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Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges war der Abschied von einem bedingungslosen Fortschrittsglauben gekommen. Die Erfahrungen des Stellungskrieges und der Materialschlacht munitionierten die Fortschrittskritik. Die universitäre Etablierung des Fachs Volkskunde im Jahr 1919 war seit den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durch wissenschaftliche Zeitschriften, Kongresse und museale Sammlungen vorbereitet und von der »Suche nach dem Elementaren in der Kultur« begleitet worden. Die Hinwendung zu den Dingen, vor allem zu Arbeits- und Hausgerät aus europäischen Reliktgebieten, spielte in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Die Frage nach ihrer Bedeutung und Sinnaufladung verdichtete sich mit der Disziplinierung, auch wenn die Erforschung der materiellen Kultur nicht der einzige Gegenstand des Faches war, das sich aus den Philologien herausbildete. Geht man davon aus, dass das 19. Jahrhundert das »Saeculum der Dinge« ist, weil die industrielle Massenproduktion die Verfügbarkeit sowie den Verbrauch der Dinge seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immens steigerte, dann führt der Weg zu der intensivierten Aufmerksamkeit für die Dinge des Alltags in Kunst, Literatur und Wissenschaft in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.
Stadtgeschichte
(2016)
Das 20. Jahrhundert lässt sich als „urban century” begreifen. Doch besteht bei aller Forschungsdynamik nicht wirklich ein Konsens darüber, was das Feld jenseits seines Gegenstandsbezugs eigentlich zusammenhält. Warum sind Städte gerade in jüngster Zeit zu immer prominenteren Gegenständen der Forschung geworden? Malte Zierenberg stellt Definitionsansätze vor, die zu klären versuchen, was die Stadtgeschichte eigentlich ausmacht, beschreibt interdisziplinäre Einflüsse, die für die moderne Stadtgeschichtsschreibung von Beginn an wichtig waren, und gibt einen Überblick zu aktuellen Forschungsthemen und Begriffen.
Stadtgeschichte als Zeitgeschichte. Methodische Impulse zur Historisierung West-Berlins. Einleitung
(2014)
Wem gehört die Stadt? Um diese Frage kreisen derzeit viele öffentliche Debatten in Berlin und anderswo. Steigende Mieten, die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen, die globale Erschließung des Immobilienmarktes und die zunehmende Touristifizierung der Innenstädte sind nur einige der Themen, die seit einigen Jahren heiß diskutiert werden. Diese breite gesellschaftliche Relevanz hat zugleich zu einem deutlichen Aufschwung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Stadt als gestaltetem und häufig umkämpftem Lebensraum geführt. Dabei werden die städtischen Entwicklungen nicht nur aus sicherer Distanz reflektiert. Vielmehr bietet die Stadtforschung das theoretisch-methodische Arsenal, um bestimmte Prozesse im urbanen Raum zu begreifen und in der öffentlichen Debatte auf den Punkt zu bringen. So hat sich der sozialwissenschaftliche Begriff »Gentrification« inzwischen zu einem politischen Kampfbegriff entwickelt, mit dem die Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten im Zuge urbaner Aufwertungsprozesse problematisiert wird. Die Grenze zwischen wissenschaftlicher Reflexion und politischer Intervention ist mitunter fließend.
In den über 60 Jahren, die seit den Ereignissen bei Stalingrad von 1942/43 vergangen sind, ist das Geschehen in den Erinnerungskulturen zahlreicher Länder immer wieder neu entworfen, umgewandelt und mit unterschiedlichen Deutungsebenen verknüpft worden. Die Muster der Erinnerung waren und sind eng verbunden mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und Bedürfnissen zum Zeitpunkt ihrer Verbreitung, und sie standen bzw. stehen noch immer in einem gespannten Verhältnis zu wissenschaftlichen Erkenntnissen über „Stalingrad“: So ging der Krieg für die Deutschen bereits im Winter 1941 verloren, und es folgten für Deutschland verlustreichere Kriegsphasen. Dass „Stalingrad“ in der deutschen und sowjetischen Erinnerungskultur bis heute eine herausragende Bedeutung einnimmt, steht dazu in offensichtlichem Widerspruch und kann nur gedächtnisgeschichtlich erklärt werden.
Eine schwarz-weiße Fotografie mit neun Personen, die zu einem Gruppenbild versammelt sind: Sieben Personen stehen, zwei sitzen. Alle tragen einen Lendenschurz, der den Blick auf die untergewichtigen, ausgezehrten, geschwächten Körper freigibt. Drei Personen stützen sich mit einem Stock ab, einige tragen Halsketten als Schmuck. Auch Ringe um die Knöchel sind zu sehen. Es ist unklar, ob es sich dabei vielleicht um Eisenketten handelt. Die Blicke sind meist auf den Betrachtenden gerichtet, nur die sitzenden Personen scheinen die Augen geschlossen zu haben. Im Hintergrund sieht man eine karge Landschaft; ein Zelt am rechten oberen Bildrand fällt ins Auge. Weitere Details sind bei näherem Hinsehen erkennbar, ohne den Betrachtenden genauen Aufschluss über die Personen, den Ort oder die Zeit der Aufnahme zu geben. Man ist auf Spekulationen angewiesen: „Afrikaner“, dem Aussehen nach? Der Landschaft zufolge möglicherweise ein Ort im südlichen Afrika. Material und Art der Aufnahme lassen auf einen lange zurückliegenden Entstehungszeitraum schließen.
Dreißig Jahre nach der deutschen Vereinigung werden vor allem Stimmen lauter, die einen grundlegenden Perspektivwechsel in der Geschichtsschreibung fordern: Erfahrungen und Perspektiven von People of Color, Jüdinnen und Juden sowie Geflüchteten sollten stärker in die Betrachtung der „Wiedervereinigung“ und der anschließenden Transformationsprozesse einbezogen werden. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der 2020 erschienene Herausgeber*innenband Erinnern stören von Lydia Lierke und Massimo Perinelli.
Ein Blick auf Quellen der Umbruchszeit zu Beginn der neunziger Jahre verdeutlicht: Diese Erfahrungen wurden durchaus zeitgenössisch festgehalten – in Filmen, sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, Fotografien und Interviews. Vor allem dokumentarische Filme wurden von aktivistischen und subkulturell links geprägten Milieus produziert, verblieben aber lange in internen Rezeptionsschleifen, ohne Eingang in größere gesellschaftliche Debatten zu finden. Dabei stellten sie durch die Perspektive auf die Betroffenen Zusammenhänge zwischen alltäglicher Diskriminierung und der Gewalt seitens extrem Rechter her.
[...]
Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht, die verstärkt darauf dringt, das Augenmerk auf Rassismus, politischen Nationalismus und Rechtsextremismus zu legen, gilt es, diese Diskursverschiebungen ebenso nachzuzeichnen wie zeitgenössische Quellen in ihrer Entstehung und Rezeption zu historisieren. Exemplarisch soll hier der Dokumentarfilm Stau – Jetzt geht’s los von Thomas Heise (Deutschland 1992) als eine Schlüsselquelle besprochen werden, die verständlich machen kann, welche Perspektiven und Fragen Anfang der neunziger Jahre in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema Rechtsextremismus im Vordergrund standen.
Zwischen Weihnachten und Neujahr 1982 und 1983 fand im Frankfurter Theater am Turm (TAT) jeweils das Festival Stern.Zeichen statt, das im Untertitel „Homosexualität im Theater“ hieß. Zu den großen Entdeckungen der ersten Ausgabe zählte Georgette Dee, jene androgyne Künstler*in, die seit den frühen 1980er Jahren in ihren Bühnenauftritten unterschiedlichste Facetten von Geschlechtlichkeit aufführt, die sich nicht in einer einzelnen Identitätskategorie auflösen lassen. Für die zweite Ausgabe 1983 wurde Georgette Dee eingeladen, eine Weihnachts-Gala zu moderieren (und zu organisieren). Die Beschreibung des Auftritts lässt erahnen, mit welchem Glitter, Glamour und Camp hier gegen Heteronormativität angespielt und angesungen wurde.
Es gibt keinen Krieg ohne Heldengeschichten. Gegenwärtige Forschungen zum NS-Heldenkult knüpfen an diesen Gedanken unmittelbar an, vertreten jedoch zwei sehr unterschiedliche Ansichten, ohne dass dies eine Forschungsdebatte ausgelöst hätte: Auf der einen Seite steht die Vermutung, erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und somit nachdem der soldatische Heldenkult mit den Verbrechen der Nazis in Verbindung gebracht werden konnte, sei Abstand genommen worden von heroisierenden Kriegserzählungen. Auf der anderen Seite steht der Befund, schon während des Zweiten Weltkriegs und vor allem mit der Niederlage der 6. Armee in Stalingrad 1943 sei die Heroisierung der Wehrmacht unglaubhaft geworden. Mein Dissertationsprojekt überprüft diese These in Bezug auf die Wehrmachtssoldaten durch die Analyse der in illustrierten Zeitschriften veröffentlichten Bilder, die von Fotografen der NS-Propagandakompanien aufgenommen wurden und damit der Zensur des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und des Oberkommandos der Wehrmacht unterstanden.
Roland Freislers sich überschlagende Stimme im Volksgerichtshof, die beklemmende Atmosphäre im Nürnberger Gerichtssaal während des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher, Adolf Eichmann vor Gericht in Jerusalem: Töne und Bilder einiger besonders bedeutender Strafprozesse sind der Öffentlichkeit vertraut. Doch entstanden die Ton- und Filmaufnahmen nur in Ausnahmefällen und bereits mit Blick auf die Öffentlichkeit. Dies gilt für die Schauprozesse der NS-Diktatur, die für die mediale Verbreitung inszeniert wurden, ebenso wie für die Nürnberger Prozesse, bei denen die Dokumentation zur Aufklärung über die Verbrechen und zur Demonstration rechtsstaatlicher Verfahren diente.