Visual-History
Der fotografische Akt
(2020)
Um Missverständnisse gleich vorwegzunehmen: Bei diesem Text geht es keineswegs um die Beschäftigung mit der fotografischen Form des Akts als einem zentralen Motiv der Kunstgeschichte. Stattdessen wird der fotografische Akt hier als der Akt des Fotografierens verstanden. Es geht also um die Situation, in der Fotograf*in, Fotografierte und Kamera aufeinandertreffen und aus der in der Regel ein Bild entsteht. Damit einher geht die Einschränkung, dass die hier dargelegten Argumente vor allem auf Situationen zutreffen, in denen Menschen fotografiert werden. Während mit „Bildethik“ oft pauschal diverse Aspekte von Fotografie gemeint werden, die sowohl die Ästhetik und die Bildlichkeit als auch die Produktion umfassen, fällt bei einer Zerlegung des fotografischen Prozesses in seine Einzelteile auf, dass sich verschiedene bildethische Fragen stellen.
Viele Aborigines und Torres-Strait-Insulaner*innen vermeiden Darstellungen von kürzlich Verstorbenen in Filmen oder auf Fotos sowie die Nennung ihrer Namen. Dies gilt als schmerzhaft und respektlos den Angehörigen gegenüber und könnte den Übergangsprozess des Toten ins Jenseits stören. Ob und wie lange diese Vermeidungsgebote bis hin zu Darstellungs- und Nennungsverboten angewandt werden, ist abhängig von den unterschiedlichen Communities der First Australians sowie individuellen ethischen Vorstellungen von Angehörigen.
Das australische Nationalarchiv entschied sich bei der digitalen Präsentation seiner Film- und Fotosammlung für den oben erwähnten Warnhinweis – um der Verletzung von Gefühlen vorzubeugen und Respekt gegenüber den kulturellen Werten der Aborigines und Torres-Strait-Insulaner*innen auszudrücken. Die Abbildungen von verstorbenen First Australians würden einige Wissenschaftler*innen als „kulturell sensibel“ bezeichnen.
Wie gehen andere Archive, Museen, Universitäten und weitere Institutionen mit sensiblen Bildern und Objekten in ihren Sammlungen um? Was sind Problemfelder und Lösungsansätze? Transparenz und Partizipation sind zwei zentrale Stichworte hinsichtlich des Umgangs mit sensiblen Objekten in Sammlungen.
Kontrollverlust
(2020)
Sie habe versucht, das Bild unsichtbar zu machen, gestand die Fotografin Nina Berman 2016 in einem Vortrag über ihr Hochzeitsfoto einer jungen Frau mit einem schwer verletzten Veteranen aus dem Irak-Krieg: „It’s a very strange thing”, so Berman, „to have fought really hard in my career to make a story known about a subject that people were trying to hide, which is the human cost of war, and then feeling that I need to keep this picture, which I know is a very powerful picture, under wraps because for me the viral experience was very crass.“
Die mexikanische Fotojournalistin Julia Le Duc nahm das Foto der Toten am Montag, dem 24. Juni 2019, auf. Der vorliegende Beitrag nimmt dieses im Juni 2019 weltweit verbreitete Foto zum Anlass, um über Bildzirkulation und Medienkritik nachzudenken. Nach einer Kontextualisierung des Fotos einerseits mit dem Fall Alan Kurdi, andererseits mit Folgebildern der Hinterbliebenen und Überlebenden, führt der Beitrag neuere Foto- und Bildtheorien von Ariella Azoulay, Lilie Chouliaraki, Robert Hariman und John Louis Lucaites weiter. Die These lautet, dass über Fragen der Bildethik hinaus es vor allem darum gehen muss, Gesellschaften so zu verändern, dass – auch strukturelle – Gewalt nicht mehr stattfindet. Hierin liegt die imaginativ-transformative Kraft des Fotojournalismus.
Zeigen / Nichtzeigen
(2020)
Der Ausgangspunkt dieses Textes ist die Frage nach dem Zeigen oder Nichtzeigen von Bildern in Online-Ressourcen aus wissenschaftsethischer Sicht (der Ethnologien). Wobei das konkret zu problematisierende Material vorwiegend aus Fotografien von Menschen aus ethnologischen Forschungskontexten bis mindestens zur Mitte des 20. Jahrhunderts besteht, jedoch auch auf weitere Bildkontexte im Zeitalter des Kolonialismus/Imperialismus übertragen werden kann. Gleichzeitig soll auch die Perspektive einer Infrastruktureinrichtung beleuchtet werden, die für die ethnologischen Fächer Literatur im Rahmen der sogenannten Massendigitalisierung frei zur Verfügung stellt. Dieses fotografische Material wirft Fragen allgemeiner ethischer Natur (Menschenwürde) sowie zum Opferschutz, zu Persönlichkeitsrechten, aber auch zu Rassismus, Selbstrepräsentation und den repräsentierten Machtverhältnissen auf, die in einem separaten Beitrag von uns detaillierter besprochen werden.
Ästhetisierung
(2020)
Ist es ethisch vertretbar, Menschen in Not ästhetisch ansprechend zu zeigen? Birgt dies die Gefahr, eine eigentlich erschreckende soziale Realität zu verklären und die Gemüter zu beruhigen, anstatt aufzurütteln und zum Handeln zu motivieren? Oder steckt in einer solchen Darstellungsweise die Chance, Aufmerksamkeit für ein Thema zu schaffen, da sie Marginalisierten ein Gesicht verleiht, mit dessen visuell vermittelter, unantastbarer Würde sich die Betrachterinnen und Betrachter identifizieren können?
Othering begegnet uns nicht nur im geschriebenen Wort. Es kann sich ebenfalls in der Kombination von Bild und Text manifestieren. Wie wichtig eine Reflexion der Artikelbebilderung durch die Redaktion ist, möchte ich im Folgenden anhand eines Artikels der „Berliner Morgenpost“ veranschaulichen. Hierzu ist ein poststrukturalistisch orientierter Zugriff besonders geeignet, da hier die Auffassung vertreten wird, dass die Bedeutungen den Dingen nicht immanent sind, sondern sie ihnen diskursiv zugewiesen werden. Somit werden im Diskurs die Dinge erst als soziale Phänomene konstituiert, über die gesprochen bzw. geschrieben wird. Mittels einer solchen anti-essentialistischen Perspektive auf Identitäten kann die Forschung dazu beitragen, binäre Identitätskonstruktionen aufzudecken, zu hinterfragen und letztlich zu überwinden.
Vernichtungskrieg und Provenienzforschung. Der nationalsozialistische Kulturgutraub in Osteuropa
(2020)
Mit dem deutschen Überfall auf Polen 1939 begann ein rassistischer Vernichtungskrieg in Osteuropa, der den Tod von Millionen von Zivilisten einkalkulierte. Der Eroberungsfeldzug wurde begleitet von einem systematischen Kunst- und Kulturgutraub durch die deutschen Einheiten in den eingenommenen Gebieten.
Heute startet das Themendossier „Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet“ auf Visual History. In den folgenden Wochen werden wir Beiträge präsentieren, die sich aus wissenschaftlicher, archivalischer und musealer Perspektive Fragen der Bildethik in Dokumentations- und Forschungsprojekten, Zeitschriftenredaktionen, Online-Archiven, Museen und Ausstellungen widmen. Mit diesem Themendossier wollen wir einen Austausch zum Umgang mit historischem Bildmaterial in Online-Umgebungen anregen. Viele Beiträge gehen auf einen Workshop zurück, der am 18. März 2019 am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam stattgefunden hat.
Ende September 2020 ist im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam die Ausstellung „Mensch Brandenburg! 30 Jahre, 30 Orte, 30 Geschichten“ eröffnet worden. Anlässlich des 30. Jahrestags der Gründung des Bundeslands unternimmt die Ausstellung eine Entdeckungsreise zu 30 Orten und den damit verbundenen Themen und Menschen, die Brandenburg in den letzten 30 Jahren geprägt haben: verwaiste Landstriche und boomende Metropolregionen, verschwundene Orte und neue Seenlandschaften, wortkarge Menschen und Geschichtenerzähler, die Treuhand, der Wolf, die Braunkohle, der BER – und nicht zuletzt sehr viel Natur. Neben den Porträts von 30 Menschen, die über ihre Arbeit und ihr Engagement erzählen, wird jeder vorgestellte Ort in der Ausstellung visuell gerahmt. Die Fotografien erzählen von der Zeit der Transformation nach 1989, von den politischen und strukturellen Umbrüchen der letzten drei Jahrzehnte. Gemacht hat diese Bilder der Fotograf Sven Gatter.
„zurückGESCHAUT“ ist in diesem Zusammenhang deutschlandweit eine der ersten Dauerausstellungen zur deutschen Geschichte von Kolonialismus, Rassismus und Widerstand. Deshalb stellt sich die Frage, wie die Ausstellungsmacher*innen diskriminierende und kolonialrassistische Fotografien im Hinblick auf bildethische Grundsätze in ihr Ausstellungskonzept integriert haben. Seit 2017 thematisiert die Ausstellung im Museum Treptow in Berlin die sogenannte Erste Deutsche Kolonialausstellung im Treptower Park als einen eigenständigen Teil der Berliner Gewerbeausstellung von 1896. Nachdem im Folgenden mit der Berliner Gewerbeausstellung von 1896 der historische Gegenstand, in einem Exkurs das Bezirksmuseum Treptow sowie die Inhalte und der Aufbau von „zurückGESCHAUT“ vorgestellt werden, soll der Fokus im Zusammenhang mit der aufgeworfenen Frage auf dem sogenannten Raum mit dem Opernglas liegen. In diesem wird unter anderem das von Bismarck Bell erworbene Opernglas ausgestellt.
Im Jahr 2014 beschloss die zwölf Jahre nach ihrem Tod von Freund*innen der Fotografin gegründete Abisag Tüllmann Stiftung die Übergabe des fotografischen Werks an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Letztere sollte den Nachlass Abisag Tüllmanns sichern, erschließen und zugänglich machen. Der damalige Leiter der bpk-Bildagentur Hanns-Peter Frentz und Heidi List als Vertreterin der Abisag Tüllmann Stiftung verfolgten mit ihrer Arbeit das Ziel, einen Großteil des Nachlasses nicht nur für die wissenschaftliche, sondern auch für die allgemeine Öffentlichkeit zu bewahren und online zugänglich zu machen.
Eine Reise nach Flensburg zum Visual Historian Gerhard Paul wäre ohne eine beispielhafte Bildanalyse von ihm sicherlich unvollständig. Genau aus diesem Grund baten Christine Bartlitz und Josephine Kuban ihn im Rahmen des im September 2020 geführten Interviews (https://visual-history.de/2021/03/15/gelernt-habe-ich-im-laufe-der-zeit-viel-mehr-auf-das-bild-selbst-zu-achten-interview-gerhard-paul/) um die Auswahl eines Bildes und eine anschließende Bildbeschreibung, -analyse und -interpretation. Keine zehn Minuten später lag eine Analyse der Fotografie des vietnamesischen Mädchens Kim Phúc vom 8. Juni 1972 des Fotografen Nick Ùt vor. Sie kann exemplarisch als eine Anleitung zum Umgang mit Bildern in der Geschichtswissenschaft genutzt werden – und ist der Auftakt für weitere Grundlagentexte und methodische Einführungen in die Visual History auf visual-history.de.
Die montierte Stadt. Das Berlin der Weimarer Republik in zwei Graphic Novels der 2000er Jahre
(2021)
Vom Königreich Preußen bis zur Bundesrepublik Deutschland: Berlin war in seiner wechselhaften Geschichte die Hauptstadt unterschiedlichster Staatsformen und Gesellschaften. Mittlerweile ist es auch zur „Hauptstadt des Comics“ geworden, zu einem Zentrum, aber vor allem auch Objekt von Comicproduktionen. 2012 zählte der Journalist Lars von Törne fast 100 Comic-Hefte und Graphic Novels, die Berlin zum Schauplatz haben. Seitdem hat sich ihre Zahl stetig vergrößert, und die Vielfalt an historischen sowie gegenwärtigen Themen und künstlerischen Stilen ist immens. Im Folgenden soll anhand von zwei Graphic Novels, die beide in der Zeit der Weimarer Republik angesiedelt sind, besprochen werden, wie diese stadtgeschichtliche Epoche eine grafisch erzählende Verarbeitung findet: Jason Lutes’ „Klassiker“ „Berlin – Steinerne Stadt“ (erster Teil der ab 2003 in der deutschen Übersetzung von Heinrich Anders beim Carlsen-Verlag erschienenen Trilogie) und der deutlich weniger bekannte Band „Wolkenbügel – Berlin im Rausch“ von Sebastian Strombach (erschienen 2018 im Jovis Verlag).
Zum 70. Jahrestag des Warschauer Aufstands ließ die Landeszentrale für politische Bildung in Hamburg in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsbereich Public History der Universität Hamburg, dem Museum des Warschauer Aufstands in Warschau sowie dem Verlag Leica Fotografie International eine historisch-fotografische Ausstellung unter dem Titel „Auf beiden Seiten der Barrikade. Fotografie und Kriegsberichterstattung im Warschauer Aufstand 1944“ erarbeiten. Die Ausstellung wurde am 1. Oktober 2014 im Mahnmal St. Nikolai in Hamburg eröffnet und ist seitdem an mehreren Orten in Deutschland präsentiert worden.
Ausgangspunkt für dieses Projekt war die Entdeckung, dass neben deutschen Fotografen, die den Aufstand dokumentiert haben – Mitglieder der Propagandakompanien (PK) der Wehrmacht und SS, die seit den 1930er Jahren standardmäßig mit Leica-Kameras ausgestattet wurden –, auch die Mehrzahl der Fotograf*innen unter den polnischen Kriegsberichterstatter*innen (PSW – Prasowi Sprawozdawcy Wojenni) mit einer Leica in Warschau fotografierte.
Der Historiker Gerhard Paul gehört zu den wichtigsten Vertreter*innen der deutschsprachigen Visual History. Er war bis 2016 Professor für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der Europa-Universität Flensburg, wo er seit seiner Pensionierung als Seniorprofessor weiterforscht. Das von Christine Bartlitz und Josephine Kuban für das Online-Portal „Visual History“ (www.visual-history.de) geführte multimediale[1] Interview stellt die Privatperson ebenso wie den renommierten Wissenschaftler vor, der 1951 in Hessen geboren wurde, und verschränkt dies mit aktuellen Fragen zum Forschungsfeld der Visual History rund um die Methoden, den Stellenwert in den Geschichtswissenschaften und Debatten zu Bild- und Urheberrechten.
Es ist Donnerstag, der 29. September 1870. Seit dem gestrigen Tag schweigen in Straßburg – neben Metz die am stärksten befestigte Stadt Frankreichs – die Waffen. Die seit dem 12. bzw. dem 23. August andauernde Belagerung bzw. Bombardierung der Stadt durch Truppen des Norddeutschen Bundes unter Führung Preußens sowie der mit ihm verbündeten süddeutschen Staaten Bayern, Baden, Württemberg und Hessen-Darmstadt hat mit der Kapitulation des lokalen französischen Befehlshabers ein Ende gefunden. Die deutschen Nachbarn haben ihren Besitzanspruch auf die alte Reichsstadt gewaltmäßig durchgesetzt.
Der historische Symbolwert Straßburgs und das Ausmaß der Zerstörungen ziehen Journalisten, Pressezeichner sowie etwa ein Dutzend Fotografen an und machen die Kapitulation der Stadt zu einem multimedialen Ereignis, das gleichermaßen in Wort und Bild festgehalten wird.
In den vergangenen Jahren hat das Thema der Translokation von Objekten, mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Verlagerung von Kunstwerken, und der Frage ihrer Restitution eine stärkere Präsenz in der öffentlichen Wahrnehmung erhalten. Mit „Beute. Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe“ gesellt sich nun eine Übersicht der visuellen Repräsentation von Kulturgutverlagerungen unter asymmetrischen Machtverhältnissen und deren Folgen zum größer werdenden Reigen von Publikationen zu diesem Themenkomplex hinzu. Der „Bildatlas“, zusammen mit einer Anthologie von Texten zum Thema, ist die erste Publikation der Ergebnisse des von 2017 bis 2020 von Bénédicte Savoy an der Technischen Universität in Berlin geleiteten Forschungsclusters translocations – Historical Enquiries into the Displacement of Cultural Assets.