1945-
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Es war eine Sensation: Der »King of Rock ’n’ Roll« sang auf Deutsch! Gegen Mitte des Kinofilms »Café Europa« (1960; amerikanischer Originaltitel: »G.I. Blues«) stimmte Elvis Presley (1935–1977) plötzlich das bekannte Volkslied »Muß i denn…« an. Er trat in der Rolle des in Westdeutschland stationierten US-Soldaten Tulsa McLean auf – im Duett mit einer Kasperle-Figur und begleitet lediglich von einem Akkordeonspieler. Besonders die deutschen Fans waren verzückt: In den Kinosälen der Bundesrepublik wurde eifrig mitgeklatscht und mitgesungen; auch die – ursprünglich für den deutschen Markt gar nicht als Single-Auskopplung vorgesehene – Schallplatte verkaufte sich innerhalb weniger Wochen über 400.000 Mal und erreichte mit Platz 2 die bis dato beste Chart-Position des Sängers in Westdeutschland. Doch nicht alle freuten sich über den Marketing-Stunt: Die West-Berliner Radiosender SFB und RIAS verbannten den Song aus ihren Programmen, ebenso wie der Bayerische Rundfunk. Während die Berliner Sender die Aufnahme lediglich als »bewußte Verschnulzung deutscher Volkslieder« kritisierten, sah der »Tanzmusik-Chef« des Bayerischen Rundfunks in dem »bescheiden verhotteten, also rhythmisch aufgemöbelten Volkslied« (so der »Spiegel«) gar eine Motivation, deutsches Liedgut künftig wieder »ernsthaft« zu pflegen: »Wir lassen uns das nicht vom Ausland oktroyieren.«
Wie verarbeiten Menschen die neuen Anforderungen der Arbeitswelt? Wie gehen sie mit ständiger Verfügbarkeit, wechselnden Arbeitsorten oder plötzlichen Entlassungen um? Der Soziologe Richard Sennett (geb. 1943) war 1998 dem »Zauberwort des globalen Kapitalismus« (Klappentext) auf der Spur: der »Flexibilität«. Sein Hauptinteresse galt dem Wandel der Arbeit in den USA und den Konsequenzen für die arbeitenden Menschen. Das Repertoire der Politökonomie-Analyse marxistischer Provenienz machte er sich dabei bewusst nicht zu eigen. »Der Fehler des alten Marxismus« sei es gewesen, dass in ihm »keine Menschen vorkamen, sondern lediglich Kategorien«. Die Vertreter:innen dieses Marxismus hätten sich nicht darauf eingelassen, die »Verwirrungen gelebter Erfahrungen zu betrachten«. Solche Erfahrungsbrüche stehen im Mittelpunkt von Sennetts zeitdiagnostischem Essay »The Corrosion of Character«. Der Berlin-Verlag gab der deutschen Ausgabe den griffigen Titel »Der flexible Mensch«. Das Buch wurde international zum »Longseller«, und Sennett erhielt in Deutschland diverse hochdotierte Preise. Laudator:innen und Kommentator:innen aus verschiedenen politischen Richtungen waren sich einig: Sennett habe eine wichtige und eingängige Gegenwartsdiagnose vorgelegt.
Das Anthropozän stellt eine radikale Herausforderung für die Geschichtswissenschaft dar, wie etwa die australische Umwelthistorikerin Libby Robin betont hat: »a concept that considers the role of humanity as a historical force for change in planetary systems, demands both geological and historical time-scales, and writes planetary and human histories together«. Es gelte, etablierte Vorstellungen von Raum, Zeit und ›Agency‹ kritisch zu überdenken sowie geologische und menschliche Skalen zueinander in Beziehung zu setzen. Robin reagierte damit auf Dipesh Chakrabarty, der 2009 postuliert hatte, dass der Klimawandel Historiker:innen dazu zwinge, grundlegende Annahmen zu hinterfragen: die Grenze zwischen Natur und Kultur, die Bedeutung der Moderne bzw. der Modernisierung, die Beziehung zwischen der Geschichte von Menschen und der Menschheitsgeschichte sowie die Gemeinsamkeit menschlicher Erfahrungen.
Als Günther Anders’ gesammelte »Gedanken über die atomare Situation« – zehn Aufsätze, Manifeste, Vorträge und eine Fabel – 1972 erstmals erschienen, kamen sie zu spät. Im politischen Klima nach 1968 konnte ihr Autor noch so sehr auf anhaltende Aktualität pochen, längst war die von Anders mitgeprägte Anti-Atom-Bewegung der 1950er- und 1960er-Jahre »eingegangen« (S. XII), und andere Themen wie der Vietnamkrieg hatten sich vor die immer noch »drohende Atomgefahr« (S. XI) geschoben. Hinzu kam die wachsende »Angst vor der vielfältigen und gleichfalls apokalyptische Ausmaße annehmenden Umweltverseuchung« (S. XII). Mit einer invertierten Feuerbachthese hatte Anders außerdem die Zustimmung der akademischen Jugend riskiert: Was heute »fällig« sei, forderte er im annus mirabilis der Studierendenbewegung, »mindestens ebenso fällig wie die Veränderung der Welt, ist die wirkliche Interpretation jener Veränderungen, die malgré nous, auch im Lager unserer Gegner, vor sich gegangen sind und vor sich gehen«. Gemeint war das revolutionäre Potential moderner Technik, die Anders im ersten Band seines Hauptwerks »Die Antiquiertheit des Menschen« (1956) als planetare Übermacht porträtiert hatte, als neues »Subjekt der Geschichte«. In »Endzeit und Zeitenende« spricht er der Technik echte Handlungsmacht zu (wir würden heute »Agency« sagen), nennt die uns umgebenden Artefakte gar »Pseudo-Personen« mit handlungsleitenden »stummen Prinzipien und Maximen« (S. 103), deren gleichsam politisches Endziel eine Welt sei, in der Menschen überflüssig werden (vgl. S. 199). Die Hermeneutik ihres »Totalitarismus« (S. 17) war Andersʼ Antwort auf den technikblinden Fleck linker Theoriebildung. Dass er im Gegensatz zu seinem Freund Herbert Marcuse damit in die Rolle eines Epimetheus der 68er-Bewegung geriet, dürfte ebenso wie der sperrige Titel und der pessimistische Grundton seiner Textsammlung dazu beigetragen haben, den publizistischen Erfolg des Bandes im ersten Anlauf auszubremsen. Das änderte sich erst, als das Buch zwei Jahre nach dem NATO-Doppelbeschluss in einer um ein Vorwort erweiterten, ansonsten aber identischen Ausgabe unter dem griffigeren Titel »Die atomare Drohung« erschien und bis 1986 vier weitere Auflagen erlebte (die aktuelle 8. stammt von 2023).
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schrieben die »Dialektik der Aufklärung« vor acht Jahrzehnten in der Emigration, quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Sie war als eine Art »Flaschenpost« gedacht, die dann tatsächlich im Zuge der studentischen Protestbewegung der 1960er-Jahre entkorkt wurde – durchaus gegen Widerstände von Horkheimer, der aktivistischen Missbrauch von Gedanken aus einem anderen Kontext befürchtete. Seitdem gilt die Schrift, in der »die Aufklärung« – verstanden als das menschliche Bestreben, sich mittels Naturbeherrschung und Vernunft zu emanzipieren – einer Selbstkritik unterworfen wird, als ein Klassiker der Sozialphilosophie, der immer wieder neu gelesen, oft als antiquierte Kulturkritik verworfen wird und gleichwohl auch immer wieder neue Liebhaber findet.
1964: Der Mann – Anzug, akkurate Scheitelfrisur, Hornbrille, um die 30 Jahre – raucht. Die vorangegangenen zweieinhalb Minuten haben ihn sichtlich aufgewühlt. Gerade hatte er über einen Republikanischen Präsidentschaftskandidaten gesprochen, der ihn durch unglaubwürdiges Auftreten, offenkundige Nähe zu politisch extremen Elementen und außenpolitische Verantwortungslosigkeit zutiefst beunruhige und erschrecke. Konsterniert hält er fest: In dieser Situation werde, ja müsse er den Gegenkandidaten der Demokraten unterstützen – nicht um die Partei, sondern um das Land zu schützen.
Dieser Aufsatz historisiert die identitätspolitischen Konflikte in den USA. Ausgehend von den 1970er-Jahren untersuchen wir die Bedeutung von behaupteten oder tatsächlichen Unterdrückungserfahrungen für reaktionär-hegemoniale und emanzipatorische Identitätspolitiken. Dabei widmen wir uns dem Sex als zentraler identitätsstiftender Kategorie und als Feld politischer Auseinandersetzungen. Diese Konflikte verfolgen wir anhand zweier Beispiele und ihrer Interaktion. Als Vertreterinnen der neuen christlichen Rechten propagierten Beverly LaHaye und die ›Concerned Women for America‹ (CWA) eine religiös-konservative Vorstellung von Sex. Sie bedienten sich dabei einer Unterdrückungserzählung, um ihre gesellschaftlich privilegierte Position durch hegemonial-reaktionäre Identitätspolitik zu festigen. Die Aktivist:innen der ›AIDS Coalition to Unleash Power‹ (ACT UP) kämpften im Kontext der Aids-Krise der 1980er-Jahre gegen Diskriminierung und für gesellschaftliche Teilhabe queerer Menschen. Ihr identitätspolitischer Aktivismus sollte Unterdrückungserfahrungen überwinden sowie die Anerkennung als gleichwertige Menschen erwirken.
This article examines the appropriation of the slogan ›Black is beautiful‹, which had its origins in the US Civil Rights movement, by the West German Christian Democrats in the 1970s – and thus by a party led by white men. The analysis brings into conversation histories that have mostly been treated separately: the political history of the Federal Republic and the Christian Democrats; the history of political chromatics and political communication; and the history of racism and anti-racism in Germany after 1945. While the focus is on a specific election campaign that ran from 1972 to 1976, the aim is to address larger issues: the first decade of the Christian Democrats in opposition at the federal level and their struggle to appear ›modern‹ in a period of rapid change; and constructions of race in a society that had banned the word ›Rasse‹ from its political vocabulary. One conclusion is that the ›Black is beautiful‹ campaign was in many ways a typical product of the Federal Republic in the 1970s. The ways in which the Christian Democrats dealt – or did not deal – with ›race‹ in this instance reflects a general reluctance among West Germans to acknowledge the more subtle forms that racism has taken since 1945, other than state-sanctioned discrimination.
Populäre Wissenschaft. Das »Fischer Lexikon A-Z« im Taschenbuchmarkt der frühen Bundesrepublik
(2024)
Der Beitrag untersucht die Popularisierung von wissenschaftlichem Wissen durch die noch junge Publikationsform Taschenbuch in der frühen Bundesrepublik. Am Beispiel des 40-bändigen »Fischer Lexikons A-Z«, das der S. Fischer Verlag ab 1957 auf den Markt brachte, wird gezeigt, wie es einem zuvor auf literarische Werke konzentrierten Publikumsverlag gelang, in bis dahin nicht gekannten Auflagenhöhen und durch ubiquitäre Vertriebswege einem breiten Publikum wissenschaftliche Erkenntnisse nahezubringen. Im Unterschied zu den populärwissenschaftlichen Büchern oder Broschüren des 19. Jahrhunderts kam das »Fischer Lexikon« ohne übermäßig starke Komplexitätsreduktion aus und wurde dennoch ein großer verlegerischer Erfolg – besonders dank der Bildungsexpansion der 1960er- und 1970er-Jahre. Allein bis 1969 betrug die Gesamtzahl der gedruckten Bände der Lexikon-Reihe etwa 5,4 Millionen Exemplare. Die verlegerischen Strategien werden ebenso erläutert wie die Reflexion der im Wissenschaftsbetrieb anfangs ungewohnten Publikationsform Taschenbuch durch die Autoren und Herausgeber.
Ganz im Freud’schen Sinne war die deutsche Sprache für Theodor W. Adorno das von Anfang an Vertraute, das vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus, der Erfahrung von Verfolgung und Exil sowie dem Wissen um die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden jedoch zum Unvertrauten wurde. Gerade deshalb, so könnte man meinen, hielt Adorno beharrlich am Ideal eigener, »authentischer« Sprachverwendung als Muttersprachler fest, als sei seine Sprache ein autonomer Bereich. Zugleich richtete sich seine Sprachkritik aber gleichsam »objektiv« auf den mit formelhafter Sprachverwendung einhergehenden gesellschaftlichen Erfahrungsverlust. Unter dieser spannungsreichen Doppelperspektive reflektierte Adorno sein Verhältnis zur deutschen Sprache und die Funktion von Sprache als Medium des Denkens in einer Vielzahl von Texten. Während in einigen davon das Deutsche als Muttersprache vor allem ein identitätsstiftendes Moment bedeutet und als biographische Klammer nach der Zäsur von Exil und Holocaust eine Verbindung zur Kindheit herstellt, steht einem solchen emphatischen Verständnis des Deutschen die Analyse entleerter, formelhafter Sprachverwendung in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft gegenüber. So deutet sich an, dass der Remigrant Adorno in der verwalteten Welt nach dem »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) in der deutschen Sprache sprachmächtig agieren konnte, während er zugleich einen allgemeinen Erfahrungsverlust konstatierte. Der Spannung, ja dem Changieren Adornos zwischen radikaler Sprachkritik einerseits und Idealisierung der deutschen Muttersprache andererseits möchte ich hier in fünf Schritten nachgehen.