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Richard Horton, ein britischer Arzt und Chefredakteur der einflussreichen medizinischen Fachzeitschrift »The Lancet«, löste Ende 2012 mit einer Serie von Twitter-Nachrichten eine hitzige Debatte aus. Polemisch zugespitzt kritisierte Horton den schädlichen Einfluss der Ökonomie auf das öffentliche Gesundheitswesen. In zehn Thesen beklagte er, dass die Wirtschaftswissenschaften keine Vorstellung von moralischem Handeln hätten und einem falschen Menschenbild folgten. Die Marktideologie lasse sich nicht vereinbaren mit den Werten, auf denen sozialstaatliche Gesundheitssysteme begründet seien. Auch wenn die Gesundheitsökonomie das Gegenteil behaupte – Gesundheit sei kein ökonomisches Gut. Horton folgerte: »Economics […] may just be the biggest fraud ever perpetrated on the world.«
Vorsorge war immer. Bereits in der Frühgeschichte stoßen wir auf Kulturtechniken, mit denen Menschen Risiken vorbeugen und Gefahren verhüten wollten. Schon das Anlegen von Vorräten, die Präparierung von Landschaften oder die Anrufung von Schutzgöttern waren Konzepte und Praktiken der Vorsorge. In der Moderne jedoch wuchs die Vielfalt an Befürchtungen und Ängsten, die eine nicht minder große Vielfalt an Vorsorgekonzepten und -maßnahmen mit sich brachte. Spürbar wurde dieser Anstieg in einem Boom an Versicherungen, in der Popularisierung medizinischer, sozialreformerischer und pädagogischer Maßnahmen, in der Verbreitung von Diäten, in den Sport- und Turn- oder den Anti-Tabak- und Anti-Alkohol-Bewegungen.
»So darf es nicht weitergehen«, forderten im September 2019 hunderte deutsche Ärzte und Verbände des Gesundheitssektors. Sie formulierten eine flammende Anklage gegen »das Diktat der Ökonomie« und gegen eine »Enthumanisierung der Medizin« in Krankenhäusern und Arztpraxen. Dieser »Ärzte-Appell« ist ein aktueller Beitrag zu einer langjährigen intensiven Debatte um das Verhältnis von Gesundheit und Ökonomie. In der Öffentlichkeit stehen die »Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens« meist als Menetekel für eine »Medizin ohne Empathie« und für die Verschärfung sozialer Ungleichheiten am Krankenbett: Kinder, aber auch Migranten, Alte und Arme seien die Leidtragenden, wenn es »an Geld, Ärzten und Pflegern« fehle. Die Binnenperspektive eröffnet nicht minder alarmierende Einblicke. In einer Studie wurden 2018 zahlreiche Geschäftsführer und Ärzte an Kliniken zu betriebswirtschaftlichen Einflüssen auf ihre Arbeit befragt. Sie zeichneten ein bedrückendes Bild, das die Autoren der Studie wie folgt zusammenfassten: »Die Krankenhausmedizin nimmt fabrikmäßige Züge an, die medizinische Arbeit wird für das ärztliche und pflegerische Personal tendenziell als fremdbestimmt erlebt. [...] Insofern verändert die Ökonomisierung auch mittelbar den Charakter der Medizin.«
Geteilte Geschichte. Plädoyer für eine deutsch-deutsche Perspektive auf die jüngere Zeitgeschichte
(2015)
In der Geschichtswissenschaft boomen derzeit grenzübergreifende Studien. Aus transnationaler Perspektive werden nicht nur Beziehungen zwischen europäischen Ländern untersucht, sondern zunehmend auch globale und außereuropäische Verflechtungen, die bis nach Ostasien oder Afrika reichen. Umso mehr erstaunt, dass 25 Jahre nach dem Mauerfall übergreifende deutsch-deutsche Studien weiterhin selten zu finden sind. Selbst die großen Überblickswerke zur deutschen Zeitgeschichte wähl(t)en selten grenzüberschreitende Perspektiven. Die meisten Historiker/innen im alten Westen empfanden die DDR lange als eine Art »fernes Land«, dessen Erforschung, bis auf wenige Ausnahmen wie die deutsch-deutsche Politikgeschichte und der Mauerfall, den Kolleginnen und Kollegen an ostdeutschen oder Berliner Universitäten überlassen wurde. Auch in den vielfältigen theoretischen Debatten um eine transnationale Geschichte, eine »shared history« oder »entangled history« hat die deutsch-deutsche Geschichte bisher keine Rolle gespielt. Zu unklar erschien vermutlich der Status des Trans-»Nationalen« – in diesem Fall ja eine »trans-staatliche« Geschichte einer später wiedervereinigten Nation. Eine umfassende gesamtdeutsche Gesellschaftsgeschichte steht daher weiterhin aus; ebenso fehlt es an Einzelstudien zu vielen relevanten Feldern.
Im 20. Jahrhundert, dem bisweilen so genannten »Jahrhundert der Gewalt«, ist auch die Wahrnehmung von Gewalt in ihren höchst unterschiedlichen Erscheinungsformen, mithin die Sensibilität für diese Vielfältigkeit, gewachsen. So haben wir gelernt und sind noch dabei zu lernen, Gewalt gerade auch inmitten unserer eigenen sozialen Mitwelt und Umwelt zu sehen und nicht mehr nur in der »Vorwelt« vergangener Zeiten, der Welt anonymer Nebenmenschen und entfernter Fremder, oder schließlich in der antizipierten »Nachwelt« kommender Tage. So gut wie jeder Ort erweist sich, sobald Tabus ausgeräumt sind, kulturelle Semantiken und eine gesteigerte Empfindsamkeit die Wahrnehmungsfähigkeit der einzelnen schärfen, als ein Raum, in den Gewalt einziehen und herrschen kann. Unterschiedlich strukturierte soziale Beziehungen oder Gegensätze - etwa zwischen Ehepaaren, zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen den Geschlechtern, zwischen Hetero- und Homosexuellen, Majoritäten und Minoritäten aller Art, zwischen Zugehörigen und Ekludierten, Etablierten und Außenseitern etc. - werden unter dem Gesichtspunkt gewalttätiger Phänomene, Interaktionen oder Strukturen auf den Prüfstand gelegt, so daß die Topographie der Gewalt erweitert und umstruktunert wird und immer weitere geographisch lokalisierbare Orte und Einrichtungen oder spezielle Lebens- und Handlungsbereiche als Schauplätze der Gewalt in Frage kommen.
Gewalt verstehen
(2008)
Weil sie verletzt und Schmerzen verursacht, ist Gewalt eine fortwährende Irritation, eine Herausforderung für das Verstehen. Deshalb versuchen Historiker, die auf der Suche nach dem Sinn des vergangenen Geschehens sind, Gewalt als Ausnahmehandlung zu rationalisieren, „die Fassungslosigkeit zu domestizieren, sie wegzuerklären“.1 Denn das Verstehen kommt immer dann ins Spiel, wenn man sich nicht mehr im Selbstverständlichen bewegt und sich das Bedrohliche wieder in die vertraute Selbstverständlichkeit einfügen soll.2 Wer im dauerhaften Kriegszustand lebt, wird die Frage nach den Ursachen der Gewalt möglicherweise für überflüssig halten; wer hingegen nur den Frieden kennt, braucht eine Begründung für die Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun. Man könnte auch sagen, dass Historiker Gewalt gewöhnlich als abweichendes Verhalten klassifizieren. Aus dieser Perspektive kommen ihre Fragen. Warum tun Menschen einander verstörende Grausamkeiten an?
Vorbei sind die Zeiten, als man sich mit Bemerkungen, daß die meisten Kontroversen über Gewalt aus einem »poor use of words« (Chesnais) resultierten, automatisch auf der »sicheren« Seite wähnen konnte, wenn man nur genügend differenzierte. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen Gewalt als ein nichtssagendes Modewort bezeichnet werden konnte, weil »jeder über Gewalt redet, und keiner wirklich darüber nachdenkt« (Hobsbawm). Das Thema Gewalt ist in aller Munde, auch wenn damit je nach politischem, ideologischem oder sozialem Standpunkt höchst unterschiedliche Sachverhalte assoziiert werden. Entsprechend begegnet uns Gewalt in einer Vielzahl von begrifflichen Differenzierungen (direkte und indirekte Gewalt; personale, strukturelle, kulturelle und symbolische Gewalt; psychische Gewalt; progressive und reaktionäre Gewalt; instrumentelle und expressive Gewalt, staatliche Gewalt; legale und illegale Gewalt; legitime und illegitime Gewalt; verdeckte und offene Gewalt – die Liste ließe sich leicht fortführen), in vielen Arten und Formen [...], im privaten Alltag und in der offiziellen Politik, in Strukturen und Sprache eingelagert. Gewalt ist allgegenwärtig, vergeht doch kein Tag, an dem nicht Medien und Presse über die neuesten Gewalttaten und Greuel berichten.
In seiner Rede auf einem Empfang in der Düsseldorfer Industriekredit-Bank im September 1969 bedauerte der BDI-Präsident Fritz Berg (1901–1979), dass man Teilnehmern eines wilden Streiks bei der Dortmunder Hoesch AG nicht mit Waffengewalt entgegengetreten sei. Man hätte »doch ruhig schießen sollen, einen totschießen, dann herrsche wenigstens wieder Ordnung«. Der ehemalige Fahnenjunker der preußischen Gardepioniere bezog sich dabei auf eine Meldung der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, die auf ihrer Titelseite darüber berichtet hatte, dass nicht streikwillige Kollegen von streikenden Stahlarbeitern körperlich bedroht worden seien. Eine andere Gruppe habe das Vorstandsbüro gestürmt und anschließend versucht, sich gewaltsam Zutritt zur Villa eines Werksdirektors zu verschaffen. Dessen Ehefrau habe die marodierenden Malocher mit gezogener Waffe am Betreten ihres Anwesens gehindert. Als die geladenen Repräsentanten der nordrhein-westfälischen Wirtschaft auf Bergs Worte mit Schweigen reagierten, setzte dieser noch einmal nach und erklärte, seine Aussage könne man ruhig zitieren.
Die gleichberechtigte Einbeziehung von Frauen in Forschung und Lehre steht heute weit oben auf der politischen Agenda bundesdeutscher Wissenschaftspolitik. Primäres Ziel ist es gemäß dem sogenannten »Kaskadenmodell«, den Frauenanteil auf allen Karrierestufen in Forschung und Lehre demjenigen der Studierenden und Promovierenden anzugleichen. Dies sei, so das Bundesministerium für Bildung und Forschung, »nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit«. Gemischte Gruppen führten, »wenn sie geeignete Rahmenbedingungen vorfinden«, außerdem »zu besseren Forschungs- und Entwicklungsergebnissen« sowie »zu einer Erweiterung der Forschungsperspektive«. Das gelte auch »für die Berücksichtigung von Geschlechterfragestellungen als Forschungsgegenstand«. Ähnlich beschreibt die Europäische Kommission das Ziel ihrer Gleichstellungspolitik für Wissenschaft und Forschung.
In den 1970er-Jahren lief im westdeutschen Fernsehen eine Serie der Augsburger Puppenkiste, deren Held und Titelgeber der kleine König Kalle Wirsch war. Kalle Wirsch, König der Erdmännchen, war, wie sein Name sagte: ein freundliches kleines Männchen, alles andere als unwirsch. Der Name aber irritierte – wer benutzt schon das Wort „wirsch“? Das Wort gibt es tatsächlich, es ist aber kein Gegenbegriff zu „unwirsch“, sondern eine Verballhornung von „wirr“. Zu „unwirsch“ gibt es keinen Gegenbegriff. Der kleine König Kalle Wirsch mag einem bei „Gleichheit und Ungleichheit“ in den Sinn kommen. Denn viel wird gesprochen von Ungleichheit, und dies vor allem im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit. Aber Gleichheit? Nur ganz wenige Autoren haben über deren Geschichte nachgedacht. Einer davon ist der Zürcher Historiker Jörg Fisch. Er fasst, bezogen auf das späte 19. Jahrhundert, Gleichheit vor allem als einen Anspruch, als eine Forderung. Sie ist also etwas, was (noch) nicht ist. „Gleichheit“ blieb als die bürgerliche Forderung nach rechtlicher und politischer Gleichberechtigung stehen und wurde (jedenfalls in Europa) im späten 19. und im 20. Jahrhundert zumindest teilweise eingelöst. Die Forderung nach sozialer Gleichheit jedoch, die aus revolutionären Bewegungen kam, ließ sich nicht einmal als Anspruch durchhalten, wurde als staatsgefährdend identifiziert und erbittert bekämpft. Soziale Gleichheit erhielt das Stigma des Utopismus und behielt lediglich in der Forderung nach Abbau (und nicht Abschaffung) sozialer Ungleichheit eine gewisse Berechtigung.