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„Berlin, die Insel der Freiheit“, müsse „politisch und wirtschaftlich so widerstands- und leistungsfähig gemacht werden“, dass es als „Vorort der freien Welt“ auf den Osten Berlins ausstrahle. Nichts geschehe im Westteil der Stadt, was im Sowjetsektor nicht verglichen und gewertet würde, bemerkte der Regierende Bürgermeister Walther Schreiber (CDU) im April 1954. Nur wenige Monate später formulierte der ostsektorale Magistrat wie folgt: In Berlin „existieren auf engstem Raum zwei Ordnungen nebeneinander. Die Menschen haben täglich unmittelbare Vergleichsmöglichkeiten. Vom demokratischen Sektor muß daher eine magnetische Kraft ausstrahlen, daß alle Werktätigen Berlins diesem Beispiel echter Demokratie zu folgen bereit sind.“ Kaum einen Zeitgenossen des Jahrzehnts nach der politischen Spaltung Berlins im Jahre 1948 überraschten diese im Kern sehr ähnlichen Aussagen, obwohl hinter ihnen einander diametral entgegengesetzte gesellschaftliche Ordnungen und politische Interessen standen. Beide Teile Berlins trennte und verband ein allgemeines Phänomen: der Konflikt zwischen dem parlamentarischen, rechtsstaatlich verfassten liberalen Westen und der östlichen kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Muster.
Als Christoph Kleßmann in den 1990er Jahren erstmals seine Überlegungen zu einer »asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte« formulierte, war ein solcher Ansatz nicht unumstritten. Wenn beide deutschen Nachkriegsgesellschaften überhaupt zusammen beschrieben wurden, so geschah dies meist im Modus einer normativ aufgeladenen Kontrastgeschichte. Auch die Frage nach Verflechtungen und Transfers stieß seinerzeit angesichts der noch hitzig geführten Debatte um den historischen Vergleich und die jüngere Kulturtransferforschung auf Widerstände. Heute haben sich diese Auseinandersetzungen längst überholt. Die Frage nach Verflechtungsprozessen bedarf nicht länger einer besonderen Legitimation. Ganz im Gegenteil: Seit Jürgen Kockas Kritik an der Verinselung der DDR-Forschung dient das Verflechtungsparadigma vielfach als Rechtfertigung, um sich überhaupt noch mit der Geschichte der DDR zu beschäftigen.
Es gehört zum Konsens der Historiografie des 20. Jahrhunderts, Berlin als komplexen symbolischen Ort der deutschen Geschichte zu charakterisieren. Die Perspektive auf Berlin als widersprüchlicher Kulminationspunkt der Moderne ist genauso etabliert wie die Sichtweise auf die Metropole als »Symbol« der Ost-West-Konfrontation. Die symbolische Vielschichtigkeit, die die Geschichtswissenschaft Berlin attestiert, lässt sich exemplarisch in den viel beachteten »Deutschen Erinnerungsorten« beobachten. Während es den Herausgebern gelang, Dresden (Heimat), Heidelberg (Romantik), Weimar (Dichter und Denker) oder Karlsruhe (Recht) jeweils auf eine Zuschreibung zu konzentrieren, scheint dies für Berlin offenbar nicht möglich gewesen zu sein. Unter sechs von insgesamt 18 Oberkategorien finden sich Artikel zu Berliner Orten und Institutionen: Führerbunker und Reichstag (Reich), Mauer (Zerrissenheit), Brandenburger Tor (Revolution), Freiheitsglocke (Freiheit), Palast der Republik (Moderne), Museumsinsel und Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (Bildung).
Wahrend sich die aktuelle wissenschaftliche Beschäftigung mit Stress nicht mehr überblicken lässt, war dies zu Beginn der Stressforschung anders. Die Anfänge fallen in die anderthalb Dekaden zwischen Mitte der 1930er und den beginnenden 1950er Jahren und führen nach Nordamerika. Dort waren es zuerst die Endokrinologie und die Militärpsychiatrie, seit 1945 auch die Psychosomatik, Psychologie und Sozialmedizin, die sich für medizinische Fragen zu interessieren begannen, die wir heute unter der Bezeichnung Stress subsumieren.
Jürgen Habermas stellte vor einiger Zeit fest, dass Bürger diejenigen »Krisen«, die durch den Abbau staatlicher Leistungen im Bereich der Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen entstehen, als »lebensweltlichen Stress« erlebten. Das Wort »Stress« hat sich nicht nur in der gesellschaftsdiagnostischen Fachliteratur einen legitimen Platz erobert, sondern auch im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs enorm verbreitet, und ebenso die Praktiken zu seiner Bewältigung. »Nicht mehr Staat und Gesellschaft, sondern der multioptional einsetzbare Einzelne bildet nun den Knotenpunkt aller Verhältnisse. Im Fall der Ich-AG ist jeder Einzelne sogar Arbeiter und Unternehmer in einer Person; er ist Selbstmanager und Direktvermarkter und damit allein zuständig für Scheitern und Gelingen seines Lebens.«
Was ist soziale Ungleichheit und welche Erklärungen gibt es dafür? Das ist das zentrale - in Öffentlichkeit, Medien und im Privaten immer wieder heiß diskutierte - Thema dieses Readers. Es berührt Fragen wie: Warum verdienen Manager deutlich mehr als die Beschäftigten des Unternehmens? Warum benötigt man als Ingenieur einen Hochschulabschluss? Warum gibt es so wenige Frauen in Führungspositionen? Und warum gehen Kinder aus Akademikerfamilien eher auf das Gymnasium und die Hochschule als Kinder aus Arbeiterfamilien? Fürall diese Fragen scheint es im Alltag schnelle Antworten zu geben: Manager haben eine höhere Verantwortung für das Unternehmen als die Beschäftigten. Ingenieure müssen sich als Grundlage ihrer Berufstätigkeit zahlreiche Kompetenzen auf einer Hochschule aneignen. Frauen wollen wegen ihrer Kinder nicht in Führungsposition. Oder Kinder aus Akademikerfamilien wissen mehr und erhalten deshalb bessere Noten als Arbeiterkinder. Diese Antworten scheinen plausibel - und sie können für Einzelpersonen auch durchaus richtig sein. Dennoch greifen sie viel zu kurz: Sind es Antworten, die für alle oder die meisten Angehörigen der jeweiligen sozialen Gruppe, also regelhaft zutreffen? Was ist mit verantwortungslosen Managern, hoch
kompetenten Do-it-yourself-»Ingenieuren«, kinderlosen Frauen oder Akademikerkindern, die andere Stärken haben als wissenschaftliche?
Wie kann man soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft erforschen, die sich durch immer weitergehende soziale Gleichheit auszeichnen will? Wie kann man in einer Gesellschaft, der politisch ein spezifischer Blick auf sich selber verordnet ist, soziologisch informierte Kategorien einbringen, die gleichzeitig dem Anspruch genügen, praktisch zur Weiterentwicklung der Gesellschaft beizutragen? Diesem Fragenkomplex sind die folgenden Überlegungen gewidmet. Sie fragen also nach einem spezifischen Typ der Repräsentation sozialer Ordnungen unter den besonderen politischen Bedingungen einer sozialistischen Diktatur. Damit ändern sich einige der Bedingungen, unter denen sozialwissenschaftliche Beschreibungen Wahrheitsansprüche erheben können: Sie liefern Bilder von einer Gesellschaft, die sich einerseits in der Bestätigung durch andere sozialwissenschaftliche Beschreibungen erweisen müssen. Andererseits müssen sie sich auch immer in den Augen der Untersuchten selbst bewähren.
Auch zwei Jahrzehnte nach dem Untergang der realsozialistischen Gesellschaften Mittel- und Osteuropas leistet ihre Analyse einen grundlegenden Beitrag zur empirischen Sozialforschung und soziologischen Theoriebildung. Nur im Vergleich zwischen kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaften ist zurechenbar, welche Mechanismen gesellschaftlicher Differenzierung und sozialer Statusreproduktion systemübergreifenden Charakter besitzen und welche nur in ihren spezifischen sozioökonomischen und historischen Kontexten auftreten und aus diesen erklärt werden können. Sozialistische Gesellschaften sind besonders wichtige Anwendungsfälle für die Elitentheorie und bedeutende Untersuchungsfelder für die Elitenforschung, weil sie eine Analyse der sozialen Struktur von Machtverhältnissen ermöglichen, die nicht in privaten Besitzverhältnissen begründet sind.
Der britische Sozialhistoriker Tony Judt wies in seinen letzten Lebensjahren wiederholt darauf hin, dass wir dazu neigen, das 20. Jahrhundert »in eine Gedenkstätte zu verwandeln, eine pädagogisch nützliche historische Schreckenskammer«. Doch im Zuge dieser Verwandlung des vergangenen Jahrhunderts in einen Erinnerungsort gehen nach Auffassung Judts wichtige gesellschaftliche und politische Erfahrungen verloren. Diese Erfahrungen sind freilich wichtig, um den wirtschaftlichen Wandel, die ökologischen Krisen und die sozialen Fragen von heute politisch bewältigen zu können. Was waren nach Auffassung Judts die beiden zentralen Bausteine dieser gesellschaftsgeschichtlichen Erfahrung des 20. Jahrhunderts? Einmal die Präsenz des Krieges als sozialer Zustand und zum anderen der Aufstieg der politischen Organisation des Staates.
Eine Betrachtung der Prävention im 20. Jahrhundert spiegelt zwangsläufig die Reformbewegungen, Einschnitte und Rückschritte, aber auch die zentralen Themen und Argumentationslinien wider, die auch die wechselvolle Geschichte der politischen Systeme und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen des vergangenen Jahrhunderts prägen. Häufig wurde der Prävention nur eine marginale Rolle für die Gesunderhaltung der Bevölkerung zugeschrieben - oft verbunden mit einer geringen Konzepthaftigkeit für die Prävention in der (Gesundheits-)Politik.
Gesundheit ist ein zentraler Begriff heutiger Gesellschaften. Er verbindet individuelles Wohlergehen und Eigenverantwortung mit kollektiven, sozialstaatlich gesicherten Ordnungsvorstellungen zum Erhalt von Leistungsfähigkeit und Lebensqualität. Der Erhalt von Gesundheit und die Verhinderung von Krankheit ist nicht nur eine private, sondern auch eine öffentliche Aufgabe. Gesundheit und Prävention sind nicht nur wandelbare, sondern auch „gesellschaftlich gebundene“ Begriffe. Damit ist nicht nur die Abhängigkeit präventiver Vorstellungen und Ziele von wissenschaftlichen Kenntnissen und ihrer Vermittlung gemeint, sondern - da Prävention nur gemeinsam zu realisieren ist - von dem gesellschaftlichen und institutionellen Ort, der ihr zugewiesen wird.
1983, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, äußerte sich die britische Sozialanthropologin Mary Douglas in ironischer Zuspitzung zur Risikowahrnehmung der amerikanischen Bevölkerung: „What are Americans afraid of? – Nothing much really, except the food they eat, the water they drink, the air they breathe [...].“ (Douglas 1983: 10) In einer Zeit, die vom Wettrüsten, einer schlechten Wirtschaftslage und horrenden Staatsdefiziten geprägt war, drehten sich die Alltagssorgen Amerikas nicht um die großen politischen und wirtschaftlichen Krisen der Zeit, sondern um banale Ernährungs- und Trinkgewohnheiten. Zweierlei ist bemerkenswert am Kommentar von Douglas. Er verweist einerseits auf die Alltäglichkeit moderner Risikovorstellungen und der damit verbundenen Präventionspraktiken. In der Tat haben gesundheitspolitische Popularisierungen und pathologisierende Formen der Zivilisationskritik in vielen westlichen Ländern dazu geführt, dass im 19. und 20. Jahrhundert überlieferte Formen des Essens und Trinkens problematisiert, aufgebrochen und zum Gegenstand eines gesundheitsorientierten Präventionsdiskurses gemacht wurden.
In Marktwirtschaften tragen die Unternehmen nur einen Teil der Kosten des Produktionsfaktors „Arbeit“. Sie entlohnen zwar die im Betrieb geleistete Arbeit, kommen jedoch nicht ohne weiteres für die Sicherung derer auf, die arbeitslos sind oder wegen Krankheit, Invalidität oder hohen Alters vorübergehend oder auf Dauer nicht erwerbstätig sind. Die betriebliche Kostenrechnung ist daher – wenn man die Betrachtung idealtypisch zuspitzt – von einem erheblichen Teil der sozialen Kosten des Produktionsfaktors „Arbeit“ entlastet. Mit anderen Worten: Die betrieblichen Entscheidungen sind nicht unmittelbar an gesamtwirtschaftlich oder gesamtgesellschaftlich definierte Aufgaben und Ziele gebunden; sie können sich vielmehr strikt an Rationalitätskriterien eigener Art orientieren, vor allem an Kriterien der Rentabilität. Diese „Externalisierung von Kosten der freien Verfügbarkeit des Produktionsfaktors Arbeit im freien Arbeitsvertrag“ (M. Rainer Lepsius) trägt zu der hohen Anpassungselastizität und Innovationsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Produktionsweise bei. Sie verlangt aber zugleich nach Institutionen der sozialen Sicherung, die die ausgelagerten Kosten auffangen.
Präventive Semantiken und Handlungsmuster sind ubiquitär geworden. Weit über die Medizin hinaus besitzt die Losung, Vorbeugen sei besser als Heilen, eine fraglose Plausibilität. Der planerische Optimismus, der noch bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts das Verhältnis zur Zukunft prägte, ist einer Kultur der Furcht und Schadensvorbeugung gewichen. Wenn es, ähnlich wie Zeitkrankheiten auch Zeitgefühle gibt, Grundstimmungen, in denen sich die Affektlage einer historischen Situation exemplarisch verdichtet, dann wäre die für unsere Gegenwart dominante Gefühlslage wohl das, was Craig Calhoun das »emergency imaginary« genannt hat (Calhoun 2004: 392; Opitz/Tellmann 2011: 27ff.). Es ist dieses durch Katastrophenmeldungen und düstere Zukunftsprognosen fortwährend aktualisierte Gefühl der Entsicherung, der Ausgesetztheit gegenüber allgegenwärtigen Gefahren und Risiken, aus dem die präventiven Semantiken und Strategien ihre Legitimität und Anziehungskraft gewinnen. Denormalisierungsangst und vorbeugende Normalisierung sind dabei untrennbar verbunden: Um den Normalbetrieb aufrechtzuerhalten, bedarf es geradezu regelmäßiger Signale drohenden Normalitätsverlusts. Diese fungieren als Frühwarnsystem und lösen Maßnahmen vorbeugender Gegensteuerung aus, oder sie immunisieren durch pure Gewöhnung an einen Schrecken, der für die meisten dann doch auf den Bildschirm beschränkt bleibt (Link 2009:11ff.).
Alter(n) hat sich in der Gegenwart grundlegend gewandelt. Aufgrund der Entwicklung in der Medizin haben heute viele ältere Menschen die Möglichkeit, die Lebensphase Alter nicht nur länger, sondern vor allem länger gesund zu erleben. Dies stellt nicht nur gesellschaftliche Institutionen, sondern auch das Individuum vor neue Herausforderungen. Alter(n) zeichnet sich durch eine nie gekannte Wahlfreiheit aus und sollte deshalb sinnvoll geplant und gelebt werden. Es entstehen neue Märkte und eine Vielfalt von Freizeitaktivitäten für ältere Menschen. Damit geht einher, dass das klassische dreiteilige Modell der Lebensphasen aufgebrochen ist. Statt der Kindheit und der Erwerbsphase einfach den Ruhestand und das Alter entgegenzusetzen, wird das Alter oft selbst noch einmal unterteilt, so dass seit einiger Zeit mindestens vier Lebensalter unterschieden werden.
Altersstrukturen im historischen Wandel. Demographische Trends und gesellschaftliche Bewertung
(2012)
Das Konzept der ,alternden Gesellschaft’ spielt im gegenwärtigen politischen Diskurs eine zentrale Rolle. Der Aufsatz versucht, dieses Konzept zu reflektieren, zu historisieren und damit auch zu entdramatisieren. Dazu dient zum einen ein Blick auf die Entwicklung der Altersstrukturen europäischer Gesellschaften in den letzten 600 Jahren, zum anderen eine kritische Bewertung der Befürchtungen und Hoffnungen, die in den verschiedenen Epochen am kontinuierlichen Wandel dieser Strukturen anknüpften.
Infrastrukturen und Umwelt in Ostmitteleuropa. Überlegungen zu einem wenig beachteten Forschungsfeld
(2013)
Beginnend mit Straßenbau- und später Eisenbahnprojekten setzte seit dem späten 18. Jahrhundert eine Entwicklung ein, die seit den Anfängen der Hochindustrialisierung zu einer dynamischen Erschließung von Kommunen und Regionen führte. Zum Teil fußend auf privaten Initiativen war es in erster Linie der Staat, der versuchte, seinen Einfluss mittels Administration und infrastruktureller Erschließung in der Fläche durchzusetzen. Neben der Integration durch Verkehr und Versorgung zielte der moderne Staat auf Herrschaft durch territoriale Durchdringung. Großprojekte wie Staudämme, Kanalbauten oder spektakuläre Brücken- oder Tunnelbauten standen symbolisch für diesen Anspruch. Die konsequent verfolgte Zielsetzung, Fläche zu „organisieren“, ermöglichte wiederum als Nebenprodukt auch den bewussten Schutz von als schützenswert erachteten Gebieten. Nicht selten handelte es sich dabei freilich um Regionen, die nicht ohne weiteres in effektive ökonomische Nutzungskonzepte integriert werden konnten, weswegen die infrastrukturelle Erschließung dort meistens erst nachgelagert unter dem Vorzeichen touristischer Nutzung erfolgte. Nach Jens Ivo Engels und Julia Obertreis „organisieren und verstetigen“ Infrastrukturen „Austauschprozesse zwischen dem Menschen und seiner Umwelt“. Die Untersuchung der Frage, auf welche Weise dies geschieht, also wie infrastrukturelle Erschließung geplant und durchgeführt wird und welche sozialen und ökologischen Folgen der Aufbau und Betrieb von Infrastrukturen oder auch deren Fehlen zeitigt, verspricht wichtige Erkenntnisse zum strukturpolitischen Agieren von staatlichen Akteuren. Sie öffnet zugleich den Blick auf zeitgenössische Bewertungen des Verhältnisses von Mensch und Umwelt.
Eine zentrale, einflussreiche und in der jüngeren Bundesrepublik-Forschung gut belegte These lautet, in der Mitte der 1970er Jahre sei eine Phase der »Planungseuphorie« oder auch des »Planungsbooms« zu Ende gegangen. Dieser These zufolge gab es in den »langen« 1960er Jahren unter den politischen und administrativen Eliten einen »kurzen Sommer der konkreten Utopie«, wie Michael Ruck es genannt hat. Gemeint ist damit die Vorstellung, Politik könne durch wissenschaftlich fundierte Vorausschau, durch den Rat der Experten und durch konkrete Planung gesellschaftliche Prozesse aktiv gestalten und damit dem Fortschritt auf die Beine helfen.
Im März 2001 stellte das Unternehmen DITEC vor dem Münchner Amtsgericht Antrag auf Insolvenz. Dieses Ereignis fand weitgehend unterhalb der Wahrnehmungsschwelle einer breiteren Öffentlichkeit statt und hatte auch wenig Spektakuläres an sich. Die DITEC-Insolvenz würde sich kaum von Tausenden ähnlicher Fälle jedes Jahr unterscheiden, wenn sie nicht den Endpunkt eines langen Niedergangs eines einstmals bedeutenden deutschen Computerherstellers markieren würde. Die DITEC kann als Gründung aus einer Notsituation heraus beschrieben werden. Sie war als eine Mitarbeitergesellschaft von damals rund 1.500 Beschäftigten verschiedener deutscher Tochtergesellschaften des US-Computerkonzerns Digital Equipment Corporation (DEC) entstanden. DITEC stand als Abkürzung für „Deutsche Informationstechnologie“. Der Verweis auf Datentechnik made in Germany war zum Zeitpunkt der Gründung 1995 eher trotzig gemeint und zielte gegen den damaligen US-amerikanischen Eigentümer DEC, in dessen Konzernstrategie kein Platz mehr für eine eigenständige Entwicklung und Produktion in der Bundesrepublik war. Die deutschen DEC-Töchter standen 1994/95 kurz vor der Schließung. Ein großer Teil der Mitarbeiter wollte aber das Ende ihres Betriebes nicht hinnehmen und hatte sich deswegen zusammengeschlossen und das Geld aus dem Sozialplan in einen unternehmerischen Alleingang investiert. Dafür nutzten sie die rechtliche Hülle der Digital-Kienzle Informationstechnologie GmbH & Co. KG mit Sitz in Villingen-Schwenningen, einer der zur Schließung anstehenden DEC-Tochtergesellschaften.
Führende Kenner der Vereinten Nationen haben Inis Claudes klassische Unterscheidung zwischen den »ersten UN« Mitgliedsstaaten) und den »zweiten« (Sekretariate) unlängst um die »dritten UN« ergänzt. Sie bestehen aus Nichtregierungsorganisationen (NGOs), beratenden Komitees sowie aus einzelnen Experten, Politikern und Aktivisten. Für viele Internationalisten der Nachkriegsjahre jedoch hingen die Aussichten einer demokratischen Weltordnung in letzter Instanz nicht von Regierungen, Sekretariaten oder auch den kosmopolitischen Eliten der dritten UN ab. Entscheidend für sie war vielmehr eine fiktive Gemeinschaft, die man als »vierte UN« bezeichnen könnte – eine Gemeinschaft einfacher Bürger, deren Loyalität auf die Vereinten Nationen gerichtet war. Das galt vor allem für die Anhänger der UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization/Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur). Im vorliegenden Beitrag untersuche ich diese fiktive Weltgemeinschaft, die jenen Internationalisten so lebhaft vor Augen stand, und analysiere die Strategien, mit der die neue vorgestellte Gemeinschaft verwirklicht werden sollte. Diese utopische Vision zerschellte schließlich an den harten Realitäten des Kalten Krieges. Jenseits der internationalen Politik leuchte ich zudem den Streit um ein UNESCO-Programm im Schulbezirk Los Angeles aus, um die komplexe Beziehung zwischen internationaler und lokaler Ebene zu verdeutlichen.
Die allgegenwärtigen Debatten über Globalisierung bewegen im anbrechenden 21. Jahrhundert auch die Geschichtswissenschaften. In den letzten Jahren ist die Nachfrage nach einer neuen Weltgeschichte unübersehbar gestiegen. Ob unter älteren Titeln wie Weltgeschichte und Universalgeschichte oder im Rückgriff auf den aus dem Englischen entlehnten neuen Begriff der Globalgeschichte werden in jüngster Zeit Ansätze diskutiert, die versuchen, die ganze Welt als neuen Bezugsrahmen historischer Analyse zu etablieren. Einig sind sich die Vertreter all dieser Ansätze darin, dass es gilt, den Nationalstaat als quasinatürlichen Rahmen historischer Analyse hinter sich zu lassen. Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang die nahezu ausschließliche Europabezogenheit historisch
er Arbeit in die Kritik geraten. Schließlich debattieren Historiker im Rahmen der neuen Weltgeschichtsschreibung über Globalisierung selbst. Die These, dass Globalisierungstendenzen nicht erst in den vergangenen 30 Jahren beobachtbar sind, sondern über eine längere Geschichte verfügen, die sich seit der Frühen Neuzeit nachzeichnen lässt, wird inzwischen von allen Seiten geteilt.
»Menschenrecht ist, sich einander als Wesen zu behandeln, die sich im Innern gleich und von Außen ähnlich, nur durch die Ungerechtigkeit so unkenntlich geworden sind.« Wer würde heute diesem Diktum eines vergessenen deutschen Publizisten aus dem Jahr 1789 widersprechen wollen? Die Menschenrechte gehören in der Gegenwart zu den wichtigsten Glaubensartikeln liberaler Demokratien. Wer die Menschenrechte anzweifelt, stellt sich anscheinend außerhalb der Grenzen einer universellen Moral im Zeitalter von Weltinnenpolitik. Oft erscheint das individuell-unveräußerliche »Recht auf Rechte« (Hannah Arendt) wie eine überhistorisch-naturrechtliche Selbstverständlichkeit. Die Menschenrechte sind die Doxa unserer Zeit, jene Überzeugungen einer Gesellschaft, die als verinnerlichte, evidente Ordnung stillschweigend vorausgesetzt werden und den Raum des Denkbaren und Sagbaren umgrenzen. Gestritten wird heute nur noch darum, wie man die Menschenrechte diesseits und jenseits des Nationalstaates zur Geltung bringen könnte. Ob sie überhaupt eine sinnvolle rechtliche oder moralische Kategorie für unser politisches Handeln darstellen, steht gleichsam außer Frage. Ziel der in diesem Band versammelten Autoren ist es, historisch zu verfolgen, wie die Menschenrechte in den globalen Krisen und Konflikten des vergangenen Jahrhunderts diese universelle Evidenz gewonnen haben.
Die Welt der Gegenwart zeichnet sich durch ein dichtes Netz von globalen, grenzübergreifenden Aktivitäten aus, zu denen die ungeheure Zahl von über 61.100 internationalen Organisationen ebenso beiträgt wie die Veranstaltung internationaler Konferenzen und Kongresse. Der stolze Hinweis auf die Partizipation an internationalen Organisationen gehört zur Selbstdarstellung moderner Außenministerien, und das politische Potenzial von Nichtregierungsorganisationen in der ganzen Breite zwischen WEF-Gegnerschaft und Olympischen Spielen prägt das heutige Verständnis von Internationalität. Angesichts dieser vielfältigen und weltumspannenden Netzwerke ist die Anzahl der derzeit 193 von der UNO anerkannten souveränen Staaten lächerlich gering - und dennoch gibt es keinen Grund, von einem Ende des Nationalstaates zu sprechen.
Innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft hatte es Politikgeschichte - ein überaus schillernder, selten genau bestimmter Begriff - seit Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre schwer. Politikhistoriker genannt zu werden, am besten noch mit dem Etikett „neorankeanisch“ versehen, war eine Brandmarke, gleichbedeutend mit den Attributen konservativ, traditionell, positivistisch oder ereignisgeschichtlich, entscheidungs- und handlungsfixiert, um nur einige zu nennen. Gesellschaftshistoriker waren demgegenüber - zumindest sahen sie selbst das so - progressiv, emanzipatorisch, aufklärerisch, theoriebewusst, Struktur- und prozessorientiert. Man mag dieses Schwarz-Weiß-Bild für Schnee von gestern halten, für oberflächlich politisch oder ganz einfach für unseriös. Doch es hat für rund zwei Jahrzehnte seine Wirkung entfaltet, die vor allem darin bestand, dass das Denken in schlichten Lagerkategorien die interne Dialogfähigkeit der deutschen Geschichtswissenschaft zerstörte und zur Herausbildung und weitgehend unverbundenen Koexistenz zweier historiographischer Kulturen führte.
Sowohl in den Kulturwissenschaften als auch in der Theologie hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr die Einsicht durchgesetzt, dass sich die historische Entwicklung von »Religion« und »Kirche« in der Bundesrepublik Deutschland nicht allein an den statistischen Daten zur formellen Kirchenbindung wie »Mitgliedschaft«, »Gottesdienstbesuch« oder »Abendmahlbeteiligung« ablesen lässt. Die ausschließlich aus der quantitativ datenanalytischen Außensicht gewonnene Perspektive bringt nur sehr unscharfe Parameter für die Erforschung moderner Religionsausübung zutage.
Gewalt verändert alles, und wer sich ihr aussetzt, wird für lange Zeit ein Anderer sein. Die Maßstäbe für Normalität verschieben sich, und was man für selbstverständlich halten konnte, erscheint im Licht der Gewalt seltsam fremd; Außergewöhnliches wird zum Alltäglichen. Nie wieder, erinnert sich der amerikanische Schriftsteller Denis Johnson, habe er die Gewaltexzesse vergessen können, deren Zeuge er im September 1990 in Liberia geworden war.
Quelle: Verlag
Wie kann man von der Migration im 20. Jahrhundert erzählen? Die Frage stellt sich bei jedem Versuch eines übergreifenden historischen Zugriffs auf das Thema Migration. In der Fachsprache ist der Begriff schon lange von den einschränkenden Präfixen Im- und E- befreit. Migration wird heute verstanden als Wanderung mit nicht unbedingt nur einer Richtung, multiperspektivisch zu betrachten, herausgelöst aus den herkömmlichen pauschalisierenden Fremdwahrnehmungen, die im Wort >Immigrant< mitschwingen.
Seit den 1980er-Jahren erlebt die wissenschaftliche Erforschung von Wanderungsprozessen international einen rasanten Aufschwung, und ein Ende der Konjunktur ist derzeit nicht in Sicht. Die Gründe für diesen Forschungsboom sind in erster Linie in aktuellen Konflikt- und Problemlagen zu suchen. Segregationserscheinungen in Kernbereichen der Gesellschaft, allen voran im Wohn- und Bildungswesen, Auseinandersetzungen um religiöse Symbole, vor allem aber die Popularität rechtsextremistischer Parteien und Organisationen, rassistische Ausschreitungen und Fremdenfeindlichkeit sowie nicht zuletzt die seit dem Anschlag auf das World Trade Center in New York im September 2001 verstärkt wahrgenommene Bedrohung durch global agierende Terrororganisationen und vermeintlich kausale Beziehungen zwischen Terrorismus und Einwanderung haben die öffentliche Diskussion über das Für und Wider von räumlicher Mobilität angefacht und das wissenschaftliche Interesse an der Kenntnis von Wanderungsprozessen – deren Ursachen, Verlauf und Folgen – beträchtlich gesteigert.
Der Spanische Bürgerkrieg war zugleich ein deutscher Bürgerkrieg, denn auf beiden Seiten kämpften Deutsche: Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland hatten sich freiwillig zu den anarchistischen Milizen oder zu den Internationalen Brigaden gemeldet, die die Spanische Republik gegen den Militärputsch des selbsternannten spanischen "Führers" Francisco Franeo zu verteidigen halfen. Die Hitler-Regierung hatte auf Bitten Francos nicht nur Flugzeuge, Panzer und Munition nach Spanien geschickt, sondern dazu über 20.000 Soldaten: die Legion Condor. Diese Hilfstruppe war, weil Deutschland das internationale Nichteinmischungs-Abkommen mit unterzeichnet hatte, 1936 heimlich und in Zivil auf Touristendampfern nach Spanien gebracht worden, 1939 wurde sie dann bei der siegreichen Rückkehr offen und mit militärischem Schaugepränge in Harnburg und Berlin empfangen. Auf beiden Seiten hatten in diesem Krieg auch deutsche Journalisten und Fotografen gearbeitet.
In der gegenwärtigen Auseinandersetzung um den Neoliberalismus“ werden immer wieder Argumente verwendet, die die 1970er Jahre als eine Wasserscheide im Übergang zum kalten Turbokapitalismus der Gegenwart sehen. Im Anschluss an Michel Foucaults Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität wird davon ausgegangen, der entscheidende Wandel habe darin bestanden, dass die Menschen seitdem permanent in ökonomische Verwertungszwänge eingespannt gewesen seien. Soziales Verhalten sei zunehmend erodiert und diskriminiert worden, während Konkurrenzverhalten und Marktbezug zum Durchbruch gekommen sei. Es sei der „Mensch des Unternehmens und der Produktion“ entstanden, ein „unternehmerisches Selbst“, wie Ulrich Bröckling es nennt, das in allen anfallenden alltäglichen Entscheidungen ökonomische Handlungsmaximen verwendet. Als ein wichtiger Referenzpunkt für diese These wird dabei auf die Neue Konsumtheorie von Gary S. Becker verwiesen, die „ökonomische Theorie des Alltags“, der in den 1970er Jahren als erster ökonomische Analysen zur Beurteilung der Nützlichkeit der Ehe, der „Kinderaufzucht“ oder der Ausbildung verwendete und damit zum punching-ball
der Kritik an der „Ökonomisierung des Sozialen“ aufstieg.
Wer kennt heute noch den Nachfolger Kants? Das war Christian Jacob Kraus, der bis 1807 als Professor für Philosophie und Kameralistik an der Universität Königsberg lehrte. Dort sah er eine wichtige Aufgabe darin, dem Werk Adam Smiths, vor allem dessen »Reichtum der Nationen«, Geltung zu verschaffen. Deshalb gehörte er auch zu den frühen Übersetzern dieses Traktats von 1776. Sein Smithianismus erwies sich als besonders einflussreich, weil künftige preußische Beamte damals an einer Landesuniversität studiert und ihr Examen abgelegt haben mussten. Zahlreiche Beamte der Reformära haben daher bei Kraus studiert und dessen Kultbuch kennengelernt. Immer wieder verfocht Kraus sein enthusiastisches Urteil, »dass die Welt noch nie ein bedeutenderes Buch« als Smiths »Reichtum der Nationen« gesehen habe, »seit der Zeit des Neuen Testamentes hat kein Werk segensreichere Wirkungen gehabt.«
Es ist zum Allgemeinplatz geworden, dass nach dem Auslaufen der starken wirtschaftlichen Wachstumsdynamik der Nachkriegszeit und der Erosion des fordistischen Produktionsregimes in Westdeutschland wie in anderen westlichen Industrieländern im Verlauf der 1970er Jahre neue ideenpolitische, wirtschaftliche und soziale Dynamiken entstanden, die in eine Renaissance des Marktes als zentralem gesellschaftlichen (und nicht nur im engeren Sinne wirtschaftlichen) Regulationsmechanismus mündeten. Marktförmige und damit konkurrenzbasierte Regulierungen, so die weitverbreitete Annahme, traten spätestens nach der sogenannten »Zweiten Ölkrise« mehr und mehr an die Stelle staatlich-hierarchischer und korporativistisch-konsensueller Formen der Regulierung, und organisierten zahlreiche soziale Felder dergestalt neu, dass ihre Arbeitsprodukte zunehmend kommodifiziert wurden. Markt und Wettbewerb wurden vielerorts (wieder) zu legitimen sozialen Regulationsmechanismen.
Wer war früher da – der Markt oder der Staat? Es gibt Fälle, in denen sich diese Frage ganz eindeutig beantworten lässt: Das sind die Fälle marktschaffender Politik. Im Zuge des neoliberalen Imperativs »mehr Markt!« drang dieser Typ des politischen Handelns auch in Bereiche vor, die bislang zu den Kernaufgaben des »sorgenden Staates« gerechnet wurden. Dabei erwies sich die Privatisierung als einer der wichtigsten Hebel. Zwar dient nicht jede Privatisierung der Herstellung von Marktbeziehungen. Man denke zum Beispiel an die Praxisgebühr oder an viele andere Zuzahlungen zu Leistungen der Krankenkassen, womit Kosten ins Privatbudget der Haushalte verlagert wurden. Umgekehrt lassen sich auch Vermarktlichungstendenzen beobachten, die ohne das Instrument der Privatisierung auskommen wie zum Beispiel der Einbau marktförmiger Elemente in die gesetzliche Krankenversicherung (freie Kassenwahl, Wahltarife). Der folgende Essay konzentriert sich jedoch auf die marktschaffende Hebelwirkung von Privatisierungstendenzen im deutschen Sozialstaat.
Rechtzeitig zu Weihnachten 2008 wetterten kirchliche Würdenträger beider Konfessionen im Zusammenhang mit der Finanzkrise massiv gegen die „gnadenlose Religion des Marktes und Konsums“. Auf protestantischer Seite verdammte der damalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber Raffsucht als „Tanz ums goldene Kalb“ und hielt dem Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, eine „Form des Götzendienstes“ vor. Huber, dessen Kirche genau wie ihr katholisches Pendant selbst im schlagartig verrufenen Aktien- und Wertpapiergeschäft investiert hat, bettete seine Kritik an den Symptomen der Finanzkrise in der Hoffnung auf öffentliche Zustimmungsbereitschaft bewusst in religiöse Semantik.
Auch aus der katholisch en Kirche meldete sich vermehrt religiös untermauerte Kapitalismuskritik und sogar Marxsche Kapitalismuskritik, obgleich diese mit dem Vornamen Reinhard statt Karl verbunden ist.
Markttabu
(2014)
Ausgehend von aktuellen Debatten über neue (oder erstmals so definierte) Bedrohungen, vermittelt diese Einleitung zunächst einen Überblick über die Geschichte von Sicherheitsbegriffen und -vorstellungen in politisch-gesellschaftlichen Debatten in Europa seit der Frühen Neuzeit. Darüber hinaus werden Grundzüge der damit verbundenen politischen Reaktionen dargelegt. Auf dieser Grundlage widmet sich der zweite Abschnitt mit Bezug auf Christopher Daases Überlegungen dem Konzept der "Sicherheitskultur". Dabei wird argumentiert, dass sich dessen Dynamik im Hinblick auf die Geschichte Russlands bzw. der Sowjetunion und Deutschlands aus den fortwährend entstehenden Herausforderungen ergibt, die jeweils neue Definitionen der Risiken, Normen und Werte erfordern. Deshalb sind die Wahrnehmungen, Vorstellungen und Verständnisse von "Sicherheit" in den jeweiligen historischen Kontexten untersuchen. Insgesamt wird damit für Studien plädiert, die "Sicherheitskulturen" dynamisch fassen und Diskurse ebenso untersuchen wie die politisch-sozialen Handlungspraktiken konkreter Akteure.
Auf das Klischee der "Gleichschaltung“ wies bereits 1984 Gabriele Toepser-Ziegert in der Einführung zu den von ihr bearbeiteten „NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit“ hin. In die Welt gesetzt wurde es 1947 durch Karl August Brammer, Journalist und Teilnehmer der Reichspressekonferenzen von 1919 bis 1944, der in seiner eidesstattlichen Erklärung zu den Nürnberger Prozessen zu Protokoll gab, dass es „nach dem 30. Januar 1933 [...] in Deutschland keine Pressefreiheit mehr“ gegeben habe und die von der Regierung ausgegebenen Anweisungen und Nachrichten befolgt werden mussten, ansonsten war mit Bestrafung oder Zeitungsverbot zu rechnen.
Dieser geschilderte Sachverhalt war eine starke Vergröberung, mit dem er nicht nur die Journalisten in den „Opferstatus“ hob, sondern zugleich auch der deutschen Bevölkerung das Argument an die Hand lieferte, es sei getäuscht worden und hätte somit von allem nichts gewusst. Folglich war alles in der Zeit von 1933 bis Kriegsende Propaganda. Die Fotografien der NS-Zeit wurden und werden – teilweise bis heute – als propagandistisch beurteilt, was eine beabsichtigte Täuschung und Manipulation der Bevölkerung impliziert.
Die Propagandatruppen der deutschen Wehrmacht waren eine ihrem Wesen nach einzigartige militärische Organisation. Kein anderes am Zweiten Weltkrieg beteiligtes Land verfügte über eine militärische Organisation dieser Größenordnung, die einzig und allein der psychologischen Kriegsführung diente. Dies war der Grund für Deutschlands Überlegenheit hinsichtlich der Kriegsberichterstattung in den meisten Phasen des Zweiten Weltkrieges. Die Propagandaeinheiten der Wehrmacht, deren bekannteste die Propagandakompanien (PK) waren, wurden im Hinblick auf spezielle Aufgaben geschaffen, deren Erfüllung man als für den Erfolg künftiger militärischer Konflikte notwendig erachtete. Aufgrund seiner besonderen Struktur und der speziellen Betätigungsfelder wurde dieser Bereich in hohem Maße in das NS-System eingegliedert.
Infolgedessen kam den Propagandatruppen bezüglich der Akzeptanz der Wehrmacht bei der Bevölkerung wie auch bei der Indoktrinierung von Wehrmacht und Nation gleichermaßen im Geiste der Naziideologie eine Schlüsselrolle zu.
Wenn der folgende Versuch organisationsgeschichtlichen Mustern folgt und daraus Material für eine Bildkritik zu ziehen hofft, dann muß er sich dem Vorwurf stellen, nicht das gesamte Quellen- und Bildreservoir präsentieren zu können, aus dem er schöpft: es wären einige zigtausend Aufnahmen sowie einige hundert Schriftstücke vorzuführen, und ob die daraus resultierenden Analysen zu stichhaltigen und historisch unbestreitbaren Ergebnissen führen würden, mag dahingestellt bleiben. Und um den Diskurs vollends fragwürdig zu machen, sei von vornherein darauf hingewiesen, daß die folgenden Anmerkungen mit dem Thema von Ausstellung und Buch zunächst nur lose verknüpft sind. Das weite Ausholen, das nach Kurt Tucholsky einen schlechten Redner kennzeichnet, war auch ein Markenzeichen der NS-Propaganda samt deren Steuerungsapparat - und wer darüber nachdenkt, muß sich dem notwendigerweise stellen.
Wie der Marxismus-Leninismus die Ideengeschichte des Bildes prägte, ist in der Forschung bislang kaum gefragt worden. Auch oder gerade in den vergangenen zwanzig Jahren nach dem Mauerfall war für Probleme dieser Art nur sehr vereinzelt Platz.
Fehlte der nötige historische Abstand, um in den politisch sensiblen, stets xistentielle Fragen der Identität berührenden Debatten der deutschen Wiedervereinigung subtile Fragen dieser Art an den Kalten Krieg zu richten? Bedarf es überhaupt dieser Abstände und des Pathos der Distanz, um sich politischen Phänomenen und aktuellen Ereignissen als Historiker wissenschaftlich stellen zu können? Das vorläufige Ausbleiben des Interesses am politischen Bild nach 1990 ist wissenschaftsgeschichtlich aus mehrerer Hinsicht interessant und wirft ein Licht auf die asynchron verlaufende Entwicklung von
Bildpraktiken, Bildpolitiken und Forschungsparadigmen.
Gelenkte Bilder. Propagandistische Sichtweisen und fotografische Inszenierungen der Reichshauptstadt
(2013)
Berlin als administratives und politisches Zentrum des NS-Regimes war die prominenteste und »produktivste« Bühne der öffentlichen Inszenierung nationalsozialistischer Machtentfaltung. Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) war die wichtigste Schaltzentrale der NS-Propaganda.
"Im vorliegenden Beitrag untersucht der Autor Strukturaspekte, die die Lage und das Verhalten der GHH-Arbeiter bedingten. Neben der Entwicklung der Belegschaftsstruktur und Arbeitsbelastung bildet die Untersuchung der verschiedenen mit dem Lohn zusammenhängenden Aspekte einen Schwerpunkt der vorliegenden Ausführungen. Im "Lohn" spiegeln sich die betrieblichen Verhältnisse auf verschiedene Weise wider: Die je spezifischen Entlohnungssysteme sind auf die Struktur des Arbeitsplatzes abgestimmte; an Höhe und Art der Entlohnung entzünden sich die meisten Arbeitskonflikte; die Binnenstruktur der Arbeiterschaft findet in der Differenzierung der Löhne ihren augenscheinlichen Ausdruck und läßt sich über sie vertiefen und verfeinern; betriebliche Lohnpolitik wird von Unternehmensleitungen deshalb zur Sicherung der innerbetrieblichen Hierarchie und Machtverhältnisse eingesetzt; die Höhe der Effektivverdienste ist ferner ausschlaggebend dafür, inwieweit es gelang, neue Arbeitskräfte anzuwerben bzw. alte an das Unternehmen zu binden; anhand von Lohnauseinandersetzungen läßt sich außerdem besonders gut der Frage nachgehen, wie wirkungsvoll der "Vertrauensrat" als 1934 neugeschaffenes Organ der Belegschaft agiert. Die Höhe der Realeinkommen bestimmte schließlich unmittelbar das Lebenshaltungsniveau des einzelnen Arbeiters (und seiner Familie), mittelbar damit auch den Grad seiner Zufriedenheit mit seinen Arbeits- sowie überhaupt den Gesellschaftsverhältnissen. (pmb)" Quelle: http://sowiport.gesis.org/search/id/gesis-solis-00138847/Description
„Können die Tonlandschaften unserer Vorfahren rekonstruiert werden?“ fragte David Lowenthal, als die UNESCO 1976 ihr groß angelegtes Projekt der „tönenden Umwelt“ auf den Weg brachte. Dahinter steht die Frage, was eigentlich mit den Tönen, mit den „Sounds“ geschehen ist, nachdem diese artikuliert worden sind und sich durch Schallwellen ausgebreitet haben? Die Übertragung der Schwingungen von einem schwingungsfähigen Körper zum anderen ist aufgrund der physikalischen Gegebenheiten endlich; der Sprechakt als Teil menschlichen Handelns ist zeit- und ortsgebunden. Die Sprechschallübertragung vollzieht sich in einem raum-zeitlich gebundenen Schallfeld.
Die Forschungsrichtung der Sound Studies ist in den Geistes- und Kulturwissenschaften angekommen. Während bis vor wenigen Jahren noch häufig moniert wurde, dass der Gegenstand Sound in der kultur- und medienwissenschaftlichen Forschung notorisch unterrepräsentiert sei, lässt sich die Fülle der international erscheinenden Publikationen, die das Resultat eines zuletzt stark angewachsenen Interesses an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Phänomenen, Praktiken und Bedeutungen auditiver Kultur bilden, heute kaum mehr überblicken.
Wo liegen heute die Perspektiven einer Geschichte der Industriearbeit? Über einige Jahre hinweg ging von diesem Themengebiet wenig Reiz aus: Gewiss gab es einige wichtige Detailstudien, aber große methodische Neuerungen blieben weitgehend aus. Letztlich kann dieser Befund nicht verblüffen, da gerade die 1970er und 1980er Jahre ein – damals in diesen Ausmaßen neues – Interesse an der Arbeiter- und Industriegeschichte hervorgebracht hatten, das gleichzeitig von methodischer Innovation mit Strahlkraft auf die gesamte Geschichtswissenschaft geprägt gewesen ist. In Deutschland konnte sich überhaupt erst im Zuge dieser Entwicklung die Sozialgeschichte etablieren.
Das NS-Regime begann mit dem Ausnahmezustand. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 durch den Reichspräsidenten entsprach formal noch der Verfassung, obwohl die Präsidialkabinette der Weimarer Republik seit 1930 längst die verfassungsgemäße Balance zwischen Reichstag, Regierung und Präsidenten zugunsten autoritärer Regierungen ohne parlamentarische Mehrheit verschoben hatten und daher das Präsidialkabinett Hitler ebenso wenig wie seine Vorgänger dem demokratischen Inhalt der Weimarer Verfassung entsprach. Auch war der Wahlkampf zu den Reichstagswahlen Anfang März bereits von der Behinderung und Verfolgung der Opposition durch die Nationalsozialisten mit allen Mitteln des Staates, die ihnen nun zur Verfügung standen, gekennzeichnet.
Untersucht man heute, gut zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989, die Zeit des Kalten Krieges, so kommt man kaum umhin, sie als eine Ära der Verschwendung zu betrachten: der Verschwendung von Geldern für riesige Waffenarsenale, der Verschwendung von Ressourcen, die von zivilen auf militärische Zwecke umgelenkt wurden, und schließlich – das wohl hartnäckigste, bis heute andauernde Problem – der Verschwendung von Millionen Hektar Land, die verwüstet und mitsamt dem Grundwasser durch giftige Chemikalien und radioaktiven Müll kontaminiert wurden.
Spannende und spannungsreiche Geschichtserzählungen sind mit der in der populären Geschichtskultur, aber auch in der Geschichtswissenschaft verbreiteten Vorstellung vom »Historiker als Detektiv« eng verknüpft. Diese Metapher
deutet die historiografische Praxis im Rahmen eines »Indizienparadigmas« als akribische »Spurensuche«, die als »Wissenspraxis« und »Orientierungskunst« verstanden werden kann. Damit rücken Geschichtserzählungen in die Nähe populärer detektivischer Narrative, wenn nicht sogar – wie in historischen Kriminalromanen, in historischen Fernsehdokumentationen oder Geschichtsfilmen – die Geschichte selbst »als Krimi« aufgefasst wird.
Der Aufsatz bietet zunächst einen Überblick über neuere Tendenzen und offene Fragen der internationalen begriffsgeschichtlichen Forschung und plädiert für Historische Semantik als Disziplinbezeichnung für das sich über die klassische Begriffsgeschichte hinaus erweiternde Feld. Gefragt wird sodann nach Erklärungsmodellen für semantischen Wandel in der Geschichte. Drei Modelle von Wandel werden genauer erörtert: Plausibilitätsverlust von Redeweisen durch überraschende Ereignisse und Umbrüche, Zunahme des strategischen Gebrauchswerts von Redeweisen in wiederkehrenden Kommunikationssituationen, Irritation des Wort- und Bedeutungshaushalts einer Sprache durch Wortimporte aus einer anderen Sprache. Ausgehend vom letztgenannten Modell werden abschließend Theorieprobleme diskutiert, die sich aus der Forderung nach einer transnationalen bzw. vergleichenden historischen Semantik ergeben.
Von den Begriffen ging in der Bundesrepublik ein besonderer Zauber aus. Was heute in den Kulturwissenschaften die grassierende Dauerrede vom »Bild« ist, war über lange Jahre der »Begriff« – der akademische Universalschlüssel zum Verstehen der modernen Welt. Nicht nur fielen die Grundbegriffe in der »Sattelzeit« an der Schwelle zur Moderne nach Reinhart Kosellecks Diagnose aus ihrem alten »Erfahrungsraum« und streckten sich nach einem neuen »Erwartungshorizont« – die Begriffsgeschichte selbst bildete in den Sechziger Jahren einen intellektuellen Erwartungshorizont aus. Wer die Begriffe zu lesen verstand – so stand an diesem Horizont geschrieben – der werde ganz neu über die geheimen Bewegungsgesetze der Moderne aufgeklärt.