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Der Text markiert eine Zeitenwende. Mit ihm wurde der gängigen Rede von der „Vergangenheitsbewältigung“, die den politischen und moralischen Diskurs der Nachkriegsrepublik als Cantus firmus begleitete, ein kritisches Konzept entgegengesetzt. Adornos Leistung war es, mit diesem Aufsatz die Unangemessenheit des „Bewältigungs-Diskurses“ aufzuzeigen und ein alternatives Programm der Aufklärung über die NS-Zeit zu etablieren. In seiner Urform war „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ ein im Herbst 1959 vor dem Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gehaltener, im November des Jahres publizierter Vortrag. Seine subkutane Wirkung war immens, nicht zuletzt aufgrund einer historischen Koinzidenz: Kurz nach der Veröffentlichung schändeten Rechtsradikale die gerade neu eingeweihte Kölner Synagoge – ein Akt, der die von Adorno analysierte Persistenz des nazistischen Syndroms in das Bewusstsein der Öffentlichkeit hob. Dass es sich bei der Gewalttat aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Aktion der Stasi handelte, gibt uns heute Anlass – ähnlich wie im Fall Kurras –, neu über das manchmal verwirrende Zusammenspiel ostdeutscher Delegitimierungsstrategien der Bundesrepublik mit den Aktivitäten der westdeutschen intellektuellen Opposition gegen den Adenauerstaat nachzudenken.
Eine besondere Chance, bottom-up-Einblicke in die Alltagsgeschichte von Menschen mit Behinderungen in der DDR und ihre Agency zu erhalten, bieten Eingaben: Bitt- und Beschwerdebriefe, die die Bürger:innen der DDR zu Hunderttausenden jährlich an staatliche Organe richteten, um Probleme im Alltagsleben und Konflikte mit Staat und Verwaltung zu lösen. Zunächst werden in diesem Beitrag die Besonderheiten solcher Eingaben in der DDR skizziert. Sodann wird erörtert, inwiefern die Analyse der Eingaben von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen eine wertvolle Perspektive auf ihr Alltagsleben und ihre Interaktionen mit Staat und Expert:innen ermöglicht und wo dabei Grenzen der Aussagekraft liegen. Dies wird anhand von Einzelfällen exemplarisch veranschaulicht.
»Individualisierte kollektive Verkehrssysteme - eine Lösung der Verkehrsnot in den Städten?« lautete die Frage, die Anfang der 1970er Jahre zahlreiche Forschungs- und Entwicklungsabteilungen von Firmen und Stadt- und Verkehrsplanungsbehörden beschäftigte. Die euphorische Hoffnung, die sich in dieser Zeit breitmachte, zielte darauf ab, das individuelle Bedürfnis der Fortbewegung, dem das Auto so schön entsprach, mit kollektiven Verkehrsmitteln zu befriedigen, um die Staus, die Umwehbelastung und den Lärm aus den Städten zu verbannen.
Die Digitalgeschichte ist in der deutschen Geschichtswissenschaft angekommen. Unter Digitalgeschichte verstehen wir eine neue historische Perspektive auf die fundamentale Umwälzung klassischer historischer Kategorien wie beispielsweise Raum, Zeit, Identität, Arbeit oder Nationalstaat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Informations- und Kommunikationstechnologien. Digitalgeschichte beschränkt sich nicht nur auf die Computergeschichte als Geschichte eines spezifischen Artefaktes, sondern umfasst alle auf binärdigitaler Codierung basierenden, elektronischen Technologien, beispielsweise auch Kommunikationsnetzwerke oder Mensch-Maschine-Hybride. Sie ist das deutsche Pendant zur englischen history of computing, hingegen mit dezidiertem Schwerpunkt auf die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart.
Computeranschaffungen in Deutschland und weltweit, in Auszügen. Die Tabellen und Daten schlüsseln auf, welche Institutionen zu welchem Zeitpunkt welche Computer zu welchem Zweck angeschafft und eingesetzt haben. Abgedeckt werden vor allem die Banken und Sparkassen der Bundesrepublik, der DDR und international. Darüber hinaus bietet die Aufstellung breiterer Anschaffungsprozesse in Wirtschaft, Staat, Wissenschaft, Militär und Gesellschaft eine Einordnung dieser Daten.
Vernetzte Bankenwelt. Computerisierung in der Kreditwirtschaft der Bundesrepublik und der DDR
(2018)
Diktaturenvergleich
(2014)
Komparative Verfahren gehören inzwischen auch in der Geschichtswissenschaft zum selbstverständlichen methodischen Handwerkszeug. Detlef Schmiechen-Ackermann zeichnet in seinem Beitrag frühe Etappen der Diktaturforschung und des Vergleichs im internationalen Maßstab nach und fragt, warum vergleichende Betrachtungen von Diktaturen in öffentlichen Debatten in der Vergangenheit so umstritten waren. Daran schließen sich Überlegungen zur Methodik und zu den unterschiedlichen Varianten des „Diktaturenvergleichs“ an sowie ein knapper Ausblick auf die sich wandelnden Perspektiven vergleichender Diktaturforschung im 21. Jahrhundert.
Heiße Rhythmen im Kalten Krieg. Swing und Jazz hören in der SBZ/DDR und der VR Polen (1945–1970)
(2011)
Der Aufsatz geht der Frage nach, wie Hörerinnen und Hörer in der SBZ/DDR und in Polen über Radio, Schallplatten und Live-Musik Zugang zu Jazzmusik erhielten. In beiden Gesellschaften entwickelte sich die Jazzszene in einem charakteristischen Spannungsfeld: Einerseits bezeichneten die sozialistischen Regime Jazz mit Beginn des Kalten Kriegs als „amerikanisch-imperialistische Musik“ und versuchten den „Jazztumult“ aus dem öffentlichen Raum und dem Rundfunk zu verdrängen. Andererseits war es mit Hilfe persönlicher Kontakte zu Menschen im Westen sowie vermittelt über die Programme der US Information Agency weiterhin möglich, sich Zugang zu Jazzmusik zu verschaffen. Der Vergleich der DDR mit Polen zeigt dabei, dass sich die bis dahin ähnlichen Kulturpolitiken beider Staaten ab 1956 wesentlich unterschieden. Polen öffnete sich für Jazz und unterstützte zum Teil die Szene wie auch die Musiker; an den Konzerteinnahmen verdienten die Kulturfunktionäre mit. In der DDR agierte das Regime dem Jazz gegenüber zunächst weiter ablehnend, bis der Beat zum neuen musikalischen Feindbild avancierte.
Nach dem Ende des Kalten Krieges gewann ein spezifisches Genre von Büchern an Popularität, die durch klangvolle Titel auf sich aufmerksam machten und versprachen, sowohl das globale Geschehen zu erklären als auch die künftige Rolle der USA in der Welt zu skizzieren. Dabei wurde der große Wurf meist eher angekündigt als tatsächlich erzielt. Wenige dieser Bücher erwiesen sich jedoch als so breitenwirksam und langlebig wie das 1996 veröffentlichte Werk »The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order« des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington (1927–2008). Der Verfasser schien kaum zu übertreiben, wenn er im Vorwort schrieb, dass seine These »in jeder Zivilisation« einen »Nerv getroffen« habe. Laut einem »Newsweek«-Bericht bestellte die Iranische Revolutionsgarde in den 1990er-Jahren stapelweise übersetzte Kopien, um sie an ihre Mitglieder zu verteilen. Übersetzungen mit nicht weniger griffigen Titeln – »Der Kampf der Kulturen« oder »Le Choc des civilisations« – fanden sich rasch auf den Bestsellerlisten verschiedener Länder. Die Rede von einem »Clash« war aber auch besonders geeignet, sich zu verselbstständigen. Ihr wurde eine unmittelbare Plausibilität und Erklärungskraft beigemessen, ganz gleich, ob es um internationale Konflikte, Terrorakte oder innergesellschaftliche Auseinandersetzungen ging – das zeigte insbesondere die Verbreitung der Formel nach den Anschlägen vom 11. September 2001.
Wer endlose Regalkilometer mit großen Tonbandspulen in klimatisierten Räumen und aufwändige Archiverschließungssysteme erwartet, mag zunächst enttäuscht sein. Fünf Metallkoffer gefüllt mit DATs (Digital Audio Tapes) und CDs (Compact Discs), ein Aktenordner mit Informationen zu Aufnahmeobjekt, -ort, -datum, -kontext sowie einer rudimentären Verschlagwortung: So sieht die materielle Dimension des Schallarchivs zur Klanglandschaft Ruhrgebiet aus, das Richard Ortmann, Ralf R. Wassermann und ich seit den 1980er-Jahren aufbauen und das sich, grundsätzlichen Überlegungen zur Quellenbasis einer Musealisierung regionaler Industrialisierung folgend, in Kopie auch im Essener Ruhr Museum befindet. Anders als Rundfunkarchive, deren im Laufe von Jahrzehnten akkumulierte Geräuschesammlungen sich (Hörspiel-)Produktionen verdanken, versteht sich dieses Schallarchiv als eine geschichtskulturelle Aktivität, die jenen umfassenden Strukturwandel zum Thema macht, den das Ruhrgebiet als alteuropäische Montanregion seit Ende der 1950er-Jahre durchlebt und vorantreibt.
Direkt nach dem Kriege photographierte Gerhard Gronefeld Berliner Kinder. Für sein Archiv gab er den Aufnahmen den Titel "Schlüsselkinder": Drei Jungen, in Trümmern spielend, tragen unübersehbar an einer reißfesten Schnur Wohnungsschlüssel um den Hals, wie sie in Berliner Mietskasernen üblich waren. Im Mittelpunkt des Bildes schaut ein Junge den Photographen direkt, offen, verschmitzt, doch gleichzeitig vorsichtig abwartend an. Auf seinen Knien liegt ein abgeklopfter Ziegelstein, über den die zerstörte Stadt mit in das Bild hineingenommen ist, als Spiel- wie als Arbeitsplatz, denn Steineklopfen war eine Tätigkeit, durch die sich Kinder ein paar Pfennige verdienen konnten. Gleichzeitig verweist dieser Ziegelstein im Verbund mit den sichtbaren Schlüsseln auch auf ein Abwesendes: auf die Mutter, die irgendwo "bis spät in die Nacht" arbeitet. Gronefeld, selbst „Berliner Junge“, zeigt Sympathie für die Kinder. Er dokumentiert sie ohne Anklage selbstständig als Herren über Raum und Zeit.
Harald Schmitt (*1948) ist einer der bekanntesten deutschen Fotografen des späten 20. Jahrhunderts. Nachdem er sich in den 1970er-Jahren vor allem für die Fotoagentur Sven Simon betätigte, war er seit 1977 festangestellter Fotoreporter des Magazins „stern“, für das er bis 1983 in der DDR arbeitete. Danach fotografierte er weltweit für „stern“-Fotoreportagen. Während seiner Laufbahn erhielt er sechs „World Press Photo Awards“.
In einem Interview mit zwei Studierenden des Public History-Masters der Freien Universität Berlin am 27. Mai 2014 sprach Harald Schmitt über seine Zeit in Ost-Berlin, seine prägendsten Erlebnisse und den Wandel der Fotografie.
Drei Bücher haben im 20. Jahrhundert zu unterschiedlichen Zeitpunkten das Bild der Deutschen über die Sowjetunion geprägt: René Fülöp-Millers „Geist und Gesicht des Bolschewismus“ aus dem Jahr 1926, Klaus Mehnerts „Der Sowjetmensch“ aus dem Jahr 1958 und Lois Fisher-Ruges „Alltag in Moskau“ aus dem Jahr 1984. Allen drei Publikationen ist gemeinsam, dass sie kaum auf die historischen Ereignisse oder das politische Tagesgeschäft zu sprechen kommen, sondern einen Einblick in die sowjetische Alltagskultur zu geben versuchen. Den Autoren der drei Bücher war von Anfang an klar, dass sie eigentlich Unmögliches vorhatten: Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, alle Facetten einer Gegenwartskultur zu erfassen und darzustellen. Im Fall der Sowjetunion kam erschwerend dazu, dass man kaum auf verlässliche Quellen zurückgreifen konnte: Die Kultur teilte sich in einen offiziellen Betrieb und einen verbotenen Untergrund, soziologische Daten waren nicht erhältlich oder manipuliert, die Gesprächspartner mussten immer auf der Hut vor den staatlichen Überwachungsorganen sein. So blieb den Autoren nichts anderes übrig, als sich auf ihre persönliche Erfahrung zu stützen, die naturgemäß nur einen beschränkten Radius aufwies. Der Erfolg der genannten Bücher verdankte sich nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch dem Erscheinungsdatum, das jeweils eine Wendezeit markierte: Fülöp-Miller lieferte nach zehn Jahren Sowjetregime eine erste Bilanz, Mehnert dokumentierte das Ende des Stalinismus, Fisher-Ruge gab einen Einblick in die gesellschaftlichen Startbedingungen der Perestrojka.
Die Europäische Union hat einen neuen Eisernen Vorhang. So brachten manche Zeitungen die Zustände in der spanischen Exklave Melilla an der nordafrikanischen Küste sinngemäß auf den Punkt. Fotos wurden abgedruckt, die einen hohen Zaun, oben mit Stacheldraht umwickelt zeigten, in dem sich Kleidungsstücke verfangen hatten. Menschen waren an diesem Zaun zu Tode gekommen - durch Schüsse der spanischen Polizei, also durch Schüsse der Staatsgewalt. Die Übertragung des Bildes oder der Metapher vom Eisernen Vorhang auf die südwestliche Außengrenze der EU an Nordafrikas Küste drängte sich vermutlich nicht nur den Medien auf.
Sprache formt die Wirklichkeit, in der wir leben. Diese Annahme bedeutet im Umkehrschluss, dass wir durch eine bewusste Nutzung von Sprache diese Wirklichkeit mitgestalten können. Dies ist ein grundlegender Gedanken vieler sozialer Bewegungen, so auch von trans* Bewegungen weltweit. Gerade für Personengruppen, die sehr lange abwertenden, stigmatisierenden und verletzenden Fremdbezeichnungen ausgesetzt waren oder es noch immer sind, spielt die selbstbestimmte Bezeichnung von Identitäten eine große Rolle. Gleichzeitig sind Selbstbezeichnungen komplex, vielfältig und ständig im Wandel, sodass der Versuch einer Beschreibung und Einordnung von Begrifflichkeiten immer eine lokal und zeitlich begrenzte Momentaufnahme bleiben muss. Dies gilt auch für den folgenden Versuch eines kurzen Überblicks über Begriffe, die seit dem letzten Jahrhundert für trans* Personen im deutschsprachigen Raum wichtig waren oder sind.
Das Ende des Kalten Krieges oder wie man alt wird. Man wird unwillkürlich zum Historiker der Zeit, deren Zeitgenosse man gewesen ist. Eine Epoche ist zu Ende gegangen, und wenn man diese beschreibt, beschreibt man zugleich auch ein Stück des eigenen Lebens, und umgekehrt: Das individuelle Leben fällt mit der historischen Zeit zusammen. Das hat nichts mit Selbstliebe oder Selbstüberschätzung zu tun. Man merkt es, wenn man mit jungen Leuten zusammen ist, mit denen man über Ereignisse spricht, die vor ihrer Geburt liegen, die man selbst aber miterlebt hat. Man berichtet aus der eigenen Zeit, die ihre Vorzeit ist. Es ist lohnend, sich dieser Zeit genau zu erinnern. Die subjektive Erinnerung bewahrt Details, Nuancen, Valeurs, die im Betrieb der Geschichtsforschung entweder gar nicht vorkommen oder später, wenn man deren Fehlen bemerkt, mühsam rekonstruiert werden müssen.
Eine Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts müsste zugleich eine Geschichte des Verlustes und des Vergessens sein. Zu solchen Überlegungen wird gedrängt, wer die Studien von Joseph B. Schechtman und Eugene M. Kulischer über die Bevölkerungsverschiebungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Hand bekommt. Bekanntlich ist das Problem von Flucht, Vertreibung, Zwangsumsiedlungen im Zusammenhang der Jugoslawienkriege und anderer „ethnischer Säuberungen“ wieder zu einem brisanten Thema geworden, das die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit auf sich ziehen konnte. Für die neuere Forschung – etwa Klaus J. Bades „Europa in Bewegung“ (2000) oder Norman Naimarks „Fires of Hatred“ (2001) – sind Kulischer und Schechtman kein monumentaler Referenzpunkt, sondern nur eine Fußnote.
„Die Geschichte kehrt an ihre Schauplätze zurück, wird anschaulich und lebendig - und rückt wieder in die Nachbarschaft großer Literatur“, heißt es im Klappentext von Karl Schlögels Buch „Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik“. Dies ist konventionelle Verlagswerbung, charakterisiert die Arbeiten des 1948 geborenen Historikers aber sehr treffend. Schlögel, der seit 1994 den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) innehat, bemüht sich seit langem darum, die Städte und Regionen des östlichen Europas wieder ins westliche Bewusstsein zu bringen, und er tut dies auf eine Weise, die nicht nur für das Fachpublikum interessant ist.1 Für seine Bücher hat Schlögel diverse Auszeichnungen erhalten; in diesem Herbst werden ihm der Georg-Dehio-Preis des Deutschen Kulturforums östliches Europa sowie der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehen.
Die Auflösung von Imperien ist immer so etwas wie eine glückliche Katastrophe. Mit all ihren Unsicherheiten und Instabilitäten ist sie eine Gefahr für so sensible, über viele Generationen gewachsene und auf Ordnung angewiesene Institutionen, wie es Museen sind. Sie ist andererseits eine große Chance, weil ein neuer Anfang gemacht und der Museumskosmos neu geordnet werden kann, weil Geschichten erzählt werden können, die bisher nicht erzählt worden sind, weil neue Narrative formuliert, neue Objekte aus den Depots hervorgeholt, neue Parcours entwickelt werden können – ein »Dekorationswechsel« im buchstäblichen Sinne. Eine solche Situation ist mit der Auflösung des sowjetischen Imperiums eingetreten.
Mit dem vorliegenden Essay möchte ich in erster Linie vorstellen, was eine intersektionale Disability History leisten kann, welche neuen Fragen sie generiert und welche (inter-)disziplinären Anschlussmöglichkeiten sie bietet. Dazu ist es zunächst notwendig, einen Blick auf die Genese der Forschungslandschaft zur Geschichte und Gegenwart von Behinderung zu werfen, da bereits seit einigen Jahrzehnten insbesondere das Verhältnis der Ungleichheitskategorien Behinderung und Gender beschrieben und untersucht wird. Anschließend wird der Einfluss der Intersektionalitätsforschung auf die Disability History vorgestellt, um zu diskutieren, welchen analytischen und theoretischen Mehrwert eine dezidiert intersektionale Herangehensweise an die (Zeit-)Geschichte von Behinderung bieten kann. Am Ende des Beitrags wird eine Auseinandersetzung mit den normativen Implikationen stehen, die sowohl die Intersektionalitätsforschung als auch die Disability History kontinuierlich begleiten. Eine intersektional angelegte Erforschung von Behinderung kann – so mein Argument – erstens zur Reflexion normativer Zwischentöne beitragen und zweitens das methodische Instrumentarium der historischen Ungleichheitsforschung insgesamt bereichern.
Alle ausgestellten 100 Werke aus der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem eint, dass sie im Augenblick der Verfolgung entstanden und nicht retrospektiv nach dem Ende des Krieges oder im Abstand von Jahrzehnten auf die Ereignisse blicken. Jedes Bild vereint drei Ebenen in sich, die die Bildtexte zu verbinden suchen: das Dargestellte, den Darstellenden sowie die Überlieferung des Werkes. Der hervorragende Katalog analysiert zudem Text, Kontext und Subtext der Bildinhalte. Zugleich geht die Ausstellung auf einer weiteren Ebene auch der Frage nach, wie unter den Umständen von Lager und Ghetto das Material für das Anfertigen der Kunstwerke beschafft werden konnte. Gemalt wurde auch auf Kartoffelsäcken und auf Watteverpackungen; für Linolschnitte wurden alte Reifen verwandt. Doch die meisten Werke sind auf Papier meist minderer Qualität entstanden und deshalb konservatorisch heikel. Überlebt haben die verbotenen Bilder in Tongefäßen oder anderen Verstecken.
Das bislang unveröffentlichte Manuskript von Soupaults Reportage „über Westdeutschlands Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem“ aus dem Jahr 1950, an deren Abdruck damals weder US-amerikanische noch französische und schweizerische Zeitungen interessiert waren, und die zugehörigen Fotoaufnahmen sind nun erstmals in einem sehr ansprechend gestalteten Band im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn publiziert worden. Herausgeber ist Manfred Metzner, der Nachlassverwalter der 1996 in Versailles verstorbenen Soupault, deren Bilder zuletzt in der Ausstellung „Das Auge der Avantgarde“ im Zeppelin Museum Friedrichshafen gezeigt wurden.
»Die deutschen Juden, denen die neue Wendung nicht unerwartet kommen kann, haben ihre innere Ruhe und Würde zu wahren. Es ist selbstverständlich, daß das deutsche Judentum sich gegen jeden Versuch der formalen und tatsächlichen Entrechtung und Depossedierung mit allen Mitteln und aller Energie zur Wehr setzen wird. Diesen Kampf kann nur ein Judentum führen, das von unbeugsamem Stolz auf sein Volkstum erfüllt ist. Mit Versuchen der Anpassung und Selbstverleugnung ist es vorbei.«
Radio San Remo
(2018)
Von den Begriffen ging in der Bundesrepublik ein besonderer Zauber aus. Was heute in den Kulturwissenschaften die grassierende Dauerrede vom »Bild« ist, war über lange Jahre der »Begriff« – der akademische Universalschlüssel zum Verstehen der modernen Welt. Nicht nur fielen die Grundbegriffe in der »Sattelzeit« an der Schwelle zur Moderne nach Reinhart Kosellecks Diagnose aus ihrem alten »Erfahrungsraum« und streckten sich nach einem neuen »Erwartungshorizont« – die Begriffsgeschichte selbst bildete in den Sechziger Jahren einen intellektuellen Erwartungshorizont aus. Wer die Begriffe zu lesen verstand – so stand an diesem Horizont geschrieben – der werde ganz neu über die geheimen Bewegungsgesetze der Moderne aufgeklärt.
Zur Durchsetzung einer Apologie. Hermann Lübbes Vortrag zum 50. Jahrestag des 30. Januar 1933
(2013)
Soll nun schon an das Jubiläum von Vorträgen erinnert werden, ließe sich fragen. In diesem Fall durchaus, denn gerade der Vortrag des Philosophen und Politikwissenschaftlers Hermann Lübbe anlässlich des 50. Jahrestags der nationalsozialistischen „Machtergreifung“, den er am 15. Januar 1983 im Berliner Reichstagsgebäude hielt, hat in der zeitgeschichtlichen Zunft eine ganz ungewöhnliche Karriere aufzuweisen. Hier, so der weit verbreitete Eindruck, hatte es ein kühl und nüchtern argumentierender konservativer Intellektueller den linken Moralisierern, die den angeblich defizitären Umgang mit der NS-Vergangenheit zur Diskreditierung der bundesdeutschen Gesellschaft funktionalisierten, einmal so richtig gegeben. Der thesenförmige Vortrag, sehr bald und an verschiedenen Orten veröffentlicht, gilt mitunter geradezu als kanonischer Text.
Zwischen Hoffen und Bangen. Südafrika im Blick westdeutscher Intellektueller der 1960er-Jahre
(2016)
In den 1960er-Jahren verbreitete sich die Kritik am südafrikanischen Apartheid-Regime weltweit. Aber die Bundesrepublik unterhielt gleichzeitig hervorragende und privilegierte Beziehungen zu den weißen Rassisten am Kap. Südafrika galt als natürlicher Verbündeter im Kalten Krieg gegen den Kommunismus und als Garant für die Sache des Westens im risikoreichen Dekolonialisierungsprozess auf dem schwarzen Kontinent.
Modernisierung
(2010)
Im Einzelnen sehr unterschiedliche modernisierungstheoretische Ansätze – von einer Modernisierungstheorie im Singular sollte nicht gesprochen werden – beanspruchen zu erklären, wie aus traditionalen bzw. vormodernen moderne Gesellschaften entstehen. Dazu wird in der Regel ein Set von mobilisierenden Faktoren präsentiert, die als Kriterium für den Transformationsprozess untersucht werden können. Auf einer weiteren Stufe der Theorieentwicklung wird auch die Modernisierung bereits moderner Gesellschaften als „reflexive Modernisierung" thematisiert.
Der Sozialismus sollte ein Gegenentwurf zum Kapitalismus sein. Dessen immanente Schwächen und seinen daraus vermeintlich zwangsläufig resultierenden Zusammenbruch hatte Karl Marx in seinen Schriften eingehend dargelegt. Seine Epigonen gingen davon aus, daß es reiche, die grundlegenden Konstellationen des Kapitalismus zu beseitigen, um damit eine dauerhaft krisenfreie Entwicklung der Gesellschaft zu gewährleisten. Diese Zuversicht beruhte darauf, daß der Mensch in der Lage sei, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und Gesellschaft nach rationalen Kriterien zu planen und zu gestalten - oder wie es bei Marx hieß „Geschichte [zu] machen“.
Die Gesellschaft sozialistischer Staaten wird oft als „arbeiterlich“ bezeichnet. Unabhängig davon, ob man dieser Pointierung folgt oder nicht, ist wohl sicher, daß diese Gesellschaften in hohem Maße von Arbeit geprägt waren. Mit dem Themenkreis „Arbeitsbeziehungen, Arbeitsverhältnisse, Arbeiterexistenzen“ wird also ein Bereich berührt, der eins der wichtigsten Laboratorien staatssozialistischer Politik war. Die besondere Bedeutung der Arbeitswelt sozialistischer Staaten betont auch Peter Hübner in seinem Beitrag. Er weist darauf hin, daß diese Sphäre seit 1989 eine nachträgliche, überwiegend positive Bewertung durch die ehemalige Bevölkerung erfahren habe und sie darum heute einen zentralen Bezugspunkt sentimentaler Rückschau darstelle.
Bilder aus Afghanistan und dem dort seit Jahren herrschenden Krieg sind nahezu allgegenwärtig im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs. Doch unterscheiden sich diese Bilder stark von den privaten Fotografien meines Vaters, der seit über 30 Jahren Bundeswehrsoldat ist und im Rahmen des NATO-Einsatzes International Security Assistance Force (ISAF) bisher fünf Mal an verschiedenen Standorten in Afghanistan für jeweils mehrere Monate eingesetzt war. Durch ihn konnte ich Kontakt zu seinen Kolleg*innen herstellen, und schließlich wurden mir 7159 private Fotografien von drei Bundeswehrsoldat*innen für mein Forschungsprojekt zur Verfügung gestellt.
Eine Geschichte der genetischen Beratung in der Bundesrepublik ist noch nicht geschrieben. Dies ist erstaunlich, lassen sich in der Verbindung von Beratungspraxis und Behinderung, Konzepten und Kritik an der Humangenetik doch grundsätzliche Fragen zum Wandel von Normalitätsvorstellungen, Geschlechterrollen und Gesellschaftsbildern verfolgen. Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht ein brisantes Thema: Sterilisationsempfehlungen für geistig behinderte Frauen und Mädchen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren ausgestellt wurden. Am Beispiel einer Hamburger humangenetischen Beratungsstelle betrachtet der Aufsatz das damalige Verhältnis von Genetik, Behinderung, Geschlecht und Vorsorgekonzepten. Die Kritik an der Sterilisationspraxis bildet einen weiteren Schwerpunkt des Beitrags. In den frühen 1980er-Jahren trugen Gegner und Befürworter geschichtspolitisch aufgeladene Kontroversen aus, die neue Blicke auf Behinderung hervorbrachten, zugleich aber auch Ambivalenzen gesellschaftlicher Liberalisierungsprozesse erkennen lassen.
Obdachlosen Männern wird aufgrund ihrer prekären Lebenssituation häufig eine »marginalisierte Männlichkeit« (Raewyn Connell) zugeschrieben. Welche Männlichkeitsformen diese soziale Gruppe von sich selbst öffentlich präsentierte, ist bisher aber noch unerforscht. Anhand des »Berber-Briefes« – einer von obdachlosen Männern selbst verfassten und vertriebenen Zeitung – und deutschen Straßenmagazinen werden Männlichkeitsentwürfe von Wohnungslosen oder ehemals Wohnungslosen analysiert. Dabei fällt auf: »Berber-Brief«-Autoren der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre präsentierten eine selbstbewusste »Protestmännlichkeit«, Straßenmagazinverkäufer der 2010er-Jahre eher eine von Dankbarkeit und Arbeitsethos geprägte »komplizenhafte Männlichkeit«. Wie lässt sich dieser Wandel erklären? Die verschiedenen Medienformate, deren Professionalisierung und Kommerzialisierung waren dabei wichtig, aber auch die Bereitschaft von Obdachlosen, sich bestimmten Verhaltenserwartungen partiell anzupassen – als Folge einer Sozialpädagogisierung und Individualisierung gesellschaftlicher Problemlagen. Der Aufsatz trägt zu einer Geschlechter- und Zeitgeschichte der Armut bei, die auf die Betroffenen als Akteure fokussiert.
Homeless men are often ascribed a ›marginalized masculinity‹ (Raewyn Connell) due to their precarious existence, yet the forms of masculinity this social group has publicly presented to others have remained unexplored. The article analyses the masculinities of homeless or formerly homeless people on the basis of the ›Berber-Brief‹ – a newspaper written and distributed by homeless men themselves – and German street magazines. It is striking that the ›Berber-Brief‹ authors of the late 1980s and early 1990s projected a self-confident ›protest masculinity‹, while the street magazine sellers of the 2010s tended to display a ›complicit masculinity‹ characterised by gratitude and a strong work ethic. How can this shift be explained? The various media formats and their professionalisation and commercialisation were important here, as was the willingness of homeless people to partially adapt to certain behavioural expectations – as a result of a social pedagogisation and individualisation of social problems. The article contributes to a gender and contemporary history of poverty that focuses on the people affected as actors.
Unter denen, die vor der NS-Diktatur flüchteten, waren nicht wenige bildende Künstler/innen – so auch die deutsch-jüdische Bauhausfotografin Grete Stern (1904–1999), die 1935/36 nach Argentinien emigrierte. Trotz autoritärer politischer Tendenzen genoss sie dort deutlich mehr künstlerische Freiheit. Während der ersten beiden Amtszeiten des demokratisch gewählten Präsidenten Juan Domingo Perón (1946–1955), der sich vor allem in der staatlichen Kontrolle der Medien an den europäischen Faschismen orientierte, auf den sich wegen seiner Sozialpolitik jedoch auch linksgerichtete Bewegungen beriefen, veröffentlichte Stern in der Zeitschrift »Idilio« (»Idylle«) eine Serie von Fotomontagen. Nach einem Überblick zur peronistischen Kulturpolitik bildet die Einordnung dieser Montagen, die zusammen mit einer Traumdeutungs-Kolumne erschienen, den Schwerpunkt des Aufsatzes. In subtiler Weise kritisierte Stern soziokulturelle Missstände der Zeit. Zu einem ihrer Hauptthemen wurden die Geschlechterbeziehungen – ein Gebiet, auf dem sich das peronistische Regime nicht zuletzt in seiner umfangreichen Bildpropaganda rühmte, tiefgreifende Veränderungen hervorgebracht zu haben.
Zum 30. Mal jährte sich 2007 der „Deutsche Herbst“. Angesichts der gegenwärtigen Diskurse um Terrorismus und Innere Sicherheit besitzt das Thema eine doppelte publizistische Relevanz, auch wenn die Ereignisse des Jahres 1977 mit den gegenwärtigen Entwicklungen kaum vergleichbar zu sein scheinen. Dennoch kann ein Blick in die Literatur jener Zeit vielleicht neue historische und aktualitätsbezogene Erkenntnisse liefern.
Jillian Becker, geboren 1932 in Johannesburg und seit den 1960er-Jahren britische Schriftstellerin und Journalistin, veröffentlichte kurz vor der Entführung Hanns Martin Schleyers am 5. September 1977 ihr 300 Seiten starkes Werk „Hitler’s Children“. Die Resonanz auf Beckers Studie war in der Bundesrepublik immens, so dass das Buch nur kurze Zeit später ins Deutsche übersetzt, im Titel mit einem Fragezeichen versehen und von der Autorin um den Epilog des „Deutschen Herbstes“ bis zum Tod der „ersten Generation“ der RAF ergänzt wurde. Das Werk erhielt die Newsweek-Auszeichnung „Buch des Jahres 1977“ und wurde in acht Sprachen übersetzt. Becker hatte damit die erste fundierte und penibel recherchierte Zusammenfassung über den Baader-Meinhof-Terrorismus der 1970er-Jahre geliefert, was sie neben Analysen zur PLO für ihre politische Beratungstätigkeit der Thatcher-Regierung in den 1980er-Jahren qualifizierte.
Das im Jahre 1980 entstandene rumänische Brettspiel Bunul Gospodar, oder zu Deutsch „Der gute Wirtschafter“, kann als sozialistischer „Bruder“ eines zutiefst kapitalistischen Brettspiels gesehen werden. Ein einziger Blick auf die Aufmachung verrät, dass es sich um einen Klon des bereits 1930 in den USA veröffentlichten und weltweit bekannten Spiels Monopoly handelt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Gesellschaftsspielen ist allerdings das Ziel des Spiels. Dadurch werden die dem Spiel zugrunde liegenden Wertevorstellungen des jeweiligen Herkunftslandes rasch deutlich.
Am 12. Oktober 1960 ergriff Nikita Sergeevič Chruščev in der UNO während der Rede des philippinischen Delegierten Lorenzo Sumolong seinen Schuh, schlug damit auf seinen Tisch und ereiferte sich: „Warum darf dieser Nichtsnutz, dieser Speichellecker, dieser Fatzke, dieser Imperialistenknecht und Dummkopf – warum darf dieser Lakai der amerikanischen Imperialisten hier Fragen behandeln, die nicht zur Sache gehören?“ Chruščev war zunächst mit seinem Auftritt sehr zufrieden – er berichtete seinem Berater Oleg Trojanovskij, er habe etwas verpasst; sie hätten großen Spaß gehabt. Die sowjetische Presse verschwieg den Vorfall, während sich die westliche über die „Schusterdiplomatie“ halb ereiferte, halb amüsierte. Interessant ist, dass hier vollkommen unterschiedliche Vorstellungen von „Diplomatie“ zum Ausdruck kamen. Während der konsternierte Chruščev meinte, die UNO sei ein Parlament wie das House of Commons in London, wo es zur Kultur des Hauses gehöre, durch Raunen, Rufen und Gesten seinen Unmut kundzutun, fand die westliche diplomatische Welt ihr Urteil bestätigt, dass der sowjetische Partei- und Regierungschef im besten Fall ein Politclown, im schlechtesten einfach unzurechnungsfähig sei. Der berühmte Vorfall in der UNO macht deutlich, dass auf westlicher Seite eine klare Norm diplomatischen Verhaltens existierte, an der Chruščev gemessen wurde, während dieser experimentierte, improvisierte und etwaige Normen ignorierte.
Die Welt befindet sich noch immer im Schock, weil niemand glaubte, Putin würde tatsächlich die Ukraine überfallen. Von den drei Szenarien angesichts des seit Herbst letzten Jahres nicht abreißenden russischen Truppenaufmarschs an der ukrainischen Grenze war dies das unwahrscheinlichste. Viel zu hoch erschien das Risiko: Wie würde Putin seiner Bevölkerung einen Krieg gegen das „Brudervolk“ verkaufen, wie seine kriegsabgeneigte Bevölkerung auf unzählige Tote vorbereiten? Der Fehler lag darin, nicht in Putins Propaganda-Kategorien zu denken, mit denen der Krieg zur „Spezialoperation“ und der Angriff zur „Befreiung“ wurde. Das noch größere Versäumnis lag darin, dass wir Russlandkenner*innen nicht mit Militärstrateg*innen sprachen, die hätten erläutern können, dass Putin nach dem Lehrbuch des Krieges im 21. Jahrhundert vorgehen würde: erst mit Raketen und schwerer Artillerie alles ausschalten, was die dann nachrückenden Soldaten gefährden könnte. In einem solchen chirurgischen Eingriff – den Feind wehrlos bomben, reingehen, die Regierung austauschen und wieder rausgehen – sah Putin offenbar eine reelle, wenn auch riskante, inzwischen vielleicht gescheiterte Chance, das wahrzumachen, was er bereits im Juli 2021 in einem historischen Essay zu Papier gebracht hatte: die Ukraine Russland wieder einzuverleiben.
Bildagenturen, die zwischen Fotografen und Redaktionen vermitteln, sind zentrale Akteure bei der Produktion massenmedialer Sichtbarkeit. Ihre Rolle im System der NS-Bildpropaganda ist weitgehend unerforscht. Der Aufsatz widmet sich einem brisanten Spezialfall, der amerikanischen Associated Press und ihrer Niederlassung im Deutschen Reich. 1935 unterstellte sich die deutsche AP GmbH dem Schriftleitergesetz und ließ sich damit »gleichschalten«. Bis zum Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 hatte sie eine eminente Bedeutung als transatlantischer Bildlieferant für die nationalsozialistische Propaganda. Außerdem durfte AP weiterhin im Deutschen Reich produzieren. Die von der Agentur unter der Ägide des Propagandaministeriums, der Wehrmacht und der SS aufgenommenen Fotos bestückten die NS-Presse, aber die New Yorker AP-Zentrale stellte sie auch der nordamerikanischen Presse zur Verfügung, wo sie mal als scheinbar neutrale Nachrichtenbilder erschienen, mal ausdrücklich als Propagandabilder gekennzeichnet wurden.
Ein 16mm-Film, aufgenommen im Frühsommer 1941. Familie und Hausangestellte haben sich im Garten der Villa Regenstreif im 18. Wiener Gemeindebezirk versammelt. Die Anwesenden sind festlich gekleidet, sie plaudern und scherzen beim Nachmittagskaffee. Fröhliche Stimmung herrscht auch in den darauffolgenden Aufnahmen eines gemeinsamen Essens. Dann ein harter Schnitt: Ein Lastwagen, bepackt mit Koffern, fährt ab. Die drei Söhne der Familie sitzen auf der Ladefläche, sie winken der Kamera entgegen. Daraufhin sieht man die beiden jüngeren Buben in Anzug und Krawatte – sie treten auf der Terrasse drei unbekannten Personen gegenüber. Dem Mann, von dessen Jackettkragen das NSDAP-Abzeichen blitzt, schütteln sie höflich die Hand und überreichen ihm ein Körbchen. Darin befinden sich die Schlüssel zur Villa Regenstreif. Mit ihrer Übergabe wird die Enteignung durch die Nationalsozialisten und die Vertreibung der Familie aus dem Elternhaus endgültig vollzogen – und zwar vor laufender Kamera.
In Anlehnung an die Medienwissenschaftlerin Alexandra Schneider kann die Amateurkinematografie als eine kulturelle Praxis verstanden werden, die bestimmte Formen der Produktionstätigkeit, des von ihr sogenannten filmischen Texts und der Rezeption vereinte und verschiedene, soziale wie künstlerische, Funktionen erfüllte. Der Begriff des Amateurfilms umfasst alle möglichen Genres nicht kommerzieller Filmproduktion: Familien- und Urlaubsfilme ebenso wie Reportagen von politischen Ereignissen bis hin zu Werbe- und Imagefilmen sowie handlungsbasierten Spielfilmen, die entweder für den privaten Familien- und Freundeskreis oder für ein halb-öffentliches Publikum im Kontext von verschiedenen Vereinen und Organisationen bestimmt waren.
Ist die aktuelle Krise schon hinreichend beschrieben, verstanden und erklärt, nur weil sich die Geschwindigkeit erhöht hat, mit der ein globales Phänomen von Wissenschaftlern durchleuchtet, von Journalisten interpretiert und von Interessengruppen instrumentalisiert werden kann? Gegenwärtig spielen sich diese kommunikativen Akte in Echtzeit ab und gönnen sich kaum den nötigen Abstand zum Ereignis. Ratlosigkeit herrschte nur in jenem kurzen Augenblick, der allen Beobachtern zum ersten Mal bewusst machte, wie ernst die Lage wirklich war: Am 4. Oktober 2008, dem Sonntag eines langen Wochenendes, traten Kanzlerin und Bundesfinanzminister vor die Presse und beteuerten, dass alle Spareinlagen notfalls durch den Staat gesichert seien. Davor und danach aber ist eine eigentümliche Paradoxie zu beobachten: Eine extrem unsichere Situation, deren genaue Dimension heute ebenso wenig zu ermessen ist wie das Ausmaß ihrer Folgen, wird fortwährend im kommunikativen Modus der Gewissheit thematisiert.
Solidarität und Alltag der DDR aus der Sicht exilierter Mitglieder des African National Congress
(2023)
In seiner Rede auf einem Empfang in der Düsseldorfer Industriekredit-Bank im September 1969 bedauerte der BDI-Präsident Fritz Berg (1901–1979), dass man Teilnehmern eines wilden Streiks bei der Dortmunder Hoesch AG nicht mit Waffengewalt entgegengetreten sei. Man hätte »doch ruhig schießen sollen, einen totschießen, dann herrsche wenigstens wieder Ordnung«. Der ehemalige Fahnenjunker der preußischen Gardepioniere bezog sich dabei auf eine Meldung der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, die auf ihrer Titelseite darüber berichtet hatte, dass nicht streikwillige Kollegen von streikenden Stahlarbeitern körperlich bedroht worden seien. Eine andere Gruppe habe das Vorstandsbüro gestürmt und anschließend versucht, sich gewaltsam Zutritt zur Villa eines Werksdirektors zu verschaffen. Dessen Ehefrau habe die marodierenden Malocher mit gezogener Waffe am Betreten ihres Anwesens gehindert. Als die geladenen Repräsentanten der nordrhein-westfälischen Wirtschaft auf Bergs Worte mit Schweigen reagierten, setzte dieser noch einmal nach und erklärte, seine Aussage könne man ruhig zitieren.
Der Beitrag untersucht Authentizitätskonstruktionen und ihr Verhältnis zu Medialität im deutschsprachigen Mediendiskurs über »altes« Handwerk, handwerkliches Selbermachen und Do It Yourself (DIY) seit 1990. Dabei wird ebenfalls auf historische Spezialdiskurse eingegangen, auf welche die Deutungen in der Gegenwart zurückgreifen. Drei Paradoxien strukturieren die Untersuchung: das Paradoxon der materialbasierten Entmaterialisierung, das Paradoxon der schnellen Entschleunigung und das Paradoxon der massenmedialen Fortschrittskritik. Daran wird deutlich, dass Medien Authentizität zuschreiben und dabei in einen Widerspruch zu ihrer eigenen Verfasstheit gelangen. Über den Gegenstand »Handwerksdiskurs« hinaus wird dies als inhärenter Bestandteil von Authentisierungsstrategien identifiziert.
In einem sehr weiten Sinne lässt sich Erzählen als eine grundlegende Form des Weltzugangs begreifen – und ist daher auch für die Geschichtswissenschaft von eminenter Bedeutung. Der narrative Modus spielt nicht nur bei der Repräsentation, sondern bereits bei der Konstitution von Wissen eine wichtige Rolle. Achim Saupe und Felix Wiedemann führen in ihrem Beitrag in zentrale narratologische Theorien und Grundbegriffe ein und stellen Ansätze sowie Anwendungsfelder in der Geschichtswissenschaft vor.
Destination Vergangenheit. David Lowenthals Panorama geschichtskultureller Aneignungen (1985/2015)
(2021)
»The Past is a Foreign Country« ist ein Zentralmassiv der Heritage Studies, der Cultural and Historical Geography und der Public History. Das 1985 erschienene Buch nimmt populäre Zugänge und Formen der Bewahrung und Repräsentation der Vergangenheit in den Blick; dabei spannt es den Bogen von der Gegenwart bis zurück in die Renaissance. Lowenthal zitiert mit seinem Titel den britischen Schriftsteller Leslie Poles (L.P.) Hartley (1895–1972), der seinen Roman »The Go-Between« (1953) mit den Worten begann: »The past is a foreign country; they do things differently there.« Schon die Umschlagbilder legen eine Reise in ferne Vergangenheiten nahe und wecken zugleich den mit dem (Geschichts-)Tourismus verbundenen Exotismus, der aus dem Fremden ebenso wie aus dem Vergangenen das unberührt-unverfälscht Natürliche und Authentische macht. Die Destinationen, die Lowenthal bei seiner Reise in vergangene Geschichtskulturen aufsuchte, lagen vor allem im Vereinigten Königreich, in Nordamerika und im westlichen Europa. Das Buch durchzieht die These, dass alle populären Versuche, die Vergangenheit möglichst authentisch zu bewahren, zu rekonstruieren, darzustellen oder wahrzunehmen, auf die eine oder andere Weise zum Scheitern verurteilt sind, dass sich aber gerade aus der Formbarkeit der Vergangenheit ihre identitätsbildende Kraft erschließt.
Von „Ruhe und Ordnung“ zur „inneren Sicherheit“. Eine Historisierung gesellschaftlicher Dispositive
(2010)
Die „innere Sicherheit“ ist seit den 1970er-Jahren zu einem Leitbegriff der politischen Kultur der Bundesrepublik geworden. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, den Begriff und die Politik der „inneren Sicherheit“ in zweifacher Weise zu historisieren. Erstens wird „innere Sicherheit“ als ein politisches Schlagwort verstanden, welches in einer langfristigen Perspektive den Topos „Ruhe und Ordnung“ abgelöst hat. Zweitens wird anhand des kritischen politischen Diskurses der 1970er-Jahre auf die psychologische Dimension der Semantik der „inneren Sicherheit“ aufmerksam gemacht, die als neue Konzeption des Verhältnisses zwischen Staat und Individuum wahrgenommen wurde. Während mit „Ruhe und Ordnung“ die Vorstellung einer disziplinär-militärisch und obrigkeitsstaatlich verfassten Ordnung einherging, kann das neue Sicherheitsdispositiv neben seinem stabilitätsbetonenden und repressiven Charakter auch ein zivilgesellschaftliches Verständnis implizieren, welches Sicherheit weniger garantiert, sondern sie als Abwägung von Freiheiten und Risiken versteht.
Spannende und spannungsreiche Geschichtserzählungen sind mit der in der populären Geschichtskultur, aber auch in der Geschichtswissenschaft verbreiteten Vorstellung vom »Historiker als Detektiv« eng verknüpft. Diese Metapher
deutet die historiografische Praxis im Rahmen eines »Indizienparadigmas« als akribische »Spurensuche«, die als »Wissenspraxis« und »Orientierungskunst« verstanden werden kann. Damit rücken Geschichtserzählungen in die Nähe populärer detektivischer Narrative, wenn nicht sogar – wie in historischen Kriminalromanen, in historischen Fernsehdokumentationen oder Geschichtsfilmen – die Geschichte selbst »als Krimi« aufgefasst wird.
Authentizität (Version 3.0)
(2015)
Jetzt in einer vollständig überarbeiteten und erweiterten Neuauflage Version 3.0: Achim Saupe zeigt in seinem Artikel den Aufstieg des neuzeitlichen Authentizitätsbegriffs, der eng mit der Geschichte des modernen Subjekts verknüpft ist, betrachtet ihn vor dem Hintergrund der Entwicklung der modernen Medien- und Konsumgesellschaft und stellt die Frage, wie sich das Politische zum Authentischen verhält. Schließlich wird in methodischer und thematischer Hinsicht die Authentizitätsproblematik in der historischen Forschung dargestellt.
Authentizität (Version 1.0)
(2010)
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der Authentizitätsbegriff zu einem allseits verwandten Schlagwort gewandelt. Über Authentizität wird heutzutage in vielen kulturwissenschaftlichen Disziplinen gesprochen: in der Psychologie, der Pädagogik, der Soziologie, der Ethnologie, den Politikwissenschaften, der Philosophie und selbstverständlich in den Kunstwissenschaften und der Ästhetik. Der schillernde Authentizitätsbegriff hat auch den Bereich der Geschichtsschreibung und der Zeitgeschichte erfasst, und doch ist Authentizität keinesfalls ein zeithistorischer Grundbegriff.
Authentizität (Version 2.0)
(2012)
„Sei authentisch!” – diese Anforderung an das moderne Selbst ist insbesondere in alternativen Milieus der 1970er- und 1980er-Jahre geprägt worden und findet heutzutage in einer zunehmend medialisierten und digitalen Welt neue Bedeutung. Der schillernde Authentizitätsbegriff, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem allseits verwandten Schlagwort und vielbeachteten Phänomen in den Kulturwissenschaften geworden ist, gewinnt sowohl in methodologischer Hinsicht als auch als Forschungsgegenstand zunehmend an Bedeutung für die zeithistorische Forschung.
Die Gesellschaftspolitik der KPD/SED richtete sich sofort nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes in direkter Abhängigkeit von den Zielen sowjetischer Deutschland- und Besatzungspolitik auf eine Entmachtung der alten Eliten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Neben umfassenden Demontage-, Beschlagnahme- und Enteignungsmaßnahmen in der gewerblichen Wirtschaft, mit denen allen größeren Industrieunternehmern die Basis ihres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einflusses entzogen wurde, gehörte eine radikale landwirtschaftliche Bodenreform zu den wohl wichtigsten Ansatzpunkten zur Beschleunigung der durch den Krieg selbst bereits eingeleiteten Umwälzung des gesellschaftlichen Gefüges.
Wirtschaftskammem sind öffentlich-rechtlich verfasste Einrichtungen zur wirtschaftlichen Selbstverwaltung und gelten als typisch für korporative Marktwirtschaften, wie sie das Deutsche Kaiserreich und die Weimarer Republik kannte und auch die Bundesrepublik noch immer kennt. In einer korporativen Marktwirtschaft dienen Wirtschaftskammem - hierin den freien Berufs-, Fach- und Unternehmerverbänden recht ähnlich - in erster Linie der Selbstverwaltung, Interessenvertretung und Repräsentanz des gewerblichen Mittelstandes, nehmen darüber hinaus aber auch gewisse staatliche Aufsichts- und Kontrollaufgaben gegenüber ihren Mitgliedern wahr. Vor diesem Hintergrund ist es auf den ersten Blick etwas erstaunlich festzustellen, dass Wirtschaftskammem auch in der Planwirtschaft der DDR existierten. Stehen zentraladministrative Planwirtschaft und wirtschaftliche Selbstverwal-tung nicht in einem grundsätzlichen Widerspruch zueinander? Was war die raison d’etre der Wirtschaftskammem in der DDR? Stellten sie lediglich Übergangserscheinungen dar, die nur deshalb toleriert wurden, weil sie sich bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit als nützlich erwiesen und die öffentliche Verwaltung ohne ihre Unterstützung hoffnungslos überfordert gewesen wäre? Verloren sie angesichts der immer stärkeren Verdrängung der Privatwirtschaft im Zuge des „Aufbaus des Sozialis-mus“ ihre Existenzberechtigung? Oder bewirkte die sich verschärfende Systemkonkurrenz des Kalten Krieges einen spezifischen Wandel ihrer Funktionen, so dass sie - vielleicht gerade weil sie eigentlich „systemfremde“ Institutionen waren, die zur politischen Kommunikation mit dem konkurrierenden westlichen System gebraucht wurden - dauerhaft bestehen konnten?
Der demokratische Zentralismus als das prägende Herrschaftsprinzip staatssozialistischer Gesellschaften, das nicht nur in der politischen Sphäre, sondern auch in der Staats- und Wirtschaftsordnung volle Gültigkeit beanspruchte, lässt die Frage nach möglicherweise daneben existierenden kooperativen „Netzwerken“ auf den ersten Blick als nachgeordnet erscheinen. Das Herrschaftsprinzip des demokratischen Zentralismus, das sei kurz in Erinnerung gerufen, stellte die wichtigste Grundlage für die zentralistische Leitung und den einheitlich-hierarchischen Aufbau des gesamten politischen, staatlichen und wirtschaftlichen Institutionengefiiges in den staatssozialistischen Gesellschaften dar. Legitimiert wurde es bekanntlich mit dem ideologischen Postulat, die sozialistische Gesellschaft bedürfe der einheitlichen und planmäßigen Führung durch die Partei der Arbeiterklasse, die deshalb keine konkurrierenden Macht- und Selbstbestimmungsansprüche neben sich dulden könne. Von der Partei wurde das Prinzip des demokratischen Zentralismus folglich nicht nur im eigenen Organisationsaufbau berücksichtigt, sondern - leicht abgewandelt - auch auf den ihrer Leitung subordinierten Staat sowie die ihm einverleibte Wirtschaft übertragen.
Die Geschichtsschreibung über Banken und Finanzmärkte im Industriezeitalter als spezieller Zweig der Wirtschaftsgeschichte wurde von der Zeitgeschichte, sowohl in ihrer klassischen politik- und sozialhistorischen als auch in ihrer aktuellen, stärker kulturalistischen Ausprägung, bisher kaum zur Kenntnis genommen: Banken und Finanzmärkte scheinen Opfer „blinder Flecken“ in der Wahrnehmung der Zeithistoriker/innen zu sein.
Der Aufsatz präsentiert die multimediale Geschichte des Romans, Hörspiels und Fernsehfilms »Am grünen Strand der Spree«, die zwischen 1955 und 1960 in Westdeutschland publiziert wurden. Darin schildern der Autor Hans Scholz bzw. die Regisseure Gert Westphal und Fritz Umgelter unter anderem die Massenerschießung von Juden in der sowjetischen Stadt Orscha im Herbst 1941. Der Romanautor beteuerte, die Beschreibung basiere auf seinen eigenen Kriegserinnerungen, und nahm für sich die Position eines Augenzeugen in Anspruch. Zugleich passte er das Bild des Verbrechens an die mutmaßlichen Erwartungen seiner Leser*innen an. Ähnlich agierten die Regisseure des Hörspiels und Fernsehfilms. Jede Version entfernte sich von den Ereignissen, die während des Ostfeldzugs tatsächlich stattfanden, und ähnelte zunehmend den Erzeugnissen der bundesdeutschen Erinnerungskultur, die Leid und Heldentum deutscher Soldaten in den Vordergrund stellte. Nichtsdestotrotz hielten die Rezipient*innen – darunter zahlreiche Kriegsveteranen – die Szene aus Orscha für besonders »authentisch«. Anhand von Aussagen in zeitgenössischen Besprechungen, Briefen und Interviews wird die Vorstellung von angeblich »authentischen Kriegsbildern« in der Bundesrepublik diskutiert.
Joseph Weizenbaum (1923–2008), in Berlin geboren, war durch die Nazis gezwungen, mit seiner jüdischen Familie aus Deutschland zu fliehen. Am MIT in Boston wurde er seit den 1960er-Jahren ein renommierter KI-Forscher. Er ist bis heute nicht nur als ein Pionier der Forschung zur Künstlichen Intelligenz anerkannt, sondern vor allem als ein streitbarer Kritiker der Computerkultur. Sein Buch »Computer Power and Human Reason. From Judgement to Calculation« ist ein Klassiker der Technik- und Wissenschaftskritik, ja der Kritik an der technischen und naturwissenschaftlichen Moderne überhaupt. Es ist aber besonders der Titel der deutschen Ausgabe, der mit seiner Dichotomisierung von Macht und Ohnmacht, Computer und Vernunft die These des selbsterklärten »Dissidenten« oder »Ketzers« der Informatik eingängig auf den Punkt bringt. Und das Zitat auf der Umschlagrückseite verortet das Buch auch gleich im Feld der Kritischen Theorie Max Horkheimers, auf den Weizenbaum sich explizit bezieht: »Ich bekämpfe den Imperialismus der instrumentellen Vernunft, nicht die Vernunft an sich.«
Ein historischer Rückblick bis zurück an die Schwelle zum 18. Jahrhundert mag für medizinische Praktiker müssig erscheinen. Angesichts beschleunigter wissenschaftlicher Innovation und eines präzedenzlosen Informationsüberflusses aus rezenter Forschung, mit dem Ärzte täglich konfrontiert werden, scheint die Geschichte der Medizin oder spezifisch die der Gesundheitsvorsorge des 19. Jahrhunderts längst nichts mehr mit der Gegenwart zu tun zu haben, geschweige denn uns irgendwelche Einsichten vermitteln zu können. In den folgenden Zeilen soll demgegenüber die These vertreten werden, dass die heute fortschrittlichste Form der individuellen Gesundheitsvorsorge in einigen Aspekten wieder an Konzepte des 19. Jahrhunderts anknüpft. Die rekonstruierbare historische Erfahrung - die einen kursorischen Durchgang durch einige der wichtigen Etappen und Aspekte dieser Geschichte erfordert - könnte helfen, die heutige Situation besser zu verstehen und zu zeigen, dass das, was Ärzte einerseits und Laien andrerseits im Feld der Prävention heute tun, was sie richtig und wichtig finden, vielleicht aber auch, was als besonders neu und einzigartig erscheint, nicht neu ist, sondern auf einer spezifischen Traditionslinie liegt.
Die Dezember-Ausgabe der Zeitschrift Osteuropa (herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde) widmet sich unter dem Titel „Macht statt Gewalt oder: Gewalt statt Macht, Belarus: Schritte zur Freiheit: oder Repression, Schikane, Terror“ auf über 400 Seiten der politischen Situation in Belarus und der Geschichte des Landes. Wir baten den Chefredakteur der Zeitschrift, Manfred Sapper, um Zusammenarbeit für unseren Themenschwerpunkt zu Belarus und bekamen umgehend die freundliche Genehmigung das Editorial des Themenheftes (10-11/2020) als Reprint zu veröffentlichen.
Aspekte einer Theorie der auditiven Kultur. Ästhetische Praxis zwischen Kunst und Wissenschaft
(2010)
In den letzten Jahren wurde viel über die Situation in
den Geisteswissenschaften diskutiert, zur Debatte stand ein Paradigmenwechsel – die Idee der Geisteswissenschaften sollte durch die der Kulturwissenschaften ersetzt werden. Das Bestreben, die aktuellen Lebensverhältnisse in ihren kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Erscheinungsformen zum Thema der Wissenschaft zu machen, hatte zunächst, so könnte man die Entwicklung im 20. Jahrhundert zusammenfassen, die Neugründung von Wissenschaften zur Folge. Dazu gehören, mit unterschiedlichen Akzentuierungen und Orientierungen, Politologie und Soziologie ebenso wie etwa auch die Anthropologie. Diese Entwicklung setzte sich jedoch weiter fort. Die aktuelle Diskussion resultiert daraus, dass nun auch Bereiche erfasst sind, in denen traditionell ein anderes Wissenschaftsverständnis herrscht, nämlich das der Geisteswissenschaften.
In der gegenwärtigen Krise europäischer Integration richtet sich der kritische Blick der Historiker auch auf problematische Ursprünge „Europas“ im 20. Jahrhundert, und hier besonders auf die NS-Zeit. Die zeitweilige deutsche Hegemonie über den Kontinent während des Zweiten Weltkriegs, die mit millionenfachen Massenmorden verbunden war, wurde in Teilen der Literatur als Ausdruck antieuropäischer Ideologie und Praxis bezeichnet, die Anwendung des Integrationsbegriffs auf die nationalsozialistische Herrschaftsausübung dagegen scharf kritisiert, ja sogar als „Pseudowissenschaft“ abgetan. Im Kontext des vorliegenden Themenhefts und im Licht neuerer Forschungen soll hier noch einmal gefragt werden, ob und wie sich die Zeit des Nationalsozialismus und besonders des Zweiten Weltkriegs als Teil europäischer Integrationsgeschichte interpretieren lässt.
History is not only construed and handed down in writing. In popular cultural practice, it has long been edited and can be experienced in many forms. Past debates have not treated these practices well, however, and concentrated primarily on representational forms shaped by historical politics, such as museums and schoolbooks, as well as by entertainment-oriented media, such as television documentaries, feature films and TV-series, video and computer games, as well as non-fiction and novels. In this context, doing history, understood as a discursive and performative visualisation of the past, has hardly been explored, although it has quite a long tradition. In this introduction, we pursue an access that is both theoretical and practical, and draw closer to doing history on the basis of three central pairs of concepts that have strongly influenced the cultural and historiographical debate over the last several years: ›body_emotion‹, ›experience_space‹ as well as ›thing_meaning‹. History is created in the interplay between person, body, space and object. The physical and affective experience influences, in interaction with the evocative experience of presence, as well as the relationship and meaning of the object and the actions and interpretations of individuals, what is capable of leading to sensational, certainly culturally subjectively shaped imaginations from the past.
Nachdem das Interesse an Dingen und damit an Materieller Kultur im Forschungsalltag mancher Disziplinen lange Zeit eher gering war, erlebt die Auseinandersetzung mit Dingen seit etlichen Jahren auch in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft eine Renaissance. Das gilt nicht nur für Fächer, die sich schon seit jeher mit Materieller Kultur beschäftigen – etwa die archäologischen Wissenschaften, die Ethnologie und die Volkskunde/Europäische Ethnologie –, sondern zunehmend auch für solche Wissenschaften, deren genuiner Forschungsgegenstand keine materiellen Hinterlassenschaften sind, wie die Geschichtswissenschaft, die Philosophie, die Germanistik und verschiedene sozialwissenschaftliche Fächer. Zu denjenigen Fächern, die die Dinge für sich entdeckt haben, gehört seit wenigen Jahren auch die Zeitgeschichtsforschung. Auf den ersten Blick mag das zunehmende Interesse verwundern, verfügt die Zeitgeschichte doch über andere Quellenarten (Schriftdokumente, audiovisuelle Quellen, mündliche Zeugnisse), die deutlich mehr Aussagekraft als gegenständliche Objekte zu haben scheinen. Den Dingen wird von der Zeitgeschichtsforschung heute offenbar ein Erkenntniswert zugemessen – befördert unter anderem auch durch die Studien Bruno Latours und seine Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) –, der ihnen zuvor abgesprochen bzw. nicht zuerkannt worden war.
Die Vergangenheit ist allgegenwärtig. Wir können sie scheinbar mit all unseren Sinnen wahrnehmen: So hören wir etwa im Radio Kommentare zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, sehen im Fernsehen im Prinzip täglich Sendungen mit historischem Inhalt und lesen in Zeitungen über neueste archäologische Funde.
Die Geschichtswissenschaft stellt sich auf der einen Seite als eine von vielen Disziplinen in einer Universitas litterarum dar, auf der anderen erhebt sie den Anspruch, „alles“ als ihren Gegenstand zu betrachten. War es bis 1945 üblich, in „Geschichte“ immer nur bestimmte Facetten des vergangenen Lebens von Völkern, Staaten, Gesellschaften zu sehen – die Schwerpunkte konnten wechseln, das unterlag einer Art „Mode“ – und diese dann wie in einem „Kanon“ aufzulisten, so ist dieser „Kanon“ seitdem immer fragwürdiger geworden. Zwar gibt es noch die konventionellen Einteilungen, etwa in politische, militärische, wirtschaftliche, kulturelle Geschichte, und die Strukturen traditionsreicher Universitäten werden oft durch althergebrachte Lehrstühle für verschiedene Teilgebiete der Geschichte bestimmt, aber das ist heute nicht mehr die Regel.
Mit dem Übergang zum 21. Jahrhundert stellt sich die Frage nach den spezifischen Konturen des vergangenen 20. Jahrhunderts. Je nach Perspektive lassen sich unterschiedliche Aspekte herausarbeiten, die das letzte Jahrhundert über die Epochengrenzen hinweg entscheidend geprägt haben. Wenn Zeithistoriker versuchten, das – „kurze“ oder „lange“ – 20. Jahrhundert auf einen Begriff zu bringen, nannten sie es beispielsweise das „Zeitalter der Extreme“, „A Century of Genocide“, das „Jahrhundert des Industrialismus“ oder auch das „Zeitalter der (Hoch-)Moderne“, welches sich durch umfassendes technokratisches Ordnungs- und Planungsdenken ausgezeichnet habe. Unumstritten dürfte sein, dass der Fordismus und die damit verbundenen betrieblichen Rationalisierungsbewegungen ebenso zu den markanten Signaturen des vergangenen Jahrhunderts gehören wie die mit dem Fordismus verknüpfte Vision, gesellschaftliche Interessenkonflikte sozialtechnisch regulieren zu können. Darüber hinaus sollten die Volkswirtschaften, die Gesellschaften, die Städte und die Menschen analog zu den maschinengesteuerten Prozessen in den Fabriken rationalisiert werden, um eine größtmögliche Effizienz zu erzielen. Viele dieser technischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bestrebungen verbanden sich bereits für die Zeitgenossen mit dem Namen des US-amerikanischen „Automobilkönigs“ Henry Ford.
Gegen Entmischung und Monotonie der Städte. Alexander Mitscherlichs »Anstiftung zum Unfrieden«
(2015)
50 Jahre ist es nun her, dass Alexander Mitscherlichs Buch »Die Unwirtlichkeit unserer Städte« erstmals erschienen ist. Es umfasst mehrere Vorträge, die sich auf den bis dahin erfolgten Stadterneuerungsprozess bezogen. Mitscherlich betrachtete den Wiederaufbau nach 1945 als verpasste Chance. Besonderer Dorn im Auge waren ihm die städtebaulich dominanten, an funktionalistischen Prinzipien orientierten Strategien zur Entmischung des Stadtraums,[1] weil dies eine Bindung der Menschen an Räume behindere und weil der »Unsinn einer Entmischung« den Verfall städtischer Öffentlichkeit bewirke.
Seit den 1960er-Jahren wurden für die Migranten in der Bundesrepublik Radiosendungen und Zeitschriften in ihrer jeweiligen Nationalsprache produziert. Die Entwicklung dieser Medien wurde von weitgreifenden Konflikten geprägt, die sich im Kontext internationaler Auseinandersetzungen um die politische Beeinflussung der so genannten „Gastarbeiter“ entfalteten. Zum einen stand die Gründung und Finanzierung von „Gastarbeitersendungen“ bzw. „Gastarbeiterzeitschriften“ im Rahmen des Kalten Krieges: Die Medien sollten die Zuwanderer vom (befürchteten) Konsum fremdsprachiger Auslandsprogramme abhalten, welche die Ostblockstaaten zu propagandistischen Zwecken ausstrahlten. Zum anderen konnten die meist autoritären Heimatregierungen der Migranten die Kritik nicht dulden, die in den „Gastarbeitersendungen“ zum Ausdruck gebracht wurde. Daraus entwickelten sich schwerwiegende diplomatische und innerdeutsche Spannungen. Trotz aller politischen Schwierigkeiten orientierten sich die Programme inhaltlich vor allem an den sozialen Bedürfnissen der Migranten.
Der Beitrag beschäftigt sich mit den Gladiatoren-Darstellungen des französischen Salon-Künstlers Jean-Léon Gérôme, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit nahezu fotorealistischen Inszenierungen des antiken Alltagslebens große Berühmtheit erlangte. Herausgearbeitet werden die Authentizitätsstrategien des Künstlers, die als grundlegend für die Popularität seiner Werke bis ins 21. Jahrhundert betrachtet werden. Gérômes Vorgehen ist äußerst medienreflexiv und operiert mit einer Verschränkung von Authentizitätszuschreibungen auf mehreren Ebenen. Ein entscheidender Schritt zur Authentizitätssteigerung ist der Medientransfer von der Malerei zur Skulptur, der abschließend in zeitgenössische Praktiken der Wissensproduktion eingeordnet wird.
Um 1990 wurden sie durch erste Ausstellungen allgemein bekannt: afghanische Teppiche mit Motiven aus Krieg und Politik.1 In den anderthalb Jahrzehnten, die seither vergangen sind, hat sich eine Debatte darüber entwickelt, ob die Teppiche als ethnographisch wertvolle Sammlerstücke oder als bloß touristische Souvenirs anzusehen sind.2 Der vorliegende Text schlägt eine andere Lesart vor: Die Teppiche, so meine These, sind als Medien zwischen Handwerk und Technik, zwischen Massenkommunikation und Dialog, zwischen Kunst und Nachrichtenbild zu verstehen.
Produktionsjubiläen werden gefeiert, seit es Massenproduktion gibt. Sie sind Selbstdarstellung erfolgreicher Arbeit und Inszenierung gesellschaftlicher Bedeutung, beides in der Hoffnung, dass die quantitative Größe der Produktion in eine qualitative Aufwertung des Produkts umschlägt. Die Form dieser Feiern folgt dabei medialen Vorgaben und ist etwa bei der Großserien-Fertigung von Automobilen direkt mit der Geschichte des Mediums Fotografie verbunden – wie es scheint, mit dessen Aufstieg und Ende gleichermaßen.
Wenn der folgende Versuch organisationsgeschichtlichen Mustern folgt und daraus Material für eine Bildkritik zu ziehen hofft, dann muß er sich dem Vorwurf stellen, nicht das gesamte Quellen- und Bildreservoir präsentieren zu können, aus dem er schöpft: es wären einige zigtausend Aufnahmen sowie einige hundert Schriftstücke vorzuführen, und ob die daraus resultierenden Analysen zu stichhaltigen und historisch unbestreitbaren Ergebnissen führen würden, mag dahingestellt bleiben. Und um den Diskurs vollends fragwürdig zu machen, sei von vornherein darauf hingewiesen, daß die folgenden Anmerkungen mit dem Thema von Ausstellung und Buch zunächst nur lose verknüpft sind. Das weite Ausholen, das nach Kurt Tucholsky einen schlechten Redner kennzeichnet, war auch ein Markenzeichen der NS-Propaganda samt deren Steuerungsapparat - und wer darüber nachdenkt, muß sich dem notwendigerweise stellen.
Am 21. Juni 1900 geboren, wächst Willy Stiewe in Berlin auf und studiert nach dem Abitur für kurze Zeit Jura. Ab 1921 ist er in der Redaktion der eben vom Hackebeil-Verlag gegründeten Halbwochenzeitschrift „Große Berliner Illustrierte“ tätig, die 1924 in „Hackebeil’s Illustrierte“ umbenannt wird. Neben dieser Arbeit gibt er 1922 zunächst ein Liederbuch heraus, dem 1924 unter dem Titel Der Krieg nach dem Kriege: Eine Bilderchronik aus Revolution und Inflation ein erstes zeitgeschichtliches Fotobuch folgt.
Rolf Gillhausen wird am 31. Mai 1922 in Köln geboren, absolviert nach der Schulzeit eine Schlosserlehre und beginnt ein Studium an der Kölner Ingenieur-Fachschule, um später die Maschinenfabrik eines Onkels übernehmen zu können. Doch Kriegsteilnahme und -gefangenschaft verhindern dies, und so sieht sich Rolf Gillhausen in der Nachkriegszeit nach passenden Jobs um. In Heidelberg findet er Arbeit als Organisator von Festivitäten für die U.S. Army und lernt dabei den Fotografen Fred Ihrt kennen, der ihn in die Bedienung einer auf dem Schwarzmarkt eingetauschten Leica einweist.
In einer Notiz von Joseph Goebbels findet sich der Hinweis auf eine Sentenz des Reichspresseleiters Max Amann, dass die Zeitschrift „Signal“ „wertvolle Blockadebrecherarbeit gegen den frühen beherrschenden antideutschen Zeitschrifteneinfluß in Europa geleistet“ habe – und das bereits im April 1940. Der Einfluss dieser Zeitschrift auf die offizielle Kriegspropaganda vieler Staaten kann kaum überschätzt werden. Denn im Vergleich selbst zu großen Magazinen wie „Life“, „Picture Post“ oder auch „USSR im Bau“ war „Signal“ einfach ein grafisch wie vom Bildmaterial her gut gemachtes Blatt, gerade in jenem vorsprachlichen Jargon der Designer, die zu jener Zeit für das Machen von Zeitschriften verantwortlich waren. Noch in den 1980er Jahren bekannte der Bildjournalist Robert Lebeck, in „Signal“ mehr gute Bilder gesehen zu haben als in „Life“ oder „Paris Match“ zur selben Zeit.
Ein stärkerer Dialog, ja eine Zusammenarbeit zwischen der europäischen und der außereuropäischen Zeitgeschichte ist dringend notwendig. Hierfür ist die Geschichte der einzelnen Weltregionen im 20. Jahrhunderts zu verwoben und geprägt von globalen Krisen, weltweiten kulturellen Strömungen und sozioökonomischen Strukturen. Allerdings sehe ich die Notwendigkeit einer solchen Kooperation weniger darin begründet, dass - wie es der Einleitungstext in Anknüpfung an Fernand Braudel formuliert - Europa beständig über seine Grenzen hinausgegriffen“ habe. Dies klingt, als ob sich Europa vor allem deswegen mit dem Rest der Welt beschäftigen müsse, da es diesen nachhaltig geprägt habe. Die Sichtweise, dass Europa vornehmlich als Kolonialmacht und modernisierende Schockwelle mit anderen Erdteilen in Berührung kam, sollte neu überdacht werden.
Eine systematisch verfasste interdisziplinäre Bildwissenschaft bedarf eines Theorierahmens, der die unterschiedlichen Forschungsperspektiven und -ergebnisse aufeinander zu beziehen erlaubt. Der hierfür diskutierte Vorschlag besteht in der These, dass Bilder wahrnehmungsnahe Medien sind. Diese These betont die kommunikativen Aspekte des Bildphänomens: Mit Bildern gibt jemand jemandem (oder auch wir uns selbst) etwas zu verstehen. Da dies bei Bildern in einer spezifischen Weise erfolgt, die wesentlich mit dem Wahrnehmungsaspekt von Bildern zusammenhängt und in besonderer Weise von der Materialität und Medialität der Bilder abhängt, bedarf die Bildwissenschaft einer wahrnehmungstheoretischen Ausrichtung. Eine systematisch verfasste interdisziplinäre Bildwissenschaft impliziert folglich die theoretische Integration von Zeichen-, Medien- und Wahrnehmungsaspekten.
Erinnerung ist die Pathosformel unserer Zeit. Sie ist eine der wichtigsten Orientierungsmarken für die kulturelle Selbstverständigung in der westlichen Welt der Gegenwart, gleichviel, ob es um den Umgang mit der Vergangenheit des 20. Jahrhunderts geht oder um das Modell eines künftigen Europa. Parteiprogramme und Koalitionsverträge kommen nicht mehr ohne geschichtspolitische Bekenntnisse aus; Gedenkstättenkonzeptionen sind ein wichtiger Aspekt politischen Handelns geworden; städtebauliche Grundsatzplanungen kreisen um die Aneignung der ‚historischen Mitte‘, und noch die öffentliche Diskussion über den Umbau der Berliner Staatsoper vollzog sich 2008 in der ungleichen Auseinandersetzung zwischen Klang und Aura, bei der die historisierende Gestalt eines Baues von 1953 wie selbstverständlich den Sieg über die künstlerische Funktionalität und architektonische Modernität eines Alternativentwurfs davontrug. Ungeachtet aller mit ungebrochener Selbstverständlichkeit erwarteten Fortschritte in den Natur- und Lebenswissenschaften: In der sinnweltlichen Grundorientierung hat die Vergangenheitsvergewisserung des 21. Jahrhunderts die Zukunftsgewissheit des 20. Jahrhunderts in erstaunlichem Maße abgelöst, wie Hermann Lübbe in kulturkritischer Perspektive schon vor 25 Jahren diagnostizierte, als er die Kombination von „Traditionsgeltungsschwund“ und „Zukunftsgewißheitsschwund“ zur Ursache „kompensatorischer Konservierungsakte“ erklärte.
Je weiter unser Abstand zum 20. Jahrhundert wächst, desto stärker wird das historiographische Bedürfnis, den gemeinsamen Handlungs- und Deutungsrahmen zu fassen, in dem der erbitterte Kampf um die gültige Ordnung der Moderne ausgetragen wurde. Was ließ Menschen in diesem 20. Jahrhundert nach einem erlösenden Messias rufen, die Allmacht ihrer jeweiligen Weltanschauung beteuern oder „Freiheit statt Sozialismus“ fordern? Die mit dem Namen von Reinhart Koselleck verbundene Untersuchung „Geschichtlicher Grundbegriffe“ liefert einen Zugang zur unsichtbaren Welt der Vorstellungen, die Wirklichkeit als Erlebnis- und Gestaltungsraum überhaupt erst konstituieren und gerade darum in ihrer gemeinsamen Prägekraft oft wirkmächtiger sind als die unterschiedlichen Geschehnisse und widerstreitenden Interpretationen der sichtbaren Welt. Es ist an der Zeit, dem auf die Herausbildung der Moderne gewidmeten Lexikon der geschichtlichen Grundbegriffe ein Archiv der zeitgeschichtlichen Leitbegriffe zur Seite zu stellen, das die Historizität der Moderne aus dem Blickwinkel ihrer Semantiken zu erfassen sucht.
Die (west)deutsche Geschichtsdidaktik hat in den letzten drei Jahrzehnten eine erstaunliche Entwicklung genommen. Fast 100 Jahre in das Gehäuse einer bloßen Methodenkunde der historischen Wissensvermittlung gesperrt, hat sie die Überwindung der Geschichtskrise der 1970er-Jahre genutzt, um sich nachgerade als eine historische Metawissenschaft neu zu begründen. Karl-Ernst Jeismanns programmatische Erklärung auf dem Historikertag 1976, das Interesse der Geschichtsdidaktik gelte „dem ständigen Um- und Aufbau historischer Vorstellungen, der stets sich erneuernden und wachsenden Rekonstruktion des Wissens von der Vergangenheit“, hat eine Neuorientierung ermöglicht, die von der Pragmatik der historischen Wissensvermittlung zu den Normen der historischen Wissensgeltung im Spannungsfeld von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorstieß. Der Geschichtsunterricht wurde dabei nur mehr „als ein geschichtsdidaktisches Aufgabenfeld unter vielen [...], damit auch als ein Forschungsfeld unter vielen“ betrachtet. Besonders durch die Systematisierung der „Geschichtskultur“ als weiterer Zentralkategorie, deren Über- oder Unterordnungsverhältnis zum Terminus „Geschichtsbewusstsein“ unter Didaktikern selbst umstritten ist, trat die Geschichtsdidaktik aus dem schulischen Klassenzimmer heraus, um sich den übergreifenden Mechanismen der Vergangenheitsvergegenwärtigung in der Gegenwart zu widmen.
Neuzeitliche Kunstwörter entbehren häufig der Anschaulichkeit und semantischen Eindeutigkeit. Was genau unter gegenwartsbezogenen Kreuz- und Kofferwörtern wie »Bionik«, »Glokalisierung« oder »Stagflation« zu verstehen ist, bleibt im allgemeinen Sprachgebrauch diffus, und nicht anders ergeht es fachsprachlichen Neologismen wie »Demokratur« oder »autolitär« in der Zeitgeschichte. Diese Feststellung gilt in noch höherem Maße für Wortschöpfungen an der Schwelle zur Moderne, die erst nach Auswanderung aus ihrem Fachkontext sprachliche Popularität gewannen, während ihre Ursprungsverwendung sich wieder verlor: Mit Monomanie, Neurasthenie und auch Nostalgie werden in der Medizin pathologische Phänomene im Grenzbereich von Gesundheit und Krankheit bezeichnet, die erst durch die Sprachschöpfung als Krankheit konstituiert wurden und heute als »vergängliche Krankheitskonzepte« gelten, stattdessen aber zeitweilig oder dauerhaft Eingang in die Alltagssprache fanden.
Für den 17. Dezember 1958 hatte die Abteilung Wissenschaften des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu einer Besprechung „im Großen Sitzungssaal des Zentralhauses der Einheit“ gebeten, auf der sich im Beisein des Staats- und Parteichefs die Elite der ostdeutschen Historikerschaft versammelte. Unter den Eingeladenen waren Institutsdirektoren, Universitätsprofessoren und Parteihistoriker, und sie waren zusammen- gekommen, um zusammen mit der politischen Führung des Landes über die Stellung der DDR-Geschichtswissenschaft gegenüber ihrer bundesdeutschen Schwesterdisziplin zu beraten. Um in die einzelnen Aspekte des Themas einzuführen, waren prominente Referenten gewonnen worden, und der Parteichef selbst trug zu der Frage vor, wie die Beziehungen zwischen Geschichtswissenschaft und Politik unter seinem Bonner Amtskollegen geregelt seien: „Die Historiker [...] arbeiten gegenwärtig für die Durchführung des psychologischen Krieges, und Adenauer hat sie ganz hübsch an die Strippe genommen. Welches ist die Aufgabe, die Adenauer ihnen gestellt hat? Adenauer hat diese ganzen Historiker zusammen genommen und ihnen klar gemacht, daß sie beweisen müssen die geschichtliche Notwendigkeit der europäischen Integration und die Rolle Westdeutschlands in der NATO. Und sie schreiben alle tapfer in dem Sinne, wie ihnen das angeordnet wurde, alle, angefangen bei Ritter bis hin zum letzten Schulmeister in den Dörfern. [...] Die ganze Geschichtsschreibung, wie sie dort im Westen betrieben wird, dient dieser Aufgabe. Es gibt dort eine einheitlich ideologisch-politische Leitung der gesamten Geschichtsforschung. [...] Die Geschichtsschreibung Westdeutschlands ist auf die Durchführung des psychologischen Krieges abgestellt und darauf, daß im Jahre 1961 die Rüstung der westdeutschen NATO-Truppen fertig ist, und bis zu dieser Zeit muß die entsprechende ideologische Verseuchung in Westdeutschland erreicht sein. Das ist dort exakt ausgearbeitet.“
Planprojekt Meistererzählung. Die Entstehungsgeschichte des "Lehrbuchs der deutschen Geschichte"
(2000)
Kein anderes historiographisches Unternehmen in der DDR hat im Kampf um die Deutungshoheit über die Vergangenheit eine so umfassende Rolle gespielt wie das Hochschullehrbuch der deutschen Geschichte. Es unterfing sich, die ganze historische Zeit von den Jäger- und Sammlerhorden im Altpaläolithikum bis zur deutschen Doppelstaatlichkeit in der Gegenwart darzustellen, und es spiegelte in den fünfunddreißig Jahren, die zwischen dem ersten Entwurf 1952 und den letzten Neuauflagen 1986 lagen, die ganze Wegstrecke von der Konstitution bis zur Erosion des sozialistischen Geschichtsbildes. „Es geht darum, den werktätigen Massen - den wahren Schöpfern der Geschichte - die Vergangenheit zu beleuchten, damit sie ihren heutigen Kampf mit den revolutionären Traditionen verbinden“ - mit diesen Worten umriß der wissenschaftliche Sekretär des Lehrbuch-Projekts 1955 die Aufgabe in einem für das „Neue Deutschland“ bestimmten Beitrag.
Die Lebensgeschichte des SED-Chefs Erich Honecker (1912–1994) gilt gemeinhin als reizlos. Näheres biographisches Interesse hat bislang vor allem die Frage erweckt, weshalb ein so „mittelmäßiger“ Parteifunktionär sich über 18 Jahre lang in der DDR an der Macht halten konnte. Der Beitrag versucht zu zeigen, dass ein klassischer individualbiographischer Zugang dem Phänomen des „blassen Diktators“ Honecker nicht gerecht wird. Erst in einer milieu- und generationsgeschichtlichen Perspektive wird die biographische Bindungskraft des Herrschaftsstils fassbar, den Honecker als Repräsentant der jüngsten Kohorte der ostdeutschen Gründergeneration entwickelte. Die für ihn charakteristische Verbindung von Starrheit und Elastizität trieb zunächst den Übergang der kommunistischen Herrschaft in ihre auf bloße Machtsicherung bedachte Veralltäglichungsphase voran; später beschleunigte sie den Untergang dieses Systems.
Historische Zäsuren besetzen eine prominente Rolle im geschichtlichen Denken. Doch stecken sie, wie Martin Sabrow in seinem Beitrag zeigt, nicht im Geschehen selbst, sondern in seiner zeitgenössischen oder nachträglichen Deutung. Sie dienen der subjektiven Ordnung der Geschichte und der Abgrenzung von Zeiteinheiten. Der Zäsurenbegriff ist nur schwer fassbar, sektoral und perspektivengebunden. Sabrow schlägt daher eine Unterscheidung zwischen nachträglicher Deutungszäsur und zeitgenössischer Erfahrungs- oder Ordnungszäsur vor.
Honeckers Herrscherporträt zeigt in seinen zahllosen einzelnen Varianten weder Emotionen, noch ist es räumlich oder zeitlich klar zuzuordnen. Die Botschaft, die es aussendet, ist abstrakt: Das SED-Parteiabzeichen an Honeckers Revers führt dem Betrachter die kollektive Kraft der kommunistischen Partei vor, lässt in seiner korrekten Kleidung die staatsmännische Handlungssicherheit erkennen und strahlt im unverwandten Blick die ruhige Selbstgewissheit der Herrschaftselite aus. Wenn die Visualisierung des bürgerlichen Politikers im 20. Jahrhundert in seiner Körperlichkeit nacheinander Würde, Leistung und Glaubwürdigkeit präsentierte, wie Thomas Mergel dies am Beispiel deutscher Politikerfotos beschrieben hat,so stellt das kommunistische Funktionärsporträt die überindividuelle Gesetzmäßigkeit der sozialistischen Ordnung vor.
Die Aufnahme hält eine dramatische Szene fest: Angehörige der Volksmarinedivision erwidern am Morgen des 24. Dezember 1918 das von Regierungstruppen auf sie gerichtete Artilleriefeuer, das eben ihre Verteidigungsstellung im Pfeilersaal des Berliner Schlosses getroffen hat; sechs Mann richten in fieberhafter Eile die durcheinandergeworfenen Maschinengewehre neu aus, ohne einen Blick für den tot vor ihnen liegenden Kameraden übrig zu haben; ein weiterer Matrose spurtet mit einer Munitionskiste über den von Glassplittern und Mobiliartrümmern übersäten Teppich, um Nachschub an die Frontlinie zu bringen.
Der Beitrag untersucht sowjetische Diskurse zur Welternährung und Hungerhilfe im »Zeitalter der Ideologien« während der 1950er- bis 1980er-Jahre. Trotz Versorgungsengpässen stellten die wechselnden sowjetischen Führungen den Export von Getreide und Hilfsgütern schon seit den 1920er-Jahren als moralische Pflicht des sozialistischen Systems und als Zeichen seiner Überlegenheit dar. Die Hilfspropaganda betonte die Notwendigkeit, die Kolonien bzw. die dekolonialisierten Staaten aus den Klauen der kapitalistischen Ausbeutung zu befreien. Ab Mitte der 1970er-Jahre hinterfragten sowjetische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angesichts globaler Probleme bisherige ideologische Dogmen, wiesen auf die Vorteile der Handelsbeziehungen für die UdSSR hin und gingen von einer interdependenten globalen Ökonomie aus. Der Mangel an Zahlen führte bei der Bevölkerung indes zu Spekulationen über das Ausmaß der Hilfsleistungen. Sowjetische Publikationen, Karikaturen und andere Bilder geben Auskunft über den damaligen offiziellen Diskurs. Anekdoten aus sowjetischer Zeit, aber auch heutige Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen belegen, wie die offiziellen Verlautbarungen und die visuelle Propaganda zur Getreideproduktion und zur Entwicklungshilfe in der Gesellschaft rezipiert und kritisiert wurden. Der Eindruck, die UdSSR habe zum Nachteil der eigenen Bevölkerung »Afrika gefüttert«, ist bis in die Gegenwart ein verbreitetes Stereotyp.
This article examines Soviet discourses on world food and famine relief in the ›age of ideologies‹ during the 1950s to 1980s. Despite supply shortages, the various Soviet governments presented the export of grain and aid since the 1920s as a moral duty of the socialist system and a sign of its superiority. Aid propaganda emphasised the need to free the colonies or decolonised states from the clutches of capitalist exploitation. From the mid-1970s onwards, Soviet scholars questioned previous ideological dogmas in the face of global problems, pointed to the advantages of trade relations for the USSR, and postulated an interdependent global economy. The lack of concrete figures, however, led to speculation among the population about the extent of the aid. Soviet publications, cartoons and other images provide information about the official discourse at the time. Anecdotes from the Soviet period and present-day conversations with contemporary witnesses provide evidence of how the official pronouncements and visual propaganda concerning grain production and development aid were perceived and criticised in society. The impression that the USSR ›fed Africa‹ to the detriment of its own population remains pervasive to this day.
Private Alben sind für Außenstehende schwer zugänglich. Die Familie, die ihre Alben dem Museum übergab, maß ihnen gesellschaftliche Bedeutung zu. Als Fundstücke ohne Kontext stehen sie für sich allein und erscheinen zunächst hermetisch.[3] Doch bei sorgfältiger Betrachtung und Analyse lässt sich in vier Arbeitsschritten das lebensgeschichtliche Narrativ eines sowjetischen Kraftwerksingenieurs rekonstruieren. In einem ersten Schritt geben das Abgebildete und die (knappen) Beschriftungen Auskunft über örtliche und zeitliche Bezüge, materielle Kultur, Alter, Generationenzugehörigkeit und soziale Beziehungen der Menschen. In einem zweiten Schritt können die aufgerufenen Kontexte recherchiert werden – hier als Hintergrund die Ingenieure als »Klasse«, die sowjetische innere Expansion seit 1945 und die örtlichen Verhältnisse. In einem dritten Schritt werden die Fotografien und die Alben als Artefakte betrachtet. Auf die Fragen nach Entstehungszeit und Urheberschaft folgen in einem vierten Schritt Fragen nach Bedeutungen bestimmter Anordnungen und Gebrauchsspuren der Alben. So entfalten sich aus den Bildern und ihrer Komposition visuelle Narrative.
Mehr als io Jahre lang haben durchschnittlich etwa einhundert namibische Kinder und ihre Betreuerinnen in dem kleinen mecklenburgischen Dorf Bellin gelebt. Geredet und geschrieben wurde über sie paradoxerweise erst im Zusammenhang mit ihrer Rückkehr nach Namibia im August 1990. Wer zufällig nach Bellin kam oder doch davon gehört hatte, stand vor einem alten Gutshaus, das bis Ende 1989 für ungebetene Besucher verschlossen blieb. In der DDR wußte so gut wie niemand etwas von der Existenz eines SWAPO-Kinderheimes. Abschottung einerseits, andererseits die in der DDR einmalige Situation, daß in einem Ort etwa 25 Prozent Ausländer lebten, die meisten von ihnen Kinder.
Am 5. August 1974, gegen 20 Uhr am Montagabend, rief ein erboster Zuschauer im Mainzer Sendezentrum des ZDF an. Die laufende Sendung sei eine »Zumutung«, er wolle im Feierabend ein »Programm zur Entspannung«. Gedankliches Abschalten ließ die zweite Episode der monatlich ausgestrahlten, siebenteiligen Reihe »Unser Walter – Spielserie über ein Sorgenkind« offenbar nicht zu. Die Serie porträtierte Walter Zabel, einen Jugendlichen mit Trisomie 21. Derart ablehnende Reaktionen waren aber in der Minderzahl. Nach der Ausstrahlung jedes Teils notierte der ZDF-Telefondienst auf dem Mainzer Lerchenberg stets mehr mitfühlende und interessierte als kritische Rückmeldungen und »Schimpfereien«. Die ZuschauerInnen bekundeten nicht nur ihr Entsetzen über die alltäglichen Ausgrenzungen, denen die Familie Zabel begegnete. Sie befürworteten das Ziel der Serie, in »unserer grausamen Gesellschaft Verständnis für solche Kinder zu wecken«. Andere wollten betroffenen Eltern gar selbst Hinweise über spezielle Anlaufstellen geben, und auch behinderte Menschen griffen zum Telefon, um mit ihren Erfahrungen die fiktionale Handlung zu ergänzen. Nicht zuletzt fragten Eltern von Kindern mit Trisomie 21 nach AnsprechpartnerInnen, beispielsweise nach der Anschrift der in der Sendung genannten Bundesarbeitsgemeinschaft »Hilfe für Behinderte«, einem Dachverband von Organisationen von und für behinderte Menschen (heute: BAG Selbsthilfe). Diese Reaktionen des Fernsehpublikums zeigen, wie sehr sich die Darstellungskonventionen und auch die Wahrnehmungsweisen von Behinderungen in den frühen 1970er-Jahren im Umbruch befanden.
Mehrere Männer und Jungen werden an einem Militärcheckpoint kontrolliert, ließe sich auf den ersten Blick über obiges Foto festhalten. Im Zentrum des Bildes steht ein Mann in Lederjacke, zerissenem Netzhemd über der nackten Brust, enger Hose und Springerstiefeln, der die Kontrolle bereits durchlaufen hat und einen bewaffneten Soldaten passiert, der wiederum auf sein Gewehr gestützt am linken Bildrand zu sehen ist. Dass es sich bei zwei der Personen auf dem Foto jedoch um Mitglieder der britischen Punkband The Clash und damit international gefeierte Stars der Musikszene jener Jahre handelte, verändert die Wahrnehmung des Bildes grundlegend: Es ist ein Beispiel für den auswärtigen Blick auf eine von Gewalt geprägte Gesellschaft und die visuelle Konstruktion verschiedener Männlichkeiten darin.
„The values of Western publics have been shifting from an overwhelming emphasis on material well-being and physical security toward greater emphasis on the quality of life.“ Schon im ersten Satz proklamierte der amerikanische Politikwissenschaftler Ronald Inglehart die Essenz seiner Analyse der „stillen Revolution“ in den westlichen Industriegesellschaften. Dass sich sozialkulturell seit den 1960er-Jahren einiges verändert hatte, lag zwischen Kritik und Apologie der „68er“, den Debatten um Ostpolitik und Abtreibung und einem veritablen Kulturkampf um Bildungsreformen und Bildungsstandards gleichsam auf der Hand. Überlagert durch das Spannungsverhältnis zwischen der „Modernisierungsideologie“ der 1960er- und einer vielbeschworenen „Tendenzwende“ an den „Grenzen des Wachstums“ in den mittleren 1970er-Jahren, war die Hauptrichtung dieses Wandels indessen schwer erkennbar. Inglehart schlug eine Schneise durch dieses sozialkulturelle Dickicht: Nachdem er schon 1971 von einer Veränderung der Werteprioritäten in den westlichen Gesellschaften gesprochen hatte, legte er 1977 eine Monographie vor, die bald zu einem Klassiker der Soziologie avancierte.
Wann ein Mensch als Flüchtling gilt, hängt maßgeblich von der juristischen Einordung des Aufnahmestaates ab. Wird vom Aufnahmestaat anerkannt, dass es sich um eine erzwungene Flucht handelt, beispielsweise durch Krieg oder Verfolgung, besitzt der Geflüchtete Anspruch auf Asyl. Wird dagegen festgestellt, dass ein mehr oder weniger freiwilliger Migrationsgrund vorliegt, besitzt der Staat das Recht auf Abweisung. Diese Unterscheidung ist höchst problematisch, da die Aufnahmestaaten politisch entscheiden, welcher Rechtsstatus an welche Person vergeben wird (Benhabib 2009; Krause 2016).