nicht allein durch immer neue Museumsgründungen und hohe Besuchszahlen aus, sondern auch durch eine umfassende mediale Begleitung und öffentliche Diskussion von Museums- und Ausstellungseröffnungen. Gleichzeitig wandeln sich Funktion und Selbstverständnis vieler Museen seit Beginn des 21. Jahrhunderts: weg von elitären Bildungseinrichtungen, hin zu Orten des zivilgesellschaftlichen Austauschs und der Partizipation. Dieser Wandel in der Museumswelt trifft gegenwärtig auf ihrerseits gewandelte geschichtspolitische Ansprüche, die an die Museen herangetragen werden.
Katalysator wider Willen. Das Humboldt Forum in Berlin und die deutsche Kolonialvergangenheit
(2019)
Das neu-alte Schloss steht bereits. Die Baugerüste sind Ende 2018 gefallen und haben den Blick auf die rekonstruierten Barockfassaden an der Nord-, West- und Südseite freigegeben. Lediglich die moderne Ostfassade lässt von außen erkennen, dass es sich bei dem Gebäude auf dem Berliner Schlossplatz nicht wirklich um das alte Stadtschloss handelt, sondern um eine Teilrekonstruktion. In deren Innerem soll ab Ende 2019, im 250. Geburtsjahr Alexander von Humboldts, das Humboldt Forum etappenweise eröffnen. Neben Sonderausstellungsflächen, Veranstaltungsräumen und einer Ausstellung zur Geschichte des Ortes im Erdgeschoss sowie Ausstellungen des Landes Berlin und der Humboldt-Universität im ersten Obergeschoss wird es im zweiten und dritten Obergeschoss die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst beherbergen, die beide zu den Staatlichen Museen zu Berlin gehören und damit Teil der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sind.
Am Deutschen Eck in Koblenz, wo die Mosel in den Rhein mündet, wurde 1897 ein Denkmal eingeweiht, das Kaiser Wilhelm I. durch eine Reiterstatue ehrte und den Dank deutscher Staaten für die Reichseinigung von 1871 ausdrückte. Die Statue wurde im März 1945 zerschossen und bald danach abgeräumt. Der Sockel wurde 1953, mit Wappen der deutschen Länder und einer Bundesflagge versehen, als „Mahnmal der Deutschen Einheit“ von neuem eingeweiht. Am 3. Oktober 1990 kamen die Wappen der neuen Bundesländer hinzu. Die Statue wurde auf Betreiben privater Stifter rekonstruiert und zum 123. Jahrestag des Sieges von Sedan (1870) wiederum auf den Sockel gestellt. Abweichungen vom Original gingen nicht etwa darauf zurück, dass ein historischer Abstand reflektiert worden wäre, sondern auf fehlerhafte Materialwahl und Modellierung.
Im Dezember 2020 gab der schwedische Möbelhersteller IKEA bekannt, die weltweite Distribution seines gedruckten Warenkatalogs nach 70 Jahren einzustellen. Im deutschsprachigen Feuilleton wurde diese Nachricht zum Ereignis: »Auch das noch: Den IKEA-Katalog gibt’s nur noch digital«, stellte Jens Jessen in der »ZEIT« leicht ironisch fest. Angesichts der Unsicherheiten, die von der globalen Covid-19-Pandemie ausgingen, schien im nun umso wichtiger gewordenen Bereich des Wohnens eine weitere Konstante des Alltagslebens wegzubrechen. Der ausbleibende Katalog veranlasste einige Kommentator*innen zu sehr persönlichen Formen der Anteilnahme und Abschiedsbekundung. Mitunter ließen diese, nostalgisch gefärbt, das eigene Erwachsenwerden Revue passieren – schließlich waren die IKEA-Kataloge in den Industriestaaten weltweit ein Teil davon. So erscheint der Möbelkatalog als Medium zum Träumen, als warenästhetischer Coming-of-Age-Roman, der Jugendliche im Akt des Durchblätterns von Erwachsenenleben und Unabhängigkeit fantasieren lässt; als Schwelle in eine selbstständige, bessere Zukunft: »Du warst das Fenster, das reale Einrichtungshaus die Tür.« Das IKEA-Du, das in den Katalogen und Einrichtungshäusern propagiert wird – die Bundesrepublik hat es dankend umarmt und vielfach verflucht.
In den 1970er-Jahren lief im westdeutschen Fernsehen eine Serie der Augsburger Puppenkiste, deren Held und Titelgeber der kleine König Kalle Wirsch war. Kalle Wirsch, König der Erdmännchen, war, wie sein Name sagte: ein freundliches kleines Männchen, alles andere als unwirsch. Der Name aber irritierte – wer benutzt schon das Wort „wirsch“? Das Wort gibt es tatsächlich, es ist aber kein Gegenbegriff zu „unwirsch“, sondern eine Verballhornung von „wirr“. Zu „unwirsch“ gibt es keinen Gegenbegriff. Der kleine König Kalle Wirsch mag einem bei „Gleichheit und Ungleichheit“ in den Sinn kommen. Denn viel wird gesprochen von Ungleichheit, und dies vor allem im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit. Aber Gleichheit? Nur ganz wenige Autoren haben über deren Geschichte nachgedacht. Einer davon ist der Zürcher Historiker Jörg Fisch. Er fasst, bezogen auf das späte 19. Jahrhundert, Gleichheit vor allem als einen Anspruch, als eine Forderung. Sie ist also etwas, was (noch) nicht ist. „Gleichheit“ blieb als die bürgerliche Forderung nach rechtlicher und politischer Gleichberechtigung stehen und wurde (jedenfalls in Europa) im späten 19. und im 20. Jahrhundert zumindest teilweise eingelöst. Die Forderung nach sozialer Gleichheit jedoch, die aus revolutionären Bewegungen kam, ließ sich nicht einmal als Anspruch durchhalten, wurde als staatsgefährdend identifiziert und erbittert bekämpft. Soziale Gleichheit erhielt das Stigma des Utopismus und behielt lediglich in der Forderung nach Abbau (und nicht Abschaffung) sozialer Ungleichheit eine gewisse Berechtigung.
Kommerzielle Bildanbieter entledigen sich zunehmend ihrer analogen Fotoarchive. Dabei geht es nicht selten um Millionen von Fotografien. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wie es bei solchen Anbietern um die Wertschätzung ihres analogen Fotoerbes steht. Die Antwort scheint entsprechend einfach zu sein: Solche Bestände werden gering geschätzt. Die Fotoarchive werden abgegeben oder gar vernichtet, weil sie für ihre Besitzer mehr Verlust als Profit einbringen. In manchen Fällen übernehmen öffentliche Gedächtnisinstitutionen wie Archive, Museen und Bibliotheken die Bestände und widmen sie von Gebrauchs- zu historischen Fotoarchiven um. Dies hat im Zusammenspiel mit der allgemeinen Digitalisierung der Fotografie das Bewusstsein für die Historizität alter Pressefotografien und damit für ihren kulturellen sowie wissenschaftlichen Wert geschärft. Die einst massenhaft für den Verkauf hergestellten Gebrauchsbilder gelten heute als zeithistorische Dokumente. In der medialen Öffentlichkeit wird vollmundig vom »visuellen« oder vom »fotografischen« Gedächtnis eines ganzen Landes geschrieben.
Vor etwas mehr als zehn Jahren schlug der Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen vor, eine neue geologische Epoche zu taufen, die mit der Industrialisierung in England und im übrigen Europa begonnen habe: das Anthropozän. Die Bezeichnung unterstreicht, dass menschliche Aktivitäten immer größere Spuren in allen Teilsystemen des Erdsystems hinterlassen, seitdem sie sich mit der Kraft fossiler Brennstoffe entfalten. Der geologische Epochenschnitt koinzidiert mit einer Zäsur in der Gesellschaftsgeschichte, die in der Geschichtswissenschaft seit langem allgemein akzeptiert ist: die industrielle Transformation. Die daraus folgende Parallelisierung von Menschen- und Erdgeschichte kann nicht zufällig sein. Aber bisher ist unklar, in welcher Verbindung ihre Narrative stehen und welche Implikationen das für die Geschichtsschreibung hat. Das folgende Plädoyer für eine Klimageschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zielt auf diesen Nerv.
Blickt man vom Ufer der Motława in Gdańsk Richtung Norden, schiebt sich ein Bauwerk in den Blick, das sich deutlich von seiner Umgebung abhebt: ein schräg stehender langgestreckter Quader, der dem Anschein nach gleich umkippen wird. Statisch droht zwar kein Unglück, die Schieflage des Gebäudes verdeutlicht aber im übertragenen Sinn, wie es um das Innenleben des Bauwerkes steht. Es beherbergt das Museum des Zweiten Weltkrieges. Kein anderes Museum in Polen hat in den vergangenen Jahren mehr Kontroversen ausgelöst als das Projekt in Gdańsk. Obwohl in Polen zu Recht von einem Museumsboom gesprochen werden kann und es durchaus weitere Steine des Anstoßes gegeben hätte, ist nur der Streit um das Museum in Gdańsk so eskaliert.
In Nürnberg formulierten die Alliierten 1945 erstmals das völkerrechtliche Prinzip, dass allgemeine Menschenrechte über nationalem Recht stehen. Damit wurde es möglich, staatlich sanktionierte Verbrechen zu ahnden – in diesem Fall die deutschen Verbrechen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs. Seit den 1990er-Jahren haben diverse vergleichbare Prozesse stattgefunden, etwa zu den Ereignissen in Jugoslawien, Ruanda und Kambodscha. Dass das Führungspersonal eines Landes für Kriegsverbrechen und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ strafrechtlich belangt werden kann, war im 20. Jahrhundert stark umkämpft und ist bis heute nicht vollständig durchgesetzt. Der Aufsatz stellt die drei wichtigsten Etappen im Überblick dar: die Leipziger Prozesse nach dem Ersten Weltkrieg, die Prozesse von Nürnberg und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die Debatte um die Entstehung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Strittig war und ist vor allem, inwieweit auch Großmächte wie die USA bereit sind, universellen Menschenrechten und einer supranationalen Autorität gegenüber herkömmlichen nationalen Souveränitätsrechten einen Vorrang einzuräumen.
Richard Horton, ein britischer Arzt und Chefredakteur der einflussreichen medizinischen Fachzeitschrift »The Lancet«, löste Ende 2012 mit einer Serie von Twitter-Nachrichten eine hitzige Debatte aus. Polemisch zugespitzt kritisierte Horton den schädlichen Einfluss der Ökonomie auf das öffentliche Gesundheitswesen. In zehn Thesen beklagte er, dass die Wirtschaftswissenschaften keine Vorstellung von moralischem Handeln hätten und einem falschen Menschenbild folgten. Die Marktideologie lasse sich nicht vereinbaren mit den Werten, auf denen sozialstaatliche Gesundheitssysteme begründet seien. Auch wenn die Gesundheitsökonomie das Gegenteil behaupte – Gesundheit sei kein ökonomisches Gut. Horton folgerte: »Economics […] may just be the biggest fraud ever perpetrated on the world.«
»In den Musennestern, wohnt die süße Krankheit Gestern« – so schreibt Uwe Tellkamp im pathossatten Roman »Der Turm«, dem literarischen Abgesang auf die DDR. Er schildert darin ein Refugiumsbürgertum, das sich gegen die Zumutungen der DDR in den Villen der Dresdner Elbhänge eingenistet hat – Zumutungen, die nun offenbar mit der DDR nicht untergegangen sind, denn seit einiger Zeit gehört Tellkamp selbst zu einem rechtsintellektuellen Milieu ostdeutscher Neodissidenten, die sich von einem wie auch immer gearteten Mainstream ausgegrenzt fühlen. Sie erinnern an die DDR, beklagen ihr geistiges Exil, und einige von ihnen tragen zur Normalisierung der extremen Rechten in Ostdeutschland bei.
„Computerspiele einschließlich anderer interaktiver Unterhaltungsmedien (Video-/Konsolen-, Online- und Handyspiele) haben in den letzten Jahren kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Sie sind in Deutschland wirtschaftlich, technologisch, kulturell und gesellschaftlich zu einem wichtigen Einflussfaktor geworden. [...] Computerspiele transportieren gesellschaftliche Abbilder und thematisieren eigene kulturelle Inhalte. Sie werden damit zu einem bedeutenden Bestandteil des kulturellen Lebens unseres Landes und sind prägend für unsere Gesellschaft.“1 Wie der Beschluss des Deutschen Bundestags zur Einrichtung des Deutschen Computerspielpreises zeigt, der seit 2009 jährlich vergeben wird, werden Computerspiele mittlerweile auch von offizieller Seite als ebenso bedeutsam wahrgenommen wie andere, bereits etablierte Kulturgüter. Diese Entwicklung entspricht in ihrer Grundtendenz derjenigen anderer Medien wie Film oder Comic, deren kulturelle Bedeutung ebenfalls erst einige Zeit nach ihrer Erfindung gesellschaftlich anerkannt und staatlich gefördert wurde.
Ganz gegensätzlich zum teils immer noch lebendigen Vorurteil vom weltfremden Historiker, der lieber in staubigen Archiven wühle als sich im Netz zu tummeln, waren gerade die Geschichtswissenschaften sehr früh dabei, als in den 1990er-Jahren erste Versuche stattfanden, die Potenziale von Netzpublikation und -kommunikation auch für die Geisteswissenschaften fruchtbar zu machen. Viele der damaligen Initiativen haben sich – nicht zuletzt durch das Engagement Einzelner – bis heute gehalten, sich stetig weiterentwickelt und sind inzwischen Plattformen geworden, die wichtige Rollen im Arbeitsalltag der Wissenschaftler spielen, denken wir etwa an „H-Soz-u-Kult“ oder an die „sehepunkte“.