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IVAR und BILLY, zwei Regalsysteme von IKEA, stehen nicht nur für ein jahrzehntelanges Erfolgskonzept der schwedischen Möbelfirma, sondern auch für eine neue ästhetische und geistige Haltung, die sich im Verlauf der 1970er-Jahre auf breiter Basis durchgesetzt hat. Bedeutsam waren und sind die IKEA-Regale zunächst einmal für die Designgeschichte; zugleich lassen sich an ihrem Erfolg breitere Trends der Konsum-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte ablesen.
Antisemit und Autokönig. Henry Fords Autobiographie und ihre deutsche Rezeption in den 1920er-Jahren
(2010)
Henry Ford gilt als ein Symbol der Moderne – er gab einer kapitalistischen Wirtschaftsform, dem Fordismus, den Namen. Fords Prominenz ist nicht zuletzt auf zwei Bücher zurückzuführen, die nach dem Ersten Weltkrieg unter seinem Namen erschienen und breit rezipiert wurden: „Der internationale Jude“ sowie „Mein Leben und Werk“. Beide Bücher verdanken sich Fords politischem Ehrgeiz und wurden als Vorschläge zur Gesellschaftsreform diskutiert. Ein Kernelement des Ford’schen Programms war massiver Antisemitismus: Erst eine auf der Betriebsgemeinschaft aufgebaute Gesellschaft ohne Händler, Bankiers und Intellektuelle – die mit Juden gleichgesetzt wurden – könne gerecht sein. Die Rezeption dieser Gesellschaftsvision in deutschsprachigen Zeitschriften der 1920er-Jahre legt die breite Akzeptanz von Antisemitismus und autoritären Strukturen offen. Während Ford seinen Antisemitismus nie verbarg, wird er auch in der seit 1945 geführten Diskussion über Fordismus nur als „Autokönig“ gesehen.
„Mehr als einige schöne Trinksprüche“. Die Konsensstrategien der ersten Großen Koalition (1966–1969)
(2006)
Seit 2005 regiert eine Große Koalition die Bundesrepublik Deutschland. Vor diesem Hintergrund ist es lohnend, nach der Funktionsweise der Ersten Großen Koalition (1966–1969) zu fragen. Sie hatte ebenfalls große Herausforderungen zu bewältigen (Notstandsgesetzgebung, Finanzverfassungsreform u.a.) und wird in der Zeitgeschichtsforschung als besonders innovationsfreudig eingestuft. Gegenstand des Aufsatzes ist die Frage, mit welchen Strategien es dem Kabinett Kiesinger/Brandt gelang, zwischen den damals noch sehr gegensätzlichen Parteien CDU/CSU und SPD das nötige Maß an Konsens herzustellen. Dabei wird insbesondere untersucht, welche Kommunikationsstrukturen die Koalition nutzte bzw. erst aufbaute.
Historiker und Historikerinnen, zumal jene der jüngeren deutschen Geschichte, beschäftigen sich am liebsten mit Recht, wenn es nicht weh tut. Der Boom der Menschenrechtshistoriographie steht dieser Diagnose ebensowenig entgegen wie die Flut an Behördengeschichten der NS-Zeit. Beide Trends bestätigen vielmehr den Befund, versteckt sich hinter den Etiketten doch nicht selten eine klassische Politikhistorie, oft in der Gestalt einer Gesetzgebungsgeschichte, aufgelockert durch und verwoben mit ideen- und diskurshistorischen Elementen. Dies erlaubt es einerseits, sich von der etablierten, meist juristisch definierten Rechtsgeschichte abzusetzen, der vorgeworfen wird, zu einer sterilen Dogmengeschichte erstarrt zu sein. Andererseits hält man an tradierten Arbeitsteilungen fest: Die lästige, wiewohl notwendige Pflichtaufgabe, sich in die technischen Einzelheiten des Rechts zu vertiefen, darf aus der eigenen Zuständigkeit entlassen werden. Entsprechend begrenzt bleibt der wissenschaftliche Austausch: Rechtswissenschaftler/innen lesen historiographische Arbeiten als leichte Lektüre für den Hintergrund; Historiker/innen rezipieren die Studien ihrer juristischen Kolleg/innen als sprödes Fußnotenfutter. Dass der fächerübergreifende Kontakt zuletzt vor allem durch regierungsseitig initiierte Projekte über die NS-Belastung einzelner Ministerien und Behörden vorangetrieben wurde, bestätigt diese Beobachtung eher, als dass sie widerlegt würde.
Während des Zweiten Weltkrieges flüchteten etwa 150.000 Europäer vor Krieg und Besatzung nach Großbritannien. Unter ihnen waren Angehörige der vormaligen europäischen Regierungen, Verwaltungen, politischen Eliten, Militärs und Königshäuser. Aus ihren Reihen bildeten sich Nationalkomitees und Exilregierungen, die die nationale Souveränität ihrer Länder trotz deutscher Besatzung aufrechterhalten und als Alliierte für einen gemeinsamen Sieg über Hitler eintreten wollten. Im Zentrum Londons lebten und arbeiteten sie in enger Nachbarschaft. Rechtlich betrachtet erreichten die Mitglieder der Exilregierungen London meist als individuelle Flüchtlinge; sie verließen die Stadt überwiegend als Angehörige anerkannter Regierungen. Eine genauere Untersuchung des »London Moment«, dieser formativen Phase europäischer Politik, bricht den vermeintlichen Gegensatz zwischen Macht und Ohnmacht auf und trägt so zur Reflexion über Flucht und Flüchtende bei. Der Aufsatz erläutert die Entwicklung des rechtlichen Status der Exilanten und folgt vier Fallbeispielen von der Ankunft zur Etablierung in London.
Menschen schreiben, Menschen notieren. Papierne (heute auch digitale) Gedächtnisstützen halten fest, was sich im Kopf der oder des Schreibenden abspielt, um es für kurze oder längere Zeit zu sichern und zu übertragen. Termine, Kontakte und Adressen werden besonders oft verschriftlicht, da es sich um Informationen handelt, die präzise wiedergegeben werden müssen. Jeder einzelne Datensatz (eine Adresse, Telefonnummer, Ort und Zeit eines Treffens, Kontakte zu einer bestimmten Person) ist in sich eher trocken und schwer zu merken, die Verschriftlichung verwaltet also und assistiert unserer Erinnerung. An der Schnittstelle zwischen Alltagslogistik, Sozialleben und Erinnerung sind Adressbücher Hilfsmittel und Kulturtechnik zugleich. Das Adressbuch als Gegenstand dient im Sinne Bruno Latours der Delegation, da sein*e Benutzer*in Informationen auslagern kann. Dadurch werden Adressbücher fester Bestandteil von Netzwerken, welche ohne diese Niederschrift nicht aufrechtzuerhalten wären. Das lässt sich am Beispiel europäischer Netzwerke in London während des Zweiten Weltkrieges darlegen: anhand eines edierten »Who’s Who« und des persönlichen Adressbuches des Juristen René Cassin.
Altersstrukturen im historischen Wandel. Demographische Trends und gesellschaftliche Bewertung
(2012)
Das Konzept der ,alternden Gesellschaft’ spielt im gegenwärtigen politischen Diskurs eine zentrale Rolle. Der Aufsatz versucht, dieses Konzept zu reflektieren, zu historisieren und damit auch zu entdramatisieren. Dazu dient zum einen ein Blick auf die Entwicklung der Altersstrukturen europäischer Gesellschaften in den letzten 600 Jahren, zum anderen eine kritische Bewertung der Befürchtungen und Hoffnungen, die in den verschiedenen Epochen am kontinuierlichen Wandel dieser Strukturen anknüpften.
This article examines the rise of aeromobile sprawl, which is defined here as aviation’s socio-environmental impact on people, places, and things, in Canada during the 1970s. It links aeromobile sprawl largely to state-led airport development and the effect that upgrading, expanding, and building new airports had on communities and landscapes. Accordingly, it shows that while aeromobile sprawl was to some extent an outcome of postwar developments not limited to aviation, the Canadian government and its partners also contributed to sprawl by endorsing various policies and strategies that shifted over the period in question. At the same time, these actions did not go unnoticed. Public critiques of aeromobile sprawl emerged as people increasingly objected to larger and busier airports operating near populated and non-industrial areas. This article demonstrates that debates in Canada about airport development and the rapid growth of aviation revealed sharply diverging views about how to best accommodate the mobility requirements of mass air travel within the country’s natural and built environments in the 1970s.
In Burundi steht ein überdimensionales Schwammerl. Ein Foto davon ist derzeit im Berliner Willy-Brandt-Haus zu sehen, gemeinsam mit anderen Aufnahmen verschiedener Gebäude der Moderne in afrikanischen Staaten – sie sind Teil der aktuellen Ausstellung „Auf Augenhöhe – Afrika und seine Moderne“ mit Fotografien von Jean Molitor. Die Aufnahmen sind allerdings nicht nur für Liebhaber:innen steingewordener Fungi von Interesse, sondern genauso für Historiker:innen wie für die Zivilgesellschaft. Die Ausstellung konzentriert sich auf Fotografien moderner Gebäude, die der Fotograf auf seinen Reisen in afrikanischen Staaten anfertigte. Neben den Gebäuden zeigt die Ausstellung eine Collage von Straßenfotografien sowie wenige Fotos und Videoaufnahmen von Molitors Reisen samt den Menschen, denen er dabei begegnete. Besucher:innen lernen so die Umgebung der dokumentierten Gebäude kennen und die Umstände, unter denen die Aufnahmen entstanden.
Sie sind knapp fünfzig Jahre alt: Dietmar Riemanns Fotografien aus der DDR, die das Berliner Willy-Brandt-Haus gerade ausstellt. Und sie sind relevant. Dietmar Riemann hat sozialdokumentarische Aufnahmen angefertigt. Wir sehen auf den Bildern zum Beispiel, welche unterschiedlichen Milieus die Ost-Berliner Trabrennbahn in den 1970er Jahren anzog. Riemanns Fotografien dokumentieren aber auch andere Orte. Seine Aufnahmen von leeren, wüsten Ost-Berliner Hinterhöfen zeugen von Verfall, Einsamkeit und Beengung. Sie suggerieren Vernachlässigung, von Gebäuden wie von Menschen. Die Fotos lehren uns zudem, wie Anspruch und Wirklichkeit im DDR-Alltag auseinanderklafften.
Trauer, Patriotismus und Entertainment. Das »National September 11 Memorial & Museum« in New York
(2016)
Downtown Manhattan, 15. Mai 2014: Mit einer würdevollen Feierstunde eröffnen Michael Bloomberg und Barack Obama – in Anwesenheit der nationalen und lokalen Politprominenz, von Überlebenden, Ersthelfern und Angehörigen der Opfer der Anschläge – das National September 11 Memorial Museum. Der Name der Institution am ehemaligen Standort des World Trade Centers (WTC) ist Programm: Sie soll zugleich Gedenkort und Museum sein. Die gemeinnützige Stiftung, die unter dem Vorsitz des ehemaligen New Yorker Bürgermeisters Bloomberg und der Leitung des Managers und Juristen Joe Daniels die Einrichtung verantwortet, hat es sich zum Ziel gesetzt, diese zentralen erinnerungskulturellen Aufgaben an einem Ort zu vereinen. Hier soll der Toten und der Überlebenden der Anschläge gedacht und an die Ersthelfer erinnert werden, die in den USA als Helden gelten. Die Institution richtet sich an eine breite Öffentlichkeit und soll diese auch historisch-politisch über die Auswirkungen des Terrorismus informieren.
Fraenkels »Doppelstaat« als Rechtsgeschichte. Arbeitsrecht und Politik während der NS-Diktatur
(2019)
Ernst Fraenkels Buch »Der Doppelstaat«, 1941 in den USA erschienen und erst 1974 auf Deutsch publiziert, weist trotz seiner zentralen Stellung in der Forschung zur NS-Herrschaft eine lückenhafte Rezeptionsgeschichte auf. Der Aufsatz plädiert dafür, das Werk als Rechtsgeschichte zu verstehen. Am Beispiel des Arbeitsrechts wird aus einer praxeologischen, Fraenkel folgenden Perspektive deutlich gemacht, wie und warum sich die Grenzen zwischen Normen- und Maßnahmenstaat verschoben. Diese Kategorien bezeichnen nicht etwa den Gegensatz zwischen Staat und Partei; vielmehr ist genauer nach dynamischen Grenzüberschreitungen und Rechtsaneignungen zu fragen. Dargelegt wird, wie das privatrechtliche Gepräge des Arbeitsrechts staatlich durchdrungen wurde, sodass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer von Subjekten zu Objekten des Rechts der Arbeit wandelten. Möglich wurde dies nur durch das maßnahmenstaatliche Handeln sämtlicher Instanzen aus Verwaltung, Justiz und Polizei. »Treuhänder der Arbeit« und Gestapo dehnten das System der »Arbeitserziehungslager« immer weiter aus. Das Recht verlor sukzessive seine herrschaftsbeschränkende Funktion und geriet zu einem Herrschaftsmittel. Nicht mehr die Gerichte kontrollierten die Verwaltung, sondern die Behörden lenkten die Gerichts- und Rechtspraktiken.
Im Schatten der Geschichte. Die (vergessene) »Gewaltkommission« der Bundesregierung (1987–1990)
(2018)
Im Februar 2016 fand in der Alice Salomon Hochschule Berlin ein Symposion statt zum Thema »25 Jahre Gewaltprävention im vereinten Deutschland – Bestandsaufnahme und Perspektiven«, das von den Veranstaltern Stephan Voß und Erich Marks auf über 1.000 Seiten dokumentiert worden ist. Das Symposion hat gezeigt, dass der Gedanke der Gewaltprävention sich mittlerweile hochprofessionell auf zahllose Kontexte ausdifferenziert hat, in denen Menschen leben und handeln. »25 Jahre Gewaltprävention«, dieser Titel deutet auf den Januar 1990 hin, als der einstimmig verabschiedete Endbericht der »Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt« nach zweijähriger Arbeit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl übergeben wurde. Doch weder die fachliche Arbeit in der Kommission noch die Bereitschaft der politischen Akteure zur stärkeren Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse bei politischen Entscheidungen konnten verhindern, dass der eigentliche Anlass für die Einsetzung der Kommission in dem vorgelegten Bericht nur noch eine untergeordnete Rolle spielte. Durch die aktuelle politische Agenda des Jahres 1990 gerieten die Empfehlungen weitgehend aus dem Blick. Im Abstand von fast 30 Jahren lohnt es sich, den Kommissionsbericht als Quelle der bundesdeutschen Gewaltgeschichte und der Bemühungen um eine Verminderung von Gewalt zu lesen. Dies geschieht im Folgenden aus soziologischer Perspektive, jedoch in der Hoffnung, auch der Geschichtswissenschaft Impulse zur Beschäftigung mit solchen Dokumenten zu geben.
Die zeithistorische Analyse und die Beschreibung von Widerstand und Opposition gehören zu den zentralen Gegenständen der Erforschung moderner Diktaturen. Dabei stehen Untersuchungen zum Widerstand in der DDR immer in engem Bezug zur NS-Forschung bzw. zu deren Definition des Widerstandsbegriffs. Rainer Eckert regt deshalb an, den Forschungsbereich Widerstand und Opposition in der DDR und damit auch für alle anderen kommunistischen Staaten stärker zu positionieren. Eine künftige Schwerpunktlegung auf die internationale als auch auf die regionale Ebene würde zudem die Perspektive schärfen. Ebenso könnten laut Eckert der Vergleich widerständiger Generationen und die Analyse der Verhältnisse und Differenzen innerhalb der verschiedenen Oppositionellengruppen sowie von Einzelpersonen neue Erkenntnisse bringen.
This article investigates the little known phenomenon of tourism to the Iron Curtain, using the example of the inter-German border. The practice of traveling to the demarcation line to see where Germany and Europe were divided peaked during the mid-1960s but was already in full swing by the mid-1950s and lasted until the fall of the border in 1989. Based on archival documents, postcards and tourist guidebooks, the article analyses the growth of a tourist infrastructure on the western side of the inter-German border and situates this travel as a form of ‘dark tourism’. It argues that seeing the border and visualising the partition of the country did little for overcoming it but rather tended to underwrite the political and territorial status quo. In the Cold War battle for public opinion, seeing the border allowed West Germans and their visitors from abroad to juxtapose freedom and prosperity with captivity and decay, thus advertising the superiority of the capitalist model over its socialist other.
„Was machen Sie eigentlich noch außer Afrika?“, fragte mich vor einigen Jahren ein jeder Ironie unverdächtiger Professor für Neuere, also vor allem deutsche Geschichte. Denn noch immer gilt in der „Zunft“ deutscher Historiker zwar als breit ausgewiesen, wer seine Forschungsschwerpunkte etwa im Kaiserreich und in der DDR-Geschichte hat - die Beschäftigung mit fast 50 Ländern südlich der Sahara (oder analog etwa mit Lateinamerika) über mehrere Jahrhunderte hinweg wird in der Regel als exotisches Laster angesehen, dem allenfalls ergänzend zu frönen sei. Nun ist Provinzialismusschelte auf die Dauer für alle Beteiligten ermüdend; der Nachweis etwa, dass hierzulande ausgerechnet methodisch als besonders progressiv daherkommende Fachorgane sich als regional besonders introspektiv, nämlich germanozentrisch erwiesen haben, ist ohnehin längst - und sine ira et studio - geführt worden.
Im Gegensatz zu Teilen Asiens, wo die Unabhängigkeitskämpfe etwa in Indochina und Malaya durch langjährige militärische Auseinandersetzungen gekennzeichnet waren, kam es auf dem afrikanischen Kontinent nur in Algerien zu einem vergleichbar blutigen Dekolonisationskrieg. Das heißt freilich nicht, dass das Ende der europäischen Empires im Rest von Afrika ein friedlicher Prozess gewesen wäre. In der britischen Siedlerkolonie Kenia etwa mussten im Zuge des so genannten Mau-Mau-Aufstandes Tausende von Menschen ihr Leben lassen. Mehr als 1.000 Afrikaner wurden auf der Grundlage von hastig verabschiedeten Antiterrorgesetzen gehenkt, weit mehr als in jedem anderen kolonialen Konflikt einschließlich Algeriens.1 Doch es war vor allem der Algerienkrieg, welcher sich im Bewusstsein der Zeitgenossen mit spätkolonialer Gewalt und Gegengewalt verknüpfte.2 Und wie kaum ein zweiter Autor hat der intensiv am algerischen Unabhängigkeitskampf beteiligte Frantz Fanon damalige Debatten über den Prozess der Dekolonisation, über die Berechtigung antikolonialer Gewalt sowie über die Zukunft der „Dritten Welt“ geprägt.
Im Frühjahr 2020 tauchten die Begriffe »Postkolonialismus«, »postkoloniale Theorie« und verwandte Kategorien mit ungewohnter Dichte in den deutschen Feuilletons auf, waren Gegenstand von Streitgesprächen im Radio und aufgeregten Twitter-Kommentaren. Zentraler Anlass für die ambivalente Hausse des Postkolonialismus war die Erklärung des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, der Kameruner Historiker Achille Mbembe sei wegen antisemitischer Positionen als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale »nicht geeignet«. Daraus entwickelte sich eine heftige und durchaus verwirrende Debatte, in der Klein und gleichgesinnte Mbembe-Kritiker*innen des Rassismus und McCarthyismus gescholten wurden, während andere anhand weniger Passagen aus Mbembes umfangreichem Werk nicht nur darauf insistierten, er sei Antisemit und »Israel-Hasser«, sondern zugleich die »postkoloniale Theorie« anprangerten, als deren wichtiger Vertreter Mbembe gilt. Irritierend daran war nicht allein der Gestus, mit dem beispielsweise so mancher Journalist auftrat, als sei er der erste, der Kritik am Postkolonialismus oder an Mbembe übe. Insgesamt fiel zudem auf, wie sehr die Debatte auf einer bestenfalls oberflächlichen Lektüre relevanter Texte basierte. Dies galt zum Teil auch für jene, die etwa die Antisemitismusvorwürfe gegen Mbembe vehement ablehnten. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die in der Öffentlichkeit rasch zu einer der führenden Verteidiger*innen Mbembes aufstieg, gestand zunächst freimütig ein, sie könne seiner Theorie eigentlich gar nicht so richtig folgen.
Die Vorwürfe gegen den Kameruner und in Südafrika lebenden Historiker Achille Mbembe, er sei Antisemit, „Israel-Hasser“ und habe zudem den Holocaust relativiert, lösten eine kontroverse und verbissene Diskussion aus, die in Feuilletons, sozialen Medien, aber auch auf politischer Ebene insbesondere Mitte letzten Jahres heftig ausgetragen wurde. In diesem Zusammenhang gerieten auch die diversen heterogenen, unter dem Signet „postkoloniale Theorie“ firmierenden Ansätze unter Beschuss, für die Mbembe als wichtigster afrikanischer Repräsentant steht, obgleich er sich mehrfach von ihnen distanziert hat. So beklagte er etwa in seinem Buch „On the Postcolony“ (2000) die Gegenstandsferne postkolonialer Perspektiven auf Afrika, die komplexe Phänomene wie Staat und Macht auf Diskurse und Repräsentationsmodelle reduzieren würden.
Auch der 2014 veröffentlichte Comic „Irmina“, um den es hier gehen soll, entworfen und gezeichnet von der Berliner Comic-Autorin Barbara Yelin, behandelt eine Familiengeschichte im Deutschland der 1930er- und 40er-Jahre. „Irmina“ basiert auf Tagebüchern und Briefen ihrer Großmutter, auf die die Autorin vor einigen Jahren gestoßen ist. Wie nah die Geschichte sich an diesen Aufzeichnungen orientiert, bleibt offen, deutlich wird aber, dass dem Buch ausführliche historische Recherchen zugrunde liegen. Dabei nutzt Yelin, wie ich darlegen möchte, genau jene Potenziale des Comics, die das Medium für die Geschichtsschreibung bereithält.
Staudammbauten in Afghanistan, Ahmed Ben Bella und wie er die Welt sah, die Fotos hungernder Kinder in Nigeria und Bangladesch, amerikanische Agrarwissenschaftler, die in Manila Reissorten züchten, Chinas Werben um Afrika, eine UN-Erklärung, niemals umgesetzt, über die Errichtung einer »Neuen Weltwirtschaftsordnung« – wer hätte vor 20 Jahren vorausgesagt, dass diesen Episoden einmal symptomatische Bedeutung zugemessen würde, wenn es um das Verständnis der internationalen Politik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht. Wie stark sich das geschichtswissenschaftliche Bild des Zeitraums gewandelt hat, lässt sich tatsächlich, noch vor allen interpretatorischen Einordnungen und methodischen Konzeptualisierungen, besonders eindrücklich an der Fülle neuen Wissens ablesen, das historische Studien in den letzten gut 15 Jahren hervorgebracht haben. Weltregionen, über die man wenig wusste, Akteure, die eher im Hintergrund operierten, politische Projekte, die nebensächlich erschienen, Konflikte, die als sekundär galten, sind inzwischen eingehend erforscht.
Die Bedeutung der Apartheid für die internationale Menschenrechtspolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt in ihrer Exzeptionalität: Kein anderes Thema stand so lange auf der menschenrechtspolitischen Agenda, nämlich von den späten 1940er-Jahren bis zum Ende der Minderheitsherrschaft 1994, als der »Kalte Krieg« schon einige Jahre vorüber war. Keine andere Regierung erfuhr in dieser Zeit eine stärkere internationale Isolierung als die südafrikanische. Kein anderes Staatsverbrechen zog in der internationalen Politik, unter zivilgesellschaftlichen Aktivisten und in der medialen Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit auf sich, als es die Rassendiskriminierung am Kap während der Hochphase der weltweiten Entrüstung gegen Ende der 1980er-Jahre tat. Das Faszinosum der transnationalen Geschichte Südafrikas besteht nicht in dem, was an ihr typisch, sondern in dem, was an ihr besonders ist.
Militärgeschichte
(2013)
Krieg und Militär sind die beiden Hauptkomponenten der Militärgeschichte. Das Feld umfasst Forschungen zu militärischen Konflikten, zur sozialen Gruppe und Großorganisation Militär ebenso wie zu den Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zwischen Krieg und Militär auf der einen und der jeweiligen gesellschaftlichen Verfasstheit auf der anderen Seite. Jörg Echternkamp zeichnet in seinem Beitrag den thematischen und methodischen Wandel nach, der seit den 1990er-Jahren immer häufiger dazu führt, dass die Militärgeschichte ihren Blick vom Schlachtfeld auf die Kriegsgesellschaften richtet. Er beschreibt die wichtigsten Debatten und plädiert dafür, Militärgeschichte als zeithistorische Aufklärung zu verstehen.
This article explores the variability and the limits of the political in regard to cyclists‘ unions in Germany and the Netherlands between 1900 and 1940. In both countries, cyclists formed national consumer organizations, mixing consumer demands with social and even political im-plications. The Dutch Cyclists‘ Union managed to establish herself as an eminent political actor and „system builder“ with lasting impact on traffic legislation and road construction. While liber-als were loosing the political majority in Dutch parliament, the Cyclists‘ Union became a strong-hold of Dutch liberalism outside the narrow confines of the old institutionalized political arena. In contrast, German cyclists‘ dreams of opening up social elites and fostering social and political change through the bicycle were shattered. The bicycle, which had started off as a luxury good in the 1890s and had become a common means of transport by the 1920s, was more suitable for political communications „from top to bottom“. Old liberal elites in the Netherlands were quite successful in making use of this consumer object in order to reformulate their existing claims to power and create new realms of the political. A transformation of social and political conditions, „from the bottom up“, as it was hoped for by part of the German cyclists‘ movement, however, turned out to be utopian.
Es ist notwendig, ein kritisches Bewusstsein über die Rolle und Funktion von Bildern in antisemitischen Diskursen zu schaffen und durch die Vermittlung von Medienkompetenz antisemitische Kommunikation durchschaubar zu machen. Außerdem sollten durch historisierende Bildanalysen solche Elemente herausgearbeitet werden, durch die antisemitische Bilder von anderen visuellen Aussagen unterschieden und abgegrenzt werden können.
Ein Foto von der US-amerikanischen Flaggenhissung auf der japanischen Insel Iwo Jima vom Februar 1945 entwickelte sich noch während des Zweiten Weltkrieges zu einer national mobilisierenden Ikone für letzte Kriegsanstrengungen. Nach dem Krieg betonte das US Marine Corps mit diesem Foto seine Leistungen und seine Eigenständigkeit. Ein Bronzedenkmal, das 1954 am Rande von Arlington eingeweiht wurde, war gleichsam die dreidimensionale Umsetzung des Fotos und Ausdruck des Selbstbewusstseins des Marine Corps. Dieser Beitrag geht der Konkurrenz nationaler Indienstnahme und sektoraler Interessen bis in die Gegenwart nach. Aufgezeigt werden die unterschiedlichen medialen Repräsentationen der Iwo-Jima-Geste und ihre wechselnden Bedeutungen – beispielsweise die fotografische Aktualisierung im Zusammenhang des 11. September 2001. So entsteht ein Panorama der nationalen Ikonographie der USA seit dem Zweiten Weltkrieg.
Der „Kalte Krieg“, so er sich denn als sinnvoller Epochenbegriff durchsetzt, sollte vorerst nicht insgesamt musealisiert werden. Eine Darstellung der Teilung Berlins, Deutschlands und Europas, aber auch der wechselnden und fortdauernden Verflechtungen würde einen bescheideneren und angemesseneren Rahmen bilden. Eine Ausstellung könnte dabei ein Kern sein, sollte jedoch vor allem eines leisten: eine vielfältige Erinnerungslandschaft in Berlin, in Deutschland, in Europa erschließen und neugierig auf sie machen.
Europäische Zeitgeschichte beruht auf unterschiedlichen Meisterzählungen, zu denen sie in einem Wechselverhältnis steht. Sie sollte von einem geografischen Begriff von Europa ausgehen, der den Westen wie den Osten gleichermaßen umgreift und keine vorgegebenen ,europäischen Werte" annimmt. Quellenzugang, Fragestellungen und regionaler Forschungsstand variieren beträchtlich. Während die wirtschafts- und politikhistorische Integrationsforschung zu Westeuropa institutionalisiert ist und abgesicherte Ergebnisse aufweist, fehlt dies für die osteuropäische Integration noch weitgehend. In dem Aufsatz werden darüber hinaus unterschiedliche Sektoren einer ver-gleichenden europäischen Geschichte benannt. Hier zeichnen sich neue Wege ab, die zum Teil auch gesamteuropäische Ansätze verfolgen. Durch den Pluralismus von Integrations- und vergleichender Geschichte könnten eindimensionale Meistererzählungen differenziert werden.
Obwohl Psychologie und Psychoanalyse Nachbardisziplinen der Geschichtswissenschaft sind, findet eine methodische und theoretische Auseinandersetzung mit diesen kaum statt. Dennoch können sie, wie Nikolas R. Dörr im vorliegenden Beitrag erörtert, hervorragende Hilfswissenschaften der (zeit-)historischen Forschung sein, wenn sie richtig ausgewählt und angewendet werden. Er plädiert für eine (Wieder-)Entdeckung beider Disziplinen und erörtert den Nutzen mithilfe eines kurzen geschichtlichen Abrisses sowie von praxisbezogenen Anwendungsbeispielen.
Vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Erosionen in Ost- und Mitteleuropa seit 1989 und insbesondere der deutschen Wiedervereinigung versäumte es die deutsche Kommunismusforschung lange, den Blick auch gen Westen zu richten. In den letzten Jahren ist allerdings ein Wandel des Forschungsinteresses zu verzeichnen, wie es Nikolas Dörr anhand der Phase des „Eurokommunismus“ in Westeuropa schildert. Den definitorischen Problemen, eine exakte wissenschaftliche Begriffsbestimmung zu leisten, geht der Autor ebenso nach wie Periodisierungs- und Fragen der historischen Semantik.
In den heutigen Geisteswissenschaften ist eine Forschungsrichtung aktuell, die sich der Analyse des Europa-Diskurses widmet. Die Tatsache, dass das Thema „Europa“ besondere Aktualität gewann, hängt mit der Wandlung des Phänomens der „Europäizität“ und der Erweiterung der Europäischen Union zusammen. Gleichwohl war das gesamte 20. Jahrhundert von Debatten über diese Frage geprägt. Auch wenn sich die Zeit davor durch ein aktives Interesse der Europäer am Kennenlemen des „Anderen“ jenseits der Grenzen Europas auszeichnete, so konzentrierte sich das Interesse der Wissenschaftler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem auf die Frage, was Europa ist und wo seine Grenzen liegen.
Deutschland altert, und dies – was die absehbare Zukunft angeht – unweigerlich. Nachdem dieses Faktum hierzulande längere Zeit – sicher auch wegen der unseligen bevölkerungspolitischen Vergangenheit Deutschlands – keine bedeutsame öffentliche Resonanz erfuhr, ist spätestens seit Beginn der 2000er Jahre ein gesellschaftliches Bewusstsein der anstehenden Veränderungen und ihrer vermeintlichen Dramatik produziert worden. Der Deutschland (und nicht nur Deutschland) in unregelmäßigen Abständen heimsuchende »apokalyptische Bevölkerungsdiskurs« wird nun praktisch permanent geführt, demographiepolitische Motive wie die »Schrumpfung«, »Überalterung« und »Alterslast« der Gesellschaft sind zum festen Bestandteil der gegenwärtigen Wissensordnung geworden.
Im Folgenden werden die diskursiven Rahmungen von Sexual-Objekten in der deutschsprachigen und amerikanischen Presse und in Internetforen untersucht. Den Anfang macht eine Untersuchung der Diskurse um die japanische Kussmaschine und ähnliche Objekte. Küsse, so zeigt sich, erweisen sich als Ausdruck der Intimität, ihre Technisierung und Virtualisierung wird als abzuwehrende Kolonialisierung der Intimbeziehung durch Technik gewertet. Für andere technische Sexual-Objekte trifft das nur bedingt zu. Diese im zweiten und dritten Teil des Beitrages vorgestellten Objekte zur Autosexualität sowie zur Sexualität auf Distanz werden eher als Bereicherung des Sexuellen verstanden. Der Einsatz von Technik steht weder der Intimkommunikation noch der Rahmung des Sexuellen als Ausdruck romantischer Liebe im Wege. Sexualität und Technologie erweisen sich vielmehr als wechselseitig füreinander produktiv. Die Objekte werden zu materialisierten Elementen des therapeutischen Diskurses sowie des Optimierungsdiskurses, der Orgasmen als herstell- und steigerbar und jederzeit verfüg- und konsumierbar ausweist. Doch damit werden, so die These, Orgasmen nicht nur potentiell aus dem Bereich der Intimbeziehung gelöst, sondern auch aus dem Sexuellen selbst.
„Mikätzchen“ schnurrten in den sechziger Jahren hundertfach durch die Klassenzimmer Nordrhein-Westfalens. Diese eilig zu Volksschullehrerinnen vorbereiteten Hausfrauen waren in den achtziger Jahren allerdings längst in Vergessenheit geraten, als ihre mittlerweile wesentlich besser qualifizierten Nachfolgerinnen als unbarmherzige „Doppelverdienerinnen“ durch Presse und Politik spukten. Was hatte sich innerhalb von nur zwei Dekaden verändert? Was war gleichgeblieben? Dass insbesondere Frauen betroffen vom Arbeitsplatzabbau sind, ist nicht überraschend. Aber wie verhielt es sich in einem akademischen Beruf, in dem die Beschäftigten ihre Stellen auf Lebenszeit innehatten? Welche Inklusions- und Exklusionsprozesse können in dem mittlerweile gemeinhin als „Frauenberuf“ etikettierten Lehrberuf rekonstruiert werden?
Ein Bild verwundert in einer Ausstellung mit dem Titel „Fragende Blicke. Neun Zugänge zu ethnografischen Fotografien“: Die Farbaufnahme im klassischen 10 x 15 cm-Format aus dem Jahr 1984 zeigt drei Personen, die vor dem Museum Fünf Kontinente (damals Staatliches Museum für Völkerkunde) in der Münchner Maximilianstraße posieren. Es scheint ein grauer, kalter Tag gewesen zu sein, an dem die Aufnahme entstand, die in ihrem Stil an Touristenaufnahmen erinnert und sich in jedem privaten Familienfotoalbum befinden könnte. Zwischen einer Frau rechts und einem älteren Herrn links steht ein junger dunkelhäutiger Mann. Durch die Bildunterschrift „Alfredo (Aherowë) zu Besuch in München“ kann schließlich eine Verbindung zu einer daneben hängenden Aufnahme mit dem Titel „Yaima, Asiawës Frau, mit ihrem Sohn“ hergestellt werden. Sie wurde 1954, also 30 Jahre zuvor, im Dorf Mahekodotedi in Venezuela, in dem Waika, eine Gruppe der Yanomami leben, von dem älteren Mann auf der Farbaufnahme, dem Ethnologen Otto Zerries, aufgenommen. Auf dem Bild sehen wir eben jenen jungen Mann als Baby auf dem Rücken seiner Mutter.
Ein Zug von Elefanten mit orientalisch bekleideten Reitern und Treibern bewegt sich durch eine – wie die Bildunterschrift verrät – Münchner Straße. Diese Momentaufnahme aus dem Großstadtleben des späten 19. Jahrhunderts verwundert auf den ersten Blick und gehört mit Sicherheit zu einer der ungewöhnlicheren Szenen, die der 2013 erschienene Bildband „München im 19. Jahrhundert. Frühe Photographien 1850-1914“ enthält.
Der Mainzer Europa-Kongress im März 1955 war ein publizistisch stark beachtetes Ereignis, zudem dasjenige, mit dem das knapp fünf Jahre zuvor ins Leben getretene Institut für Europäische Geschichte erstmals bewusst den Lichtkegel der Öffentlichkeit suchte. Die Tagung wurde von mehr als 300 Wissenschaftlern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus 16 Staaten besucht, sprengte die räumlichen Kapazitäten des Instituts bei weitem und musste deswegen an den prominentesten Platz der Rheinstadt verlagert werden, nämlich in das Kurfürstliche Schloss. Schon im Folgejahr, 1956, konnte der Direktor der ausrichtenden Institutsabteilung, Martin Göhring, die gedruckte Dokumentation dieses Kongresses vorlegen. Sie trug denselben Titel wie die Tagung selbst: „Europa - Erbe und Aufgabe“.
Schwitzende Werkarbeiter in der DDR, Menschen im Porträt, Bilder als kombinierte Triaden, die ihnen einen neuen Sinn geben – die aktuelle Werkschau des Berliner Fotografen Ludwig Rauch erzählt im Cottbusser Dieselkraftwerk Geschichte und Geschichten. Es geht um die DDR, um Menschen und ihre Biografien: sichtbar gemacht in Porträts und Serien. Das Altern, der Tod und vor allem das Leben sind Motive in Rauchs Werkschau, die er unter dem Titel Noch ein Leben zusammenfasst. Auf drei Etagen begegnen die Ausstellungsbesucher unterschiedlichsten Arbeiten, die auf teilweise überraschende Weise zusammengehören.
Different factors have been proposed to explain the longevity of the communist system in Romania: social control by the secret police, external pressures, or foreign control. However, the most common explanation is that of the Romanian people’s ‘passivity’. Many commentators distinguish between two groups in Romanian society, victims and collaborators, and hold the entire Romanian nation responsible for communism since it did not oppose the system and its authorities. Over the last few years, Romanian sociologists have begun to study communist society more systematically. They have developed new interpretations of the causes of the longevity of the system in terms of the transformation of social identity under communism and general fear. This article advances a complementary explanation, focusing on the perception of social security, and draws on a series of interviews conducted in the summer of 2009 in Romania and a number of public surveys conducted between 1999 and 2009.
Sehnsucht nach einem stillen Land. Wie zwei Reporter der „ZEIT“ im Jahr 1979 die DDR darstellten.
(2009)
Die heutige Lektüre des Buches irritiert, so eigenartig und doch auch vertraut wirkt das vor 30 Jahren entworfene DDR-Bild. Die Texte und Fotos wurden zwischen Herbst 1978 und Sommer 1979 zunächst als einzelne Reportagen im „ZEIT“-Magazin veröffentlicht. Die Journalistin Marlies Menge und der Fotograf Rudi Meisel waren seit 1977/78 die ersten akkreditierten „ZEIT“-Korrespondenten in der DDR - und blieben es bis 1990. Der Hanser-Verlag brachte sieben dieser Beiträge als großformatigen Bildband heraus. Meisel erhielt dafür 1979 den Kodak-Fotobuchpreis.
Eine Entdeckung ist zu feiern mit der Potsdamer Ausstellung, die sich zentralen Arbeiten aus dem Werk der Fotografin Christina Glanz widmet. Genau genommen handelt es sich um die Chance zur Wiederentdeckung, symptomatisch spät im vereinten Deutschland. Denn die Berliner Fotografin Christina Glanz hatte bereits in den 1980er Jahren der DDR Aufmerksamkeit erregt und Anerkennung gefunden bei all denen, die sich für fotokünstlerische Positionen im geteilten Deutschland interessierten. Bereits 1982 und 1987 war Christina Glanz bei den letzten beiden Kunstausstellungen der DDR in Dresden vertreten.
It is said that William Brennan, the great US Supreme Court Justice, liked to greet his incoming law clerks with a bracingly simple definition of constitutional doctrine: five votes. ›You can’t do anything around here‹, Brennan would say, wiggling the fingers of his hand, ›without five votes.‹1 While memorable, Brennan’s definition was not entirely original. Seventy-five years before Brennan’s elevation to the high court, the jurist Oliver Wendell Holmes Jr. famously wrote: ›The life of the law has not been logic; it has been experience [...]. The law […] cannot be dealt with as if it contained only the axioms and corollaries of a book of mathematics.‹2 Some years later, Holmes returned to this idea, writing: ›The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law.‹3 Statements such as Brennan’s and Holmes’ found elaboration in the American jurisprudential movement known as ›legal realism‹. One of its most influential and articulate exponents was the law professor Karl Llewellyn (1893–1962). Trained at Yale Law School, and on the faculty of Columbia, Llewellyn had a foot in the two institutions most prominently associated with the realist movement.
Als Malia Obama, die damals 11-jährige Tochter des US-amerikanischen Präsidenten, 2009 ihre Eltern mit ungeglättetem Haar nach Rom begleitete, ahnte sie wohl nicht, dass diese Frisur immer noch zum Politikum werden konnte. Einige Kommentatoren auf der konservativen Website »Free Republic« monierten, das Mädchen sei ungeeignet, die USA zu repräsentieren, und machten dies an ihrem Hairstyle fest. Selbst wenn solche Stimmen marginal blieben, rekurrierten sie auf bekannte Diskurse, die den Natural Hairstyle, auch bekannt unter dem Namen Afro, ähnlich wie schon in den 1950er- und 1960er-Jahren erneut mit Ungepflegtheit assoziierten...
Sowjetisierung und Amerikanisierung der sozialistischen Staaten gelten als Gegensätze. Als die DDR in den 1960er Jahren eine technische „Auto-Amerikanisierung“ einleitete, lehnte die Sowjetunion diese jedoch keineswegs ab. Sie förderte sie vielmehr im Rahmen eines transnationalen technischen Großprojekts, des „Einheitlichen Systems der Elektronischen Rechentechnik“ (ESER). Die Übernahme westlicher Technik sollte dazu beitragen, den Westen zu „überholen“, ohne ihn zuvor „einholen“ zu müssen. Zugleich fürchtete man in Partei und Staat, dass durch den Technologietransfer auch westliches Gedankengut in die DDR einsickern könnte. Daher wurde dort, wo die Herrschaft der SED gefährdet schien, die Kontrolle schnell wieder verschärft.
Gendered critiques by historians and feminist international relations scholars have been animating international history for a good thirty years by complicating the supposedly binary relationships between states and societies, private and public, and local and international that traditionally structured the discipline. In this essay we would like to ask what a sensitivity to gender might add to international histories that are shifting their focus away from intergovernmental relations towards a reassessment of internationalisms in the nineteenth and twentieth centuries through studies of transnational social movements, international organizations and norms, or practices of global governance. We are especially interested in how gender might contribute to a major emerging theme of international history today: the history of internationalism and international organizations as a struggle between competing or converging universalisms – ‘imperial and anticolonial, “Eastern” and “Western”, old and new’ – that sought to speak in the name of all humanity, rather than as the triumph of an international order imposed by the “West” on the rest.
Sowohl der Blick nach Westeuropa als auch nationale Selbstpositionierungen bestimmten Europavorstellungen im Ostblock. Besonders in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts dynamisierten sich hier Debatten um Europa, und verschiedene Narrationen von Europa standen dabei in einer Bedeutungskonkurrenz. Die politische Integration im westlichen Teil des Kontinents strahlte in die Kreise unabhängiger Intellektueller positiv aus, doch es wurden auch Debatten um eine regionale Identität Zentraleuropas geführt. Beide Stränge traten in der bekannten „Mitteleuropa-Debatte“ in einen Widerstreit. Auch wurde die Auseinandersetzung um „Polens Platz in Europa“ über die Jahre des Staatssozialismus hinweg fortgeführt, und in den Friedensbewegungen suchte man länderübergreifend nach einer europäischen Ordnung außerhalb der Systemkonfrontation. Sogar in den Parteieliten wurde darüber nachgedacht, wie sich die westlichen Staaten des Ostblocks angesichts des schwachen Zusammenhalts im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) wirtschaftlich neu orientieren könnten. So wurden den westeuropäischen Staaten Angebote zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit, zu einer Verstärkung des Ost-West-Handels und gar zum politischen Dialog gemacht. Selbst in sich ideologisch stark vom Westen distanzierenden Staaten wie der DDR kam zur aus der Nachkriegszeit stammenden antikapitalistischen Rhetorik das intensive Reden über Ost-West-Kooperationen hinzu. Zwar wurde die Nachkriegspropaganda der Abgrenzung vom westlichen „Kleineuropa“ noch bis 1989 verfolgt, parallel wurde jedoch versucht, sich der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaft anzunähem, um wirtschaftliche Vorteile zu realisieren und damit die Herrschaft zu stabilisieren. Oppositionelle Vorstellungen von Europa befanden sich trotz der restriktiven Bedingungen der staatssozialistischen Diktaturen nicht allein in einem abgrenzenden Gegensatz, sondern auch in einem Austausch mit denen der offiziellen Propaganda.
Für dieses Buch muss man sich etwas Zeit nehmen. Ich hatte die gut 700 Seiten umfassende amerikanische Originalausgabe von »Mechanization Takes Command« (den Titel kürzte Giedion in seinen Notizen mit dem Akronym »M.T.C.« ab) im Sommer 2017 im Amtrak California Zephyr auf meiner Reise von Greenriver, UT, nach Chicago, IL, im Gepäck. Diese Reise bot aktualisiertes Anschauungsmaterial zu Giedions Sondierungen der US-amerikanischen Industrialisierungsgeschichte. Sie folgte jener Eisenbahnlinie, welche Kalifornien (wo die Frontier-Gesellschaft Amerikas im ausgehenden 19. Jahrhundert an ihr Ende gelangte) mit Chicago verbindet (der nach dem großen Brand von 1871 zur Industriemetropole avancierten Stadt am Lake Michigan). Dazwischen öffnete sich der Midwest, dessen verrostete und verlassene industrielle Infrastruktur (Bahnhöfe, Fabriken, Brücken, Städte) durch das Zugfenster ins Blickfeld geriet und somit den Endpunkt der von Giedion dokumentierten Entwicklungen brutal vor Augen führte. Die heruntergewirtschafteten Landschaften des Midwest und Giedions Streifzüge in ihre Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts flossen ineinander über. Etwa dann, wenn der Zug stillstand und mein Blick bei den Getreide-Elevatoren hängen blieb, wo sich die Eisenbahnlinien kreuzen und der Personenzug den unendlich langen Güterwagen, die von Diesellokomotiven angetrieben werden, den Vortritt lassen musste. Oder wenn ich beim mäandrierenden Durchblättern des Buches und dem Blick aus dem Zugfenster den Faden verlor und eindöste – und dann beim Eindunkeln jäh von den sleeping car attendants, welche die ausklappbaren Sitze für die Nacht mit ein paar Handgriffen zu Betten umwandelten, in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Oder im Nachfolgemodell des von George M. Pullman 1869 in seinem Patent beschriebenen Speisewagens, wo die Reisende aus Europa und Wählerinnen des amtierenden Präsidenten sich am gemeinsamen Tisch zum Verzehr von Burger, Steaks und Hot Dogs wiederfanden. Jenes Präsidenten, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Re-Industrialisierung abgehängter Regionen im einst prosperierenden Rostgürtel der USA versprach.
Markttabu
(2014)
Die Schauspielerin hieß Henny Porten und gilt als Deutschlands erster Filmstar. Ihren Durchbruch markierte Das Liebesglück der Blinden von 1910. Ihr Aufstieg zum Star war parallel verlaufen zu dem des Kinos selbst: vom billigen Jahrmarkt-Amüsement im Kaiserreich zum kulturell, sozial und ökonomisch zentralen Unterhaltungsmedium der Weimarer Republik.
»I have a confession to make, Chief, but please don’t get a shock.« Mit diesen Worten beginnt ein 40-seitiger, für die transnationale Geschichte des Nationalsozialismus bedeutsamer Bericht von Willy Brandt an Louis P. Lochner aus dem Jahr 1946. Nicht der spätere Bundeskanzler, sondern Willy Erwin Hermann Brandt, Geschäftsführer der Associated Press GmbH bis Ende 1941, beschrieb darin seinem früheren Vorgesetzten Lochner, dem Chef-Korrespondenten der Associated Press (AP) in Deutschland, die Zusammenarbeit von AP und NS-Regime in den Jahren 1942–1945. Der bisher in der Forschung unbekannte, auf schlechtem Durchdruckpapier verfasste Report in Lochners Nachlass in Madison/Wisconsin mutet wie ein Agenten-Thriller an: Demzufolge tauschte die amerikanische Nachrichtenagentur von 1942 bis zum Frühjahr 1945 mit einer geheimen Agentur von SS und Auswärtigem Amt in Berlin, dem »Büro Laux«, ständig Fotomaterial aus...
In der zeithistorischen Wissenschaft wird schon seit geraumer Zeit darüber diskutiert, welche Bedeutung und Eigenart den 1970er-Jahren im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuzuschreiben seien. Frühe Überlegungen über den Charakter der Zeit als »rotes Jahrzehnt«, als »sozialdemokratisches Jahrzehnt« oder vielleicht doch schon als Inkubationsphase des erneuerten konservativen Trends nach1980 bewegten sich auf dem vertrauten Pfad der Zeitgeschichte seit 1945, die Jahrzehnt um Jahrzehnt seit den 1950er-Jahren durchmusterte und darauf konzentriert war, die Entwicklung der Nachkriegszeit als Fortschritts- und Wohlstandsgeschichte mitzuvollziehen.
In seinem Beitrag über „Amerikanisierung und Westernisierung“ widmet sich Anselm Doering-Manteuffel zwei bedeutenden Formen des Kulturtransfers in der Mitte des 20. Jahrhunderts. „Amerikanisierung“ bezeichnet im Wesentlichen den wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss Amerikas und die Adaption von Gebräuchen, Verhaltensweisen, Bildern und Symbolen in Politik, Kunst und Alltagswelt. „Westernisierung“ beschreibt hingegen die politisch-ideelle Homogenisierung Westeuropas, die Sozialliberalisierung sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien sowie ganz konkret die Beeinflussung der westdeutschen publizistischen und akademischen Öffentlichkeit mit dem Ziel, deren antiwestliche und antiliberale Traditionen zu durchbrechen.
Der Autor definiert die Funktionsbedingungen einer repräsentativen Demokratie und legt diese dann insbesondere für die Bundesrepublik Deutschland auf den Prüfstand. Medialisierung, technische Revolutionen und ökonomische Liberalisierung gefährden demnach zunehmend die Grundbedingungen für eine funktionierende nationale Demokratie; noch sei aber kein gangbarer Weg zu parlamentarischer Kontrolle internationaler Gremien gefunden worden. Doering-Manteuffel konstatiert einen freiwilligen Verzicht gewählter Repräsentanten auf Verantwortung, die statt dessen lieber ökonomischen Agenturen oder dem Bundesverfassungsgericht überlassen werde, und warnt insbesondere vor der Eigendynamik der Wirtschaft. In einer Demokratie müsse Verantwortung und Entscheidungskompetenz dagegen unbedingt bei einer gewählten und damit legitim abgesicherten Regierung liegen.
Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen. Zur historischen Einordnung der siebziger Jahre
(2008)
Wohl keines der Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war derart stark von widerstreitenden Entwicklungen gekennzeichnet wie die siebziger Jahre. Sprach man nach dem Krieg in Deutschland von Stunde Null und Neubeginn, in den fünfziger Jahren dann von Wiederaufbau, in den Sechzigern von Reform und Emanzipation, so löste sich im Verlauf der siebziger Jahre die scheinbare Eindeutigkeit der Zuordnungen auf. Politikwissenschaftler und Historiker nahmen alsbald Zuflucht zum inhaltsleeren Begriff der Krise, als hätte es Krisen zuvor nicht gegeben und als sei man in der Lage, exakt bestimmen zu können, was eine »Krise« denn konkret ausmache.
In seinem Beitrag über „Amerikanisierung und Westernisierung“ widmet sich Anselm Doering-Manteuffel zwei bedeutenden Formen des Kulturtransfers in der Mitte des 20. Jahrhunderts. „Amerikanisierung“ bezeichnet im Wesentlichen den wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss Amerikas und die Adaption von Gebräuchen, Verhaltensweisen, Bildern und Symbolen in Politik, Kunst und Alltagswelt. „Westernisierung“ beschreibt hingegen die politisch-ideelle Homogenisierung Westeuropas, die Sozialliberalisierung sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien sowie ganz konkret die Beeinflussung der westdeutschen publizistischen und akademischen Öffentlichkeit mit dem Ziel, deren antiwestliche und antiliberale Traditionen zu durchbrechen.
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist auch in Deutschland ein steigendes öffentliches und wissenschaftliches Interesse an kriegerischen Konflikten zu beobachten. War dieses Forschungsfeld lange vor allem Zeithistorikern und -historikerinnen vorbehalten, so interessieren sich zunehmend auch die Politik- und Sozialwissenschaften für das Gebiet, was sich an einer Fülle von Publikationen und Konferenzen zeigt. Besonders mit dem Erscheinen von Herfried Münklers Buch „Die neuen Kriege“ (2002) ist eine lebhafte Diskussion entbrannt. Münkler konstatiert in seinem Werk die Entstehung einer neuen Form von Kriegen: Die Kriegsakteure hielten sich nicht mehr an Regeln; die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten sei aufgehoben; und die Kriege hätten in erster Linie einen ökonomischen Hintergrund. Ob man nun von „neuen“, „asymmetrischen“, „kleinen“ oder „low-intensity-Kriegen“ sprechen will: Die AKUF distanziert sich von der Vorannahme, die aktuellen Konflikte seien eine gänzlich neue Entwicklung.
1977 schalteten Computerwissenschaftler aus Ost und West erstmals eine Datenverbindung durch den Eisernen Vorhang. Am IIASA in Laxenburg bei Wien arbeiteten sie gemeinsam an der Entwicklung grenzüberschreitender Computernetze. Verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten sollten die internationale Forschung stimulieren und einen Forschungsverbund schaffen, der weit mehr als die am Institut ansässigen Wissenschaftler umfasste. Hinzu kam die Vorstellung, mit Hilfe elektronischer Datennetze die Gesellschaften effektiver steuern zu können. Diese Planungsutopien gehören der Vergangenheit an, die Vision der Computernetze jedoch ist mit dem Internet Realität geworden.
Moderne (Version 2.0)
(2018)
Version 2.0: Wenige Begriffe dürften für die konzeptionelle Rahmung und Periodisierung zeithistorischer Forschungen, aber auch für die Erfahrungshorizonte, Selbst- und Weltdeutungen vieler Menschen im 20. Jahrhundert von ähnlich zentraler Bedeutung sein wie der Begriff der „Moderne“, den Christof Dipper in seinem Beitrag einer komplexen Historisierung unterzieht. In seiner Skizze der Moderne als einer historischen Epoche, die der Autor um 1880 beginnen und etwa 100 Jahre später enden lässt, betont Dipper die Verschränkung sozialstruktureller Basisprozesse und zeitgenössischer Erfahrungs- und Wahrnehmungsmuster einer grundstürzend neuen Epoche.
Moderne (english version)
(2018)
The word Moderne (modernity) has been a staple of many disciplines ever since the 1980s, though previously restricted almost exclusively to the fields of aesthetics and literary criticism (and referred to here in English as “modernism”). The term can have a variety of meanings, however, depending on its context.
Wie alle anderen Länder besaß auch die Schweiz ihre pragmatische Zeitgeschichte bis ins 19. Jahrhundert. Sie nahm von den 1790er-Jahren an tagespolitische Züge an und beteiligte sich an jenen Auseinandersetzungen, die 1847 in den Sonderbundskrieg mündeten. Unmittelbar danach setzte der Siegeszug des Historismus ein, der zugleich einen Professionalisierungsschub für die Historiker bedeutete. Quellenkritik wurde nun zum Kernbestandteil des historischen Handwerks erklärt und wer als Wissenschaftler gelten wollte, wandte sich von der Gegenwart ab; „das Dunkel der ersten Jahrhunderte des Bundes” wurde zur bevorzugten Epoche historischen Forschens.
Moderne
(2010)
Extravagante Danksagungen in literarischen und wissenschaftlichen Büchern werden regelmäßig in den Massenmedien und auf Social Media zur Unterhaltung verbreitet und debattiert. Auch am Beispiel von in Danksagungen nicht erwähnten Mitarbeiter:innen und Ghostwritern werden verschiedene Auslegungen guter wissenschaftlicher Praxis und redlichen Schreibens diskutiert. Für Danksagungen interessieren sich jedoch nicht nur die Massenmedien, sondern erst recht die Wissenschaftler:innen selbst. Zwar sind akademische Danksagungen von der geistes- und geschichtswissenschaftlichen Forschung bisher kaum systematisch untersucht worden. Gleichwohl stellen sie einen von Fachkolleg:innen aufmerksam rezipierten Paratext dar, der ebenfalls der Unterhaltung dienen kann, durch den sie sich aber auch ein Bild vom jeweiligen Autor bzw. von der Autorin verschaffen. Anhand von Danksagungen wird überprüft, in welchen fachlichen Schulen sich die Autor:innen verorten, für welche Unterstützung sie sich bei wem bedanken, welche privaten Ansichten und Angelegenheiten sie preisgeben und inwiefern sie fachliche Konventionen einhalten. Umgekehrt ist dieser prüfende Blick der Kolleg:innen den Verfasser:innen von Danksagungen bekannt. Über die Geste hinaus bieten Danksagungen den Autor:innen daher die Möglichkeit, sich den Kolleg:innen als Wissenschaftler:in und (Privat-)Person zu präsentieren.
Die „Dritte Welt“ hat es nur als abstraktes wirkmächtiges zeitgenössisches Ordnungsmuster der Welt gegeben. Der Begriff wurde von imaginären und tatsächlichen Entwicklungen in den Ländern Asiens und Afrikas sowie zum Teil auch Lateinamerikas geprägt. Jürgen Dinkel zeigt die entsprechende Aufladung des schillernden Begriffs ebenso wie das jeweils politische und wirtschaftliche Agieren dieser an sich sehr unterschiedlichen Länder auf, um mit der Historisierung von Geschichte und Semantiken der Dritten Welt zu beginnen.
Hannah Arendts Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” ist ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Buch.[1] Sein Genre ist schwer auszumachen. Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinne ist es nicht. Auch handelt es sich nicht um ein systematisches Werk der politischen Theorie oder Philosophie. Ein Hinweis auf die Gattung ergibt sich aus Stil und Sprache: Ihnen ist ein auffällig rhetorischer, ein gleichsam verschärfender Zug eigen. (...)
Wiederveröffentlichung von: Dan Diner, Kaleidoskopisches Denken. Überschreibungen und autobiographische Codierungen in Hannah Arendts Hauptwerk, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 37-41.
Die Rote Armee Fraktion im Original-Ton. Die Tonbandmitschnitte vom Stuttgarter Stammheim-Prozess
(2009)
Unter der Überschrift „Stimmen aus Stammheim“ berichtete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am 1. August 2007 von zuvor noch nicht veröffentlichten Originaltönen, die während des Strafprozesses gegen die RAF-Gründungsmitglieder - Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe - in Stuttgart-Stammheim aufgenommen worden waren. Eindeutig habe es „Signale“ gegeben, „die damals niemand verstand“. Am gleichen Tag konstatierte die „Frankfurter Rundschau“: „Nur Hass und Verbitterung. Neue Tonbandmitschnitte erhellen das vergiftete Klima im Prozess gegen die RAF-Gründer“. Andere Schlagzeilen lauteten: „Ulrike Meinhofs letzte Worte“, „Im Keller vergessen“, „Stimmen aus dem Grab“ oder „Mythische Stimmen aus dem Jenseits“. In der „ZEIT“ wurde kritisch angemerkt, die Konkurrenz vom „Spiegel“ mache „viel Aufhebens um die Stammheimer Tonband-Mitschnitte, die ein findiger Journalist in den Katakomben der Justiz aufgestöbert hat“.
Der „Todestango“ gehört zu den bekanntesten und zugleich rätselhaftesten Kompositionen, die in Konzentrations- und Vernichtungslagern der SS gespielt worden sein sollen. Der Legende nach entstand er im Zwangsarbeits- und Durchgangslager Janowska in Lemberg/Lviv, der damaligen Hauptstadt Galiziens, das nach dem Überfall des Hitler-Regimes auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 unter deutsche Besatzung geriet. In einer Bildanalyse führt Dietz aus, dass wesentliche Inhalte, die Rückschlüsse (oder Zweifel) über den Ort der Aufnahme erlauben, im bisherigen Diskurs übergangen wurden. In diesem Zusammenhang wird die Frage zu diskutieren sein, ob die Aufnahme wirklich das Orchester des Janowska-Lagers oder möglicherweise das Orchester des Lemberger Ghettos zeigt.
Christliches Abendland gegen Pluralismus und Moderne. Die Europa-Konzeption von Christopher Dawson
(2012)
Der englische Kulturhistoriker Christopher Dawson (1889–1970) bewegte sich im Laufe seiner Karriere eher am Rande der institutionellen akademischen Welt. Genau genommen kam Dawson erst 1958 zu akademischen Ehren, als er auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Römisch-Katholische Theologische Studien der Universität Harvard berufen wurde. Dennoch ist Dawsons früheres Werk auch heute noch populär. Insbesondere im katholisch-intellektuellen Milieu bzw. im katholisch geprägten geisteswissenschaftlichen und theologischen Kontext wird Dawson rege rezipiert. Der eigentliche Grund, sein Werk „neu“ zu lesen, liegt an dieser Stelle jedoch in Dawsons Bedeutung für eine Tradition antiliberaler Europa-Konzeption, die in der Zwischenkriegszeit entwickelt, unter anderen Vorzeichen aber auch in der Nachkriegszeit wirkungsmächtig wurde. Dawsons geschichtsphilosophischer Ansatz bestand in einer Fundamentalkritik der europäischen Aufklärung und in der Herleitung Europas über das abendländische Mittelalter, dessen Beitrag zur europäischen Zivilisation er der modernen nationalstaatlichen Entwicklung entgegenhielt. Zentral für Dawsons Werk und sein Wirken war die historische Konstruktion abendländischer Kultureinheit in seinem wohl bekanntesten Buch: „The Making of Europe“ von 1932.
Nach 1989/90 wurde kriegerische Gewalt innerhalb Europas auf neue Weise zum Thema und gerade auch für Intellektuelle zu einer unerwarteten Herausforderung. Die Diskussion unter deutschsprachigen Schriftstellern über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien war hauptsächlich eine Debatte um Peter Handke. Sie fungierte als eine Art Stellvertreterdebatte, während engagierte politische Interventionen deutscher Literaten meist ausblieben. In seinen kontroversen Texten seit 1996 versuchte Handke einen ‚dritten‘ Standpunkt jenseits der zweiwertigen Logik des politischen Diskurses in den Medien zur Geltung zu bringen. Dennoch tendierte sein ‚poetischer‘ Blick auf Serbien zunehmend zur politischen Parteinahme, wie etwa seine Annäherung an den in Den Haag angeklagten serbischen Präsidenten Miloševic zeigt. Obwohl seine Sprache eine Alternative zum ‚herrschenden‘ medialen Diskurs suchte, wurde sie wie die Figur ‚Peter Handke‘ letztlich von den Regeln der politischen Öffentlichkeit absorbiert.
Queuing as a quintessential experience of Soviet everyday life: hardly any other motif has shaped our images of the late Soviet Union as much as the long lines of people persevering in front of shops and grocery stores. Besides hopes of purchasing essential and rare goods, the social aspect of this practice was also important, as exemplified by Vladimir Sorokin’s 1983 novel “The Queue” surrealistically exploring interactions of people queuing for an unknown commodity, or Olga Grushin’s 2010 book “The Line”, which unfolds a Soviet family’s everyday longings, hopes and obsessions based on rumours about a concert by a famous exiled composer, and a street kiosk that may or may not have tickets on sale.
In den heutigen »wissens- und technologieintensiven« Zeiten, so könnte man annehmen, drehen sich Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr um Immaterielles. Manche hoffen sogar, dass diese post-industrielle Revolution der Weltwirtschaft den Schub geben wird, den sie braucht, um weiterhin auf einem Wachstumspfad zu bleiben und – dieses kleine Detail bleibt oft unerwähnt – weiterhin eine asymmetrische Verteilung von Produktivität und Einkommen sicherzustellen. Warum sollte sich also ein Themenheft der »Zeithistorischen Forschungen« ausgerechnet jetzt mit dem »Wert der Dinge« beschäftigen, wo diese doch gerade zusammen mit der industriellen Produktion an Bedeutung zu verlieren scheinen? Gewählt haben wir dieses Thema nicht primär aufgrund der Konjunktur, welche die dinglichen Dimensionen der Vergangenheit momentan in der Geschichtswissenschaft genießen, sondern eben aufgrund der Rede vom Bedeutungsverlust des Materiellen. Sie macht es notwendig, den vermeintlichen Gegensatz zwischen Dingen und Menschen oder zwischen Stoffen und Gedanken neu zu fassen.
Es gehört zum Konsens der Historiografie des 20. Jahrhunderts, Berlin als komplexen symbolischen Ort der deutschen Geschichte zu charakterisieren. Die Perspektive auf Berlin als widersprüchlicher Kulminationspunkt der Moderne ist genauso etabliert wie die Sichtweise auf die Metropole als »Symbol« der Ost-West-Konfrontation. Die symbolische Vielschichtigkeit, die die Geschichtswissenschaft Berlin attestiert, lässt sich exemplarisch in den viel beachteten »Deutschen Erinnerungsorten« beobachten. Während es den Herausgebern gelang, Dresden (Heimat), Heidelberg (Romantik), Weimar (Dichter und Denker) oder Karlsruhe (Recht) jeweils auf eine Zuschreibung zu konzentrieren, scheint dies für Berlin offenbar nicht möglich gewesen zu sein. Unter sechs von insgesamt 18 Oberkategorien finden sich Artikel zu Berliner Orten und Institutionen: Führerbunker und Reichstag (Reich), Mauer (Zerrissenheit), Brandenburger Tor (Revolution), Freiheitsglocke (Freiheit), Palast der Republik (Moderne), Museumsinsel und Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (Bildung).
Didaktik der Geschichte
(2014)
Der weit verbreiteten Meinung, die Zuständigkeit der Geschichtsdidaktik sei nur in der Reflexion des Geschichtsunterrichts zu suchen, widerspricht Lars Deile in seinem Beitrag vehement. Überall dort, wo Vergangenheit als Geschichte in die Gegenwart hineinwirkt, liegen didaktische Entscheidungen zugrunde und muss didaktisch reflektiert werden. Didaktik sucht nach Wegen der Vergegenwärtigung von Vergangenheit, und sie befragt diese nach ihrer sinnhaften Begründung. Wie genau das geschieht, mit welchen Tendenzen und Konflikten, zeigt sein Artikel auf Docupedia.
Der koloniale Blick auf Osteuropa. Der Auftritt von Harald Welzer als Symptom deutscher Schieflagen
(2024)
Am 8. Mai 2022 war in der Talkshow von Anne Will der Krieg Russlands gegen die Ukraine Thema. Die Gäste waren der Generalsekretär der SPD Kevin Kühnert, der ehemalige CDU-Politiker Ruprecht Polenz, der Botschafter der Ukraine in Deutschland Andrij Melnyk, die Fraktionsvorsitzende der Grünen Britta Haßelmann sowie der Soziologe/Sozialpsychologe Harald Welzer. Jede Einladungsliste einer Talkshow folgt einer bestimmten Logik: Es sollen konträre Positionen aufeinandertreffen und Repräsentant:innen aus Medien, Gesellschaft und Politik und (manchmal) der Wissenschaft vertreten sein. Auf den ersten Blick könnte man also sagen, dass diese Runde durchaus gut gewählt war mit Stimmen bei denen es absehbar war, dass die Debatte kontrovers werden würde. Tatsächlich aber war die Rollenzuweisung Welzers von vorneherein problematisch: Er ist zwar zweifelsohne ein ausgewiesener Wissenschaftler, der mit "Opa war kein Nazi" auch für die Geschichtswissenschaft ein wichtiges Buch vorgelegt hatte, Osteuropa-Expertise besitzt Welzer hingegen nicht.
The centennial of the outbreak of World War I in the summer of 1914 has already produced a wave of new books, exhibitions, documentaries, films, articles, websites, and research projects on the war and will continue to do so over the course of the next years, at least until the centenary of the armistice in 2018. One might witness this rising tide with mixed feelings: the arbitrariness of anniversaries and the ambivalent suggestive power of round numbers are a topic which merits reflection in and of its own. But the First World War has continued to be of lasting and even growing interest for historians over the past decades independently of anniversaries. Jay Winter and Antoine Prost have noted that the number of volumes that were catalogued in the British Library under the rubric of ›The World War, 1914 to 1918‹ quadrupled between 1980 and 2001, and Roger Chickering gathered further evidence for the ›enduring charm of the Great War‹ in 2011. At the same time, these last decades have witnessed a number of methodological shifts and changes within the historical profession, which also affected the study of the First World War. The centennial might therefore be a good opportunity for taking stock of the current state of affairs in World War I studies and for pondering their possible future directions. This is why our journal has decided to contribute to the rising tide of World War I publications with a roundtable discussion.
Seit 2004 ist in Berlin vielfach die Einrichtung eines speziellen Museums zur Geschichte des Kalten Krieges gefordert worden. Auslöser war ein Projekt Alexandra Hildebrandts, der Leiterin des Mauermuseums/Haus am Checkpoint Charlie. Auf einer Freifläche neben dem Grundstück des Mauermuseums eröffnete sie am 31. Oktober 2004 ein privates Denkmal. Es bestand aus einem aus Originalteilen neu zusammengesetzten Stück der Berliner Mauer und 1.065 Holzkreuzen. Die Kreuze waren überwiegend mit Namen und Fotografien versehen und sollten an diejenigen erinnern, die infolge der deutschen Teilung zu Tode gekommen waren. Im Juli 2005 wurde das Areal von der Polizei zwangsgeräumt, da Hildebrandt die Pacht für das Grundstück nicht mehr bezahlen konnte. In der publizistischen Debatte, die diese Aktion begleitete, ging es zunächst einmal um die genaue Zahl der Mauertoten und um angemessene Formen des Gedenkens an die Opfer der deutschen Teilung, mittelbar aber auch um die historische Bewertung der Rolle Berlins im Kalten Krieg. Der Streit über die Umsetzung eines fachlich fundierten Erinnerungskonzepts am Checkpoint Charlie und somit über die Deutungshoheit im Hinblick auf den Kalten Krieg entbrannte zwischen Pressevertretern unterschiedlicher politischer Lager, der Berliner Landespolitik und engagierten Wissenschaftlern – ein klassischer geschichtspolitischer Konflikt.
Während die soziale Struktur und die Funktion der ostdeutschen Führungsgruppen bis hinein in ihre sektoralen Gliederungen inzwischen mit einer Reihe von Fallstudien zumindest im Ansatz beschrieben und analysiert wurden, liegen für den Bereich der Motivation, der Selbst- und Fremdwahmehmung sowie der mentalen Disposition der Eliten im „Arbeiterund Bauemstaat“ kaum gesicherte Befunde vor. Dies gilt, obwohl dieses Problem und Themenfeld inzwischen als ein Desiderat der zeitgeschichtlichen DDR-Forschung erkannt, diskutiert und methodisch problematisiert wurde.
Sind der Rechtsextremismus und die Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern auf historische Ursachen zurückzuführen, die in der autoritär verfaßten DDR-Gesellschaft und deren defizitärer Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu suchen sind? Diese Frage liegt nicht erst seit dem Sommer 2000 in der Luft, als sich die Medien mit einer wahren Sintflut an Berichten und Deutungsversuchen des Themas annahmen. Sie bescheinigten der längst verblichenen DDR erneut eine weit über ihr Ende hinausreichende gesellschaftliche Wirkungsmacht. Der folgende Beitrag beschreibt mögliche Problemfelder und Fragestellungen für einen historiographischen Forschungsansatz, der die DDR-spezifischen Wurzeln des ostdeutschen Rechtsextremismus in den Blick nimmt. Als Voraussetzung dafür werden zunächst die verschiedenen Phasen der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion über die Ursachen der rechten Gewalt in der späten DDR bzw. in den neuen Bundesländern einer kritischen Bilanz unterzogen und die mit ihnen verbundenen politischen Instrumentalisierungen des Themas aufgezeigt. Plädiert wird für einen methodischen Zugriff, der den ostdeutschen Rechtsextremismus als Ergebnis eines Transformationsprozesses begreift, in dem die spezifischen aus der Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur der DDR resultierenden Konditionierungen revitalisiert werden. Letztere werden anhand der Krisensymptome des DDR-Antifaschismus in den achtziger Jahren diskutiert. In den Mittelpunkt des Interesses rückt dabei insbesondere die Frage nach dem mentalen Transfers zwischen den verschiedenen Generationen der DDR-Bevölkerung vor und nach 1989.
Die Gründung der DDR im Jahre 1949 und die Konsolidierung der von der SED im Einklang mit der sowjetischen Besatzungsmacht etablierten gesellschaftspolitischen Ordnung markieren einen folgenreichen Transformationsprozeß hinsichtlich des Umgangs mit der Widerstandstradition und der Erfahrung nationalsozialistischer Verfolgung. Mit der Herausbildung des „Antifaschismus“ als für die DDR identitätsbestimmendem und staatstragendem ideologischen Konstrukt kulminiert die bereits in den Vorjahren in der SBZ einsetzende Vereinnahmung einer ursprünglich breitgefächerten und weitestgehend spontanen Erinnerungskultur verschiedener Opfer- und Verfolgtengruppen durch die parteipolitischen Sonderinteressen der KPD/SED. Die nach 1945 in den verschiedensten politischen Lagern favorisierten Vision eines antifaschistischen-demokratischen Neubeginns wurde zu einer bloßen Formel für eine Neuordnung nach sowjetischem Muster ausgedünnt, mit der die noch vorhandenen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft abgebaut und die Chance einer plural verfaßten Ordnung aufgekündigt wurde. Für das sehr differenzierte und hinsichtlich seiner Neuordnungsvorstellungen oft diffuse nichtkommunistische Spektrum der Verfolgten des NS-Regimes lief dies auf die Alternative hinaus, sich entweder unter die kommunistische Hegemonie unterzuordnen oder den Ausstieg aus dem politischen Projekt DDR zu vollziehen. Dabei ist allerdings die Zäsur des Jahres 1949 nicht absolut, vielmehr handelt es sich bei den genannten Entwicklungen um einen längerfristigen Übergang mit deutlichen Phasenverschiebungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Waren die machtpolitischen Prämissen bereits 1947/48 in der SBZ weitgehend geklärt, hielt in anderen Bereichen wie etwa der Kultur, Kunst und Wissenschaft oder auf dem Feld der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus der Eindruck von offenen und wandelbaren Strukturen länger an - wie anders ließe sich die Attraktivität der frühen DDR für ein breites Spektrum emigrierter Intellektueller erklären.
Die Geschichte der deutschen Teilung war auch die Geschichte einer geteilten Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit und den Widerstand gegen das NS-Regime. Beide deutsche Staaten verstanden sich als politische Alternative zur nationalsozialistischen Diktatur - die Bundesrepublik als parlamentarische Demokratie westlicher Prägung und die DDR als „antifaschistischer“ Staat - und entwickelten ausgehend von ihrer jeweiligen gesellschaftspolitischen Ordnung unterschiedliche Strategien des Umgangs mit ihrer gemeinsamen Vorgeschichte von 1933 bis 1945. Als Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“ wurden die DDR und die Bundesrepublik bei ihren Bemühungen um die Wiedergewinnung internationaler Akzeptanz zu Konkurrenten auf dem Gebiet der Vergangenheitsaufarbeitung. In den Propagandagefechten des Kalten Krieges gehörte die NS-Vergangenheit zu den zentralen Feldern der deutsch-deutschen Auseinandersetzung, bei der sich sowohl die DDR - als Gesellschaft, in der dem Nationalsozialismus die „ökonomischen Wurzeln“ entrissen seien - wie auch die Bundesrepublik - als antitotalitäre Alternative zu jeglicher Form der Diktatur - als das bessere und einzig legitime Deutschland nach Hitler zu profilieren suchten. Die Auseinandersetzung um die Vergangenheit war somit Teil der Beziehungs- und Perzeptionsgeschichte beider deutscher Staaten, woraus sich beträchtliche Wechselwirkungseffekte und spiegelbildliche Polarisierungen u. a. bei geschichtspolitischen Positionen ergaben. Die Notwendigkeit, die materiellen und geistigen Folgen der NS-Herrschaft und des verlorenen Krieges zu beseitigen, die Verpflichtung zur juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen, die Erwartungen der Opfer und des Auslandes auf Wiedergutmachung sowie die Aufgabe der gesellschaftlichen Integration der großen Mehrheit ehemaliger Anhänger des NS-Regimes stellten die DDR und die Bundesrepublik vor ähnliche Herausforderangen. In beiden Gesellschaften wurde der Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand zum Gegenstand innenpolitischer Auseinandersetzungen und des Generationenkonflikts - in der Bundesrepublik u. a. mit den Wiedergutmachungs- und Verjährungsdebatten, der Studentenbewegung von 1968, den alltags- und erfahrangsgeschichtlichen Initiativen der achtziger Jahre und dem Historikerstreit, in der DDR - weit weniger öffentlich wahrnehmbar - mit der Auflösung der WN, dem 17. Juni 1953, den Konflikten zwischen verschiedenen Richtungen der Widerstands- und Emigrantentradition, dem von Literatur und Kunst aufgeworfenen Thema Antifaschismus und Verdrängung oder der von der DDR-Opposition in den Achtzigern ausgehenden Kritik an antifaschistischen Ritualen und hausgemachten rechtsextremen Tendenzen.
Der Computer und die mit ihm verbundenen Informations- und Kommunikationstechnologien sind spätestens mit dem Aufkommen der Mikroelektronik Anfang der 1970er-Jahre zu entscheidenden Faktoren der Entwicklung moderner Industriegesellschaften geworden. Im Verlauf der 1980er-Jahre diffundierten Computer und neue Medien in nahezu alle Bereiche der Gesellschaft – angefangen von der Arbeit über die Formen der sozialen Kommunikation, die politische Kultur, die Bildung, den Konsum und die Freizeit bis hinein in die individuellen Lebensstile. Der „Informationsgesellschaft“ (ein Begriff, der nicht zufällig ab etwa 1980 populär wurde) hat die zeithistorische Forschung bislang eher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Mit Blick auf die wichtigsten Phasen und Zäsuren diskutiert der Aufsatz mögliche Perspektiven einer Zeitgeschichte der Informationsgesellschaft. Plädiert wird dabei für eine integrierende gesellschaftsgeschichtliche Analyse des mit dem Computer verbundenen Wandels sowie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontexte.
Anlässlich des 80. Geburtstages von Franz Kafka hatte vom 27. bis 29. Mai 1963 im barocken Schloss von Liblice die inzwischen legendäre Kafka-Konferenz unter der Federführung von Eduard Goldstücker und seiner Prager Germanistenkollegen stattgefunden. Ein Jahr danach, im Sommer 1964 berichtete der Budapester Korrespondent der Associated Press über die kulturpolitische Situation in den osteuropäischen Ländern. Unter dem Titel „Wer wird sich schon vor Kafka fürchten?“ diagnostizierte der Autor ein „kulturpolitisches Tauwetter“, das insbesondere in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen zu spüren sei.
Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatement von Ute Daniel bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Winter- und Sommersemester 2021/22 im online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.
Für eine junge Generation, die an der Schwelle zu einem neuen Millennium ins Erwachsenenalter eingetreten ist, dürfte es mittlerweile kaum noch nachzuvollziehen sein, wie fraglos das tägliche Leben weiter Teile der Bevölkerung in den frühen Jahren der Bundesrepublik Deutschland noch mit einer religiösen Praxis verflochten war, die maßgeblich von den großen Volkskirchen geprägt und geleitet wurde. Konfessionslosigkeit war in den meisten Regionen Westdeutschlands ein misstrauisch beäugtes Ausnahmephänomen, kirchliche Riten von der Geburt bis zur Beerdigung weithin ebenso selbstverständlich wie in vielen Bundesländern eine konfessionell geprägte staatliche Volkschule, die von der großen Mehrheit der Kinder und Jugendlichen besucht wurde. Die Konfession strukturierte auch das politische Leben in erheblichem Maße, und namentlich die katholische Kirche zögerte nicht, den zahlreichen Gläubigen an den Wahlsonntagen deutlich zu machen, wo das Kreuzchen zu setzen war.
Keine Stunde Null. Sozialwissenschaftliche Expertise und die amerikanischen Lehren des Luftkrieges
(2020)
Alle Kriegsparteien bombardierten im Zweiten Weltkrieg Ziele, die lange Zeit als zivil gegolten hatten. Diese sogenannten strategischen Bombardierungen wurden im Auftrag der US-Regierung ab dem Kriegsende mit einem Stab von über 1.000 Mitarbeitern in Deutschland und Japan aufwendig evaluiert (United States Strategic Bombing Survey, USSBS). Mithilfe ambitionierter Sozialwissenschaftler gelang es der jungen US Air Force, den strategischen Luftkrieg als militärisch und psychologisch entscheidend darzustellen, und so taten sich für die Luftkriegsexperten auch nach 1945 attraktive neue Beschäftigungsfelder auf. Die Wissenschaftler argumentierten, sie seien in der Lage, methodisch abgesichert einen schnellen und vermeintlich »sauberen« Krieg aus der Luft zu planen. Der Aufsatz stellt die bisher kaum erforschten Logiken und Folgen dieser Kooperation sowie die behaupteten Lehren des Weltkrieges für den Korea- und den Vietnamkrieg dar. Damit hinterfragt er das gängige Verständnis einer radikalen Zäsur, die der erste Einsatz der Atombombe mit sich gebracht habe, und plädiert für einen neuen Blick auf die Militär-, Gewalt- und Wissensgeschichte des »Kalten Krieges«.
Jeder Kontinent, jedes Land hat seine eigenen Schwerpunkte umwelthistorischer Forschung, die sich aus der Quellenlage, den Forschungstraditionen und dem jeweiligen Charakter der Umwelt ergeben. Die amerikanische Forschung leistete für die Umweltgeschichte Pionierarbeit. Seit über vier Jahrzehnten geben ihre Werke wichtige Impulse für die Entwicklung dieses Teilgebiets der Geschichtswissenschaft in anderen Regionen der Welt. Dies gilt auch für China, das zwar auf eine jahrhundertealte Tradition staatlichen Umweltmanagements zurückblickt, wo sich eine umwelthistorische Forschung aber noch in der Aufbauphase befindet. Zur fachlichen Spezialisierung kam es erst, als sich die realen Umweltprobleme nicht mehr leugnen ließen und die Staatsführung die Bedeutung von Umweltpolitik erkannte. Chinas Historiker wandten sich Umweltfragen zu einem Zeitpunkt zu, als sich das Land verstärkt in globale Strukturen integrierte und auch auf wissenschaftlicher Ebene zunehmend globalgeschichtliche Fragen diskutiert wurden. Anders als in der Umweltgeschichte gab es bei der Globalgeschichte einen Vorläufer: eine bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Ansätzen erkennbare Weltgeschichtsschreibung, die sich allerdings auf die Beziehungen zwischen und den Vergleich von Nationalstaaten beschränkte. Wichtige Impulse für die Weiterentwicklung zur Globalgeschichte erfolgten – wie bei der Umweltgeschichte – erst im Kontext von Chinas Globalisierung am Ende des 20. Jahrhunderts.
Modern Societies and Collective Violence: The Framework of Interdisciplinary Genocide Studies
(2005)
If discussions on the topicality of research regarding processes of state violence and genocide arc still necessary today, does this not imply that we have failed with respect to a decisive challenge raised by National Socialism, namely the imperative to ensure that such atrocities are not repeated, the commitment to a "never again"?
Wandel der Sicherheitskultur
(2010)
Mehr als 65 Jahre nach den Atombombenabwürfen auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki haben wir uns an das gewöhnt, was wir gemeinhin als das „nukleare Tabu“ bezeichnen. Kernwaffen, so lautet seit dem Ost-West-Konflikt das Mantra, sind politische Waffen, die der Abschreckung dienen, jedoch nicht eingesetzt werden. Doch können wir uns wirklich so sicher sein? Wissen wir überhaupt, ob Abschreckung im Kalten Krieg funktioniert hat, und wenn ja, war nicht auch sehr viel Glück im Spiel?
In den 1990er-Jahren ist das Interesse am Ersten Weltkrieg nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch seitens populärer Geschichtsdarstellungen enorm gestiegen – ein Trend, der bis in die jüngste Vergangenheit angehalten hat. So erlebte das Jahr 2014 eine Vielzahl von Publikationen, Diskussionen, Ausstellungen und Fernsehsendungen zum Thema. Dabei fällt es auch Fachleuten schwer, angesichts des historischen Groß- und Medienereignisses die Übersicht zu behalten. Um diesem mannigfaltigen medialen Angebot ein wissenschaftlich fundiertes Überblicksportal an die Seite zu stellen, wurde im Oktober 2014 die Website »1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War« freigeschaltet, die seither stetig erweitert wird. Um es vorwegzunehmen: Sie besticht durch eine Fülle an erhellenden und thematisch neuen Artikeln zum Ersten Weltkrieg. Mit einer dezidiert globalen Perspektive und verschiedenen Zugriffen (inhaltlich, zeitlich, regional) bietet sie nicht nur gezielte Rechercheoptionen, sondern lädt bewusst zum Stöbern und Lesen ein. Dabei weist das Portal eine sinnvolle und nachvollziehbare Systematik auf.
After a seven-year period of military dictatorship and following the reestablishment of parliamentary democracy in 1974, historical studies have been a continuously developing field in Greece. Similarly as in Spain and Portugal at much the same time, archives became accessible for academic historians. The general public’s expectations about the establishment of historical ‘truth’ concerning the recent past were pressing.1 It is against this backdrop that we propose to review the changing conditions of historical research and especially the challenges involved in gaining access to primary sources, in particular those related to ‘national matters’. We will try to show the ways in which the particularities of the Greek case have to do with the history of civil rights in the country in the twentieth century, both during the interwar years and – more dramatically – during the Cold War period.
Nach einer langen Unterbrechung kehrte die „Geschichte Europas“ im Zweiten Weltkrieg mit Macht auf die Agenda der internationalen Geschichtsschreibung zurück. Erste Anzeichen hierfür hatte es bereits in der krisenhaften Zuspitzung der 1930er-Jahre gegeben. Nicht aber die Historiographie, sondern die Propaganda im weitesten Sinne bestimmte zunächst die Richtung. Als deutungsmächtig erwies sich in Großbritannien insbesondere die Stimme Robert Vansittarts, des ehemaligen beamteten Unterstaatssekretärs im britischen Außenministerium, der seit 1940 über den britischen Rundfunk ein düsteres Gesamtbild der deutschen Vergangenheit zeichnete. In sechs Radiosendungen mit dem Titel „Black Record“ listete er eine Geschichte der deutschen Aggressionen seit den Tagen des Tacitus auf.
Manche Bücher sollte man besser vom Ende her lesen, lässt sich doch so ihr archimedischer Fluchtpunkt rasch entdecken. Gewiss, für Kriminalromane empfiehlt sich eine solche Lesart nicht, wohl aber für diesen Essay-Band Hans Magnus Enzensbergers. Darin schließt der Autor seine Reiseberichte aus sieben Ländern mit einem »Epilog« ab, in dem ein fiktiver amerikanischer Journalist namens Timothy Taylor im Jahr 2006 den ebenfalls fiktiven finnischen EG-Präsidenten Erkki Rintala interviewt, der von seinem Amt freiwillig zurückgetreten ist, nachdem er wegen seiner Erfahrungen in den Korridoren der Brüsseler Politik zu einem Gegner der europäischen Integration geworden war.
Obwohl der Begriff „Erinnerungskultur” erst seit den 1990er-Jahren Einzug in die Wissenschaftssprache gefunden hat, ist er inzwischen ein Leitbegriff der modernen Kulturgeschichtsforschung. Während er in einem engen Begriffsverständnis als lockerer Sammelbegriff „für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit – mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke” definiert wird, erscheint es aufgrund der Forschungsentwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte insgesamt sinnvoller, „Erinnerungskultur” als einen formalen Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse zu verstehen, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur.
(Version 1.0, siehe auch Version 2.0) Obwohl der Begriff „Erinnerungskultur" erst seit den 1990er-Jahren Einzug in die Wissenschaftssprache gefunden hat, ist er inzwischen ein Leitbegriff der modernen Kulturgeschichtsforschung.[1] Während er in einem engen Begriffsverständnis als lockerer Sammelbegriff „für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit – mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke" definiert wird,[2] erscheint es aufgrund der Forschungsentwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte insgesamt sinnvoller, „Erinnerungskultur" als einen formalen Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse zu verstehen, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur. Der Begriff umschließt mithin neben Formen des ahistorischen oder sogar antihistorischen kollektiven Gedächtnisses alle anderen Repräsentationsmodi von Geschichte, darunter den geschichtswissenschaftlichen Diskurs sowie die nur „privaten" Erinnerungen, jedenfalls soweit sie in der Öffentlichkeit Spuren hinterlassen haben. Als Träger dieser Kultur treten Individuen, soziale Gruppen oder sogar Nationen in Erscheinung, teilweise in Übereinstimmung miteinander, teilweise aber auch in einem konfliktreichen Gegeneinander.
Albert Gehring, ein 1897 geborener Einwohner des Ortes Ditzingen, setzte in den 1920er- und 1930er-Jahren das Kleinstadtleben seiner schwäbischen Heimat ins Bild. Besonders häufig findet sich im Konvolut von rund 1.000 Glasplattennegativen das Motiv des Festumzuges und damit eines Elements von Festkultur, welches oft als die Grundform nationalsozialistischen Kultes und als erfolgreiches Mobilisierungsinstrument beschrieben worden ist. Gehrings Fotografien ermöglichen am lokalen Beispiel eine differenzierte Perspektive auf die Aushandlungs- und Aneignungsprozesse in der Praxis der Festumzüge. Haben sich die äußere Form der Umzüge, ihre Symbolik und Choreographie – also das, was sie zu vermitteln suchten – mit der nationalsozialistischen Machteroberung von 1933 verändert? Und ging mit diesem möglichen Wandel auch eine veränderte Visualisierung durch Albert Gehring einher? Im Fokus stehen damit fotografische Positionen zu der sich wandelnden Festpraxis des Umzuges: Die Ordnung des Bildes wird in ein Verhältnis zur Ordnung des Festes gesetzt, um Erkenntnisse über die Rolle von Fotografie in Prozessen von Mobilisierung und Partizipation an der Schwelle zur NS-Diktatur zu erlangen.
Die Transformationsprozesse im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts waren begleitet von einem tiefgehenden Wandel des Sicherheitsverständnisses. Das Vertrauen in die sicherheitsstiftende Funktion des Staates schwand, und neue Krisendiskurse entstanden. Der Aufsatz untersucht dies am Beispiel der NATO-Nachrüstung und der Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland um 1980. In der damaligen Auseinandersetzung spiegelt sich ein scharfer Streit über das Verständnis von Sicherheit. Darüber hinaus artikulierte sich in der Kritik der Friedensbewegung am System der nuklearen Abschreckung ein massives Unbehagen an jener technisch-industriellen Modernität, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert ausgeformt hatte. Daher ist die „nukleare Krise“ der Zeit um 1980 auch als eine Modernitätskrise zu verstehen. Absolute Sicherheit kann es in der Moderne nicht geben; sie bleibt ein letztlich unerreichbares Ziel – eine Utopie. Gleichwohl entzog der Protest der Friedensbewegung – nicht nur in der Bundesrepublik – der nuklearen Abschreckung ihre politische und moralische Legitimität. Trotz der 1983 durchgesetzten Nachrüstung war die frühere Akzeptanz der Abschreckung in der Endphase des Kalten Kriegs nicht wiederherzustellen.
Was ist Sicherheit und wie viel braucht ein Mensch davon, um sich in seiner Welt heimisch zu fühlen? Eckart Conze skizziert das rückwärtsgewandte Sicherheitsstreben in der Ära Adenauer, den optimistischen Glauben an die Sicherheit von Fortschritt und Wachstum in den sechziger und frühen siebziger Jahren, das folgende Jahrzehnt der „Inneren Sicherheit" und schließlich die internationale Sicherheitspolitik. Dabei entwickelt er ein neues Konzept einer „modernen Politikgeschichte" der Bundesrepublik Deutschland, die mit „Sicherheit" als analytischem Leitbegriff sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Ansätze ebenso zu integrieren vermag wie das Potential der Kulturgeschichte und der Geschichte transnationaler Beziehungen, von der in den letzten Jahren viele fruchtbare Ansätze ausgegangen sind.
Innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft hatte es Politikgeschichte - ein überaus schillernder, selten genau bestimmter Begriff - seit Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre schwer. Politikhistoriker genannt zu werden, am besten noch mit dem Etikett „neorankeanisch“ versehen, war eine Brandmarke, gleichbedeutend mit den Attributen konservativ, traditionell, positivistisch oder ereignisgeschichtlich, entscheidungs- und handlungsfixiert, um nur einige zu nennen. Gesellschaftshistoriker waren demgegenüber - zumindest sahen sie selbst das so - progressiv, emanzipatorisch, aufklärerisch, theoriebewusst, Struktur- und prozessorientiert. Man mag dieses Schwarz-Weiß-Bild für Schnee von gestern halten, für oberflächlich politisch oder ganz einfach für unseriös. Doch es hat für rund zwei Jahrzehnte seine Wirkung entfaltet, die vor allem darin bestand, dass das Denken in schlichten Lagerkategorien die interne Dialogfähigkeit der deutschen Geschichtswissenschaft zerstörte und zur Herausbildung und weitgehend unverbundenen Koexistenz zweier historiographischer Kulturen führte.
In der Auseinandersetzung über medienspezifische Vorgehensweisen gehört Sanders Portraitwerk zu den viel zitierten fotografischen Arbeiten. Mit der im Jahr 2002 von der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur herausgegebenen siebenbändigen Neuauflage des Werkes, das zunächst in einem Symposium und einem begleitenden Studienband eingehend reflektiert wurde, konnte eine neue Diskussionsgrundlage geschaffen werden.1 Beide Publikationen sowie die hierzu konzipierte Wanderausstellung, die zuletzt im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen war, argumentieren nah an Sanders überlieferten Gedanken zur Strukturierung und inhaltlichen Konzeption seines Portraitwerkes, das nachfolgend in der chronologischen Entwicklung erörtert wird.
Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Sebastian Conrad bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Winter- und Sommersemester 2021/22 im Online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.