Zeithistorische Forschungen
The newly emerging historical scholarship on the era ›after the boom‹, on the marketization of societies in the wake of the neoliberal political reforms, deregulation, and privatization starting in the 1970s, has emphasized this threshold as an epochal break that was driven by large-scale structural shifts in the global economy, in social relations, and in cultural identities. This new accentuation of the economic and social transformation has, for good reason, eclipsed older historical traditions that focused on events, discourses, specific interests, and individual actors. The marketization of social relations is thus often considered to be the result of processes beyond the reach and scope of purposeful actors that promoted specific societal changes. While this historical focus is quite right in denying independent causal status to specific agents and the self-aggrandizement of vain leaders and their intellectual entourage, it tends to obscure the historical genesis of ideas and concepts that later became critical components of political leadership, and the specific constellations of interests, knowledge and actors that did prefigure and originally promote the marketization of economic and political institutions.
Milton Friedman hung up the phone in disgruntlement. The most influential economist of the postwar era had just called three different banks, one in Chicago and then two in New York, in order to initiate a financial transaction. He wanted to sell short $300,000 in pound sterling. Short selling is a technique for speculating on falling prices. Initially, speculators can only speculate on rising prices: they buy something and hope that it gains value, so that they can sell it at a profit. If the price for this asset goes down instead, the speculator incurs a loss when he resells it. So in order to profit from falling prices, speculators need to sell first and buy later – which is indeed possible if what is sold now is in fact only to be delivered a few weeks later. If the speculator is right and prices fall in the interim, he can buy cheap just before delivery is due and thus profit from having already sold what, at the time, he had not yet owned.
In seiner Geschichte der jüngsten Vergangenheit Amerikas, die 2011 unter dem Titel »Age of Fracture« erschien, begreift der Historiker Daniel T. Rodgers die wirtschaftlichen Veränderungen, die sich seit den 1970er-Jahren vollzogen, in ideengeschichtlicher Perspektive als »Wiederentdeckung des Marktes«. Paradoxerweise sei die Idee und Rhetorik des Marktes, als eines abstrakten und dekontextualisierten Prinzips, das auf eine Vielzahl menschlicher Lebensbereiche angewendet werden könne, gerade zu dem Zeitpunkt populär geworden, als allenthalben Marktversagen zu beobachten gewesen sei.[1] Die entscheidende Veränderung der letzten Jahrzehnte, die sich im Bereich der akademischen Wirtschaftswissenschaften vollzogen habe, fasst Rodgers als »an effort to turn away from macroeconomics’ aggregate categories and try to rethink economics altogether from microeconomic principles outward«.[2] Mit der Erklärung makroökonomischer Phänomene auf der Basis mikroökonomischen Verhaltens sei zugleich versucht worden, immer weitere Gesellschaftsbereiche über die Prinzipien individueller Nutzenmaximierung zu erklären.
»Free to Choose«. Die Popularisierung des Neoliberalismus in Milton Friedmans Fernsehserie (1980/90)
(2015)
In einem engen, stickigen Kellerraum irgendwo in Rochester, New York, klingeln die Telefone, es ist viel zu tun. Von überallher laufen Aufträge ein, denn die Firma P.H. Brennan Hand Delivery, die hier ihren Sitz hat, prosperiert. Pat Brennan, eine kleine, schmächtige Frau, die entschlossen in die Kamera blickt, ist die Gründerin der kleinen Firma. Die Kamera zeigt, wie sie als Zustellerin, mit Briefen beladen, zu Fuß durch Rochester läuft. Hinter ihr droht das große, einschüchternde Gebäude des United States Post Office. Ganz ähnliche Hochhäuser waren in dieser Serie schon früher zu sehen: In ihrer schieren Massivität visualisieren sie sehr genau das, was Milton Friedman, der die Geschichte aus dem Off kommentiert, big government nennt. Big government nämlich zerstört wenig später Pat Brennans prosperierendes Kleinunternehmen. In den USA des Jahres 1978 ist die Post ein gesetzlich gesichertes Staatsmonopol. Brennan Hand Delivery muss deshalb schließen, nach einem auch gerichtlich ausgetragenen Kampf gegen die Regierung. Die letzte Kameraeinstellung zeigt den Kellerraum, der die Firma beherbergte, still, leer und verlassen. Diesen Kampf gegen Goliath hat David verloren.
Marketization is a broad term with a wide range of meanings. It encompasses measures of deregulation and privatization as well as the perceived increase of an ›economic‹ logic in social relationships. For historical purposes, the term should not be narrowly defined, and nor should the concept of marketization be used in an ahistorical manner detached from contemporary usage. However, there are two questions which the historical analysis of marketization needs to address. First, what is the conceptual understanding of the market mechanism to which the term marketization is linked? Second, what is the relationship between marketization and economic theory?
»What was it that converted capitalism from the cataclysmic failure which it appeared to be in the 1930s into the great engine of prosperity of the post war Western world?« (S. 3) Das ist die Leitfrage von Andrew Shonfields vor 50 Jahren erschienenem Buch über den »modernen Kapitalismus« der 1960er-Jahre. Wie konnte es zu dem »Goldenen Zeitalter« (Eric Hobsbawm), also der fast drei Jahrzehnte andauernden Nachkriegsprosperität kommen, nachdem der Kapitalismus im Zuge der Großen Depression abgewirtschaftet zu haben schien und sich eine breite ordnungspolitische Debatte um alternative Wirtschaftsformen entwickelt hatte?
Theory matters. Most historians would probably agree with this postulate, in the sense that theories from disciplines such as sociology, economics or psychology can sharpen historical analyses of any topic (though many of them may prefer quite pragmatic, common-sense approaches in their own empirical studies). But when it comes to a historical understanding of a phenomenon like marketization, theory does remain an analytical resource – and at the same time turns into a multifaceted object of research. The way we think about markets is highly affected by theorists, and not only by their ideas but also by their effectiveness in making them influential over specific periods of time.
Stress ist ein ubiquitärer Begriff – seine geschichtswissenschaftliche Erforschung aber hat erst begonnen. Der Aufsatz skizziert programmatisch die Genese und die Funktionen des Stresskonzepts im 20. Jahrhundert. Dabei wird Stress nicht in erster Linie als Syndrom und Krisenphänomen betrachtet, sondern als Deutungs- und Handlungsangebot westlicher Gesellschaften, die sich als instabil, wandelbar, innovativ und dynamisch begreifen. Die performative Kraft des Stresses als Modus gesellschaftlicher Selbstreflexion wird in vier historisch und systematisch aufeinander bezogenen semantischen Feldern untersucht: Stress als Regulations- und Anpassungsmodell, Stress als Prinzip der Wettbewerbsgesellschaft (mit engen Beziehungen zu Arbeit, Leistung und Erfolg), Stress als Zivilisationskritik (mit der stressfreien Gesellschaft als utopischem Gegenbild) sowie Stress als flexible Ökologie von Mensch-Umwelt-Verhältnissen. Dabei handelt es sich weniger um eine chronologische Ordnung als vielmehr um Deutungsvarianten, die in unterschiedlichen Verwendungskontexten aufkamen und sich im heutigen Stressbegriff überlagern.
In der westdeutschen Universitätsmedizin galt Stress zunächst als deskriptive Laborbeobachtung und nur wenig origineller Versuch des Hormonforschers Hans Selye, die Regulationsmechanismen des Körpers mit einem ganzheitlichen Konzept zu beschreiben. Selyes in Kanada entwickelte Ansätze fanden in der Bundesrepublik kaum positive Resonanz; das Stresskonzept schien in den 1950er-Jahren keine Zukunft zu haben. Dies änderte sich in den 1960er-Jahren, als Stress über das Risikofaktoren-Modell mit der Diskussion um Herz- und Kreislauferkrankungen verbunden wurde. Stress wurde nun Leitbegriff und Forschungsressource von Disziplinen wie Sozialmedizin, Psychosomatische Medizin, Arbeitsmedizin und Präventivmedizin. Um 1970 trat zu den Bezugsebenen »Zivilisation« und »Gesellschaft« noch »Umwelt« hinzu. Insbesondere drei Bedrohungsszenarien erwiesen sich als Stimuli der medizinischen Stressforschung: Überbevölkerung und Verstädterung, Verkehr und Lärm sowie der Wandel der Arbeitswelt. Weit über wissenschaftliche Verwendungen hinaus wurde der Stressbegriff populär, weil er zeitdiagnostisches Deutungspotential gewann und sich als eine Verständigungsplattform der Verunsicherten eignete.
Wie reagieren Menschen auf Katastrophen? Wie lassen sich Bevölkerungen in Extremsituationen führen? Mit diesen Fragen beschäftigten sich in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren mehrere US-amerikanische, teilweise durch die Armee finanzierte Forschungsgruppen. Sie waren interdisziplinär zusammengesetzt, aber mehrheitlich soziologisch ausgerichtet. Innerhalb wie außerhalb der USA studierten sie das Stressverhalten von Individuen und Gruppen in Tornados, eingeschneiten Autobahnraststätten und »racial riots« sowie ergänzend in Laborsimulationen. Anhand zeitgenössischer Publikationen und interner Akten werden in diesem Aufsatz die Erkenntnisinteressen und Untersuchungsfelder der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung, ihre Befunde und deren Nutzung dargestellt. Die Tätigkeit der Wissenschaftler/innen stand im Kontext des Kalten Kriegs und eines sich verschiebenden Gefahrensinns. Dabei ließen sich die Forscher/innen keineswegs vollständig politisch vereinnahmen, sondern verfolgten durchaus eigene Interessen und gaben mitunter Antworten, die den Intentionen der Auftraggeber zuwiderliefen.