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Wann ein Mensch als Flüchtling gilt, hängt maßgeblich von der juristischen Einordung des Aufnahmestaates ab. Wird vom Aufnahmestaat anerkannt, dass es sich um eine erzwungene Flucht handelt, beispielsweise durch Krieg oder Verfolgung, besitzt der Geflüchtete Anspruch auf Asyl. Wird dagegen festgestellt, dass ein mehr oder weniger freiwilliger Migrationsgrund vorliegt, besitzt der Staat das Recht auf Abweisung. Diese Unterscheidung ist höchst problematisch, da die Aufnahmestaaten politisch entscheiden, welcher Rechtsstatus an welche Person vergeben wird (Benhabib 2009; Krause 2016).
"Wir werden die Volkswagen weiter verbessern und die Produktion weiter rationalisieren.“ – So wird Heinrich Nordhoff, der „König von Wolfsburg“, 1967 im „Spiegel“ zitiert, als ein Vorstandsvorsitzender, der die Rationalisierung seines Unternehmens zwar fest in den Händen hielt, sich allerdings zugleich über die notwendige Beteiligung aller Hierarchieebenen in diesem betrieblichen Prozess bewusst war, was im Wort „wir“ seinen Ausdruck findet. Häufig wurde Rationalisierung im Betrieb auch in der Geschichtswissenschaft allerdings nur „von oben“ gedacht, da das Ziel der Effektivitätssteigerung eines Konzerns ausschließlich mit dessen Unternehmensleitung in Verbindung gebracht worden war. Daher erschienen die Arbeiter im Unternehmen meist als Objekte betrieblicher Umstrukturierungsprozesse. Darüber hinaus wurde oft ausschließlich der Widerstand ihrer Interessensvertretungen, wie Gewerkschaften, gegen unternehmerische Rationalisierungsmaßnahmen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung thematisiert.
Während des Kalten Krieges wurde in Millionen Wohnzimmern, Kasernen und Schulen gespielt: Klassische Unterhaltungsspiele wie Memory bzw. Merk-Fix, aber auch Spiele wie Fulda Gap oder Klassenkampf, die die Systemkonfrontation als Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse erleb- und simulierbar machten. Der Aufsatz betrachtet eine in der zeithistorischen Forschung und in den Cold War Studies bislang vernachlässigte Quellengattung, die gerade in den 1970er- und 1980er-Jahren für die populärkulturelle Vermittlung von Grundcharakteristika des Ost-West-Konflikts sehr bedeutsam war. Untersucht wird, wie sich Brett- und Computerspiele in die Wettkampflogik des Kalten Krieges einschrieben, inwiefern sie für die Systemkonfrontation auf beiden Seiten sinnbildend waren, nationale Spezifika aufwiesen oder aber als Foren der Gesellschaftskritik dienten. Deutlich wird auch, wo für die jeweiligen Obrigkeiten die Grenzen des »Spielbaren« lagen. Den eigenen Untergang als Handlungsmöglichkeit oder Dystopie zu erproben, erschien vielfach als moralisch und politisch bedenklich, weil die in Spielen entwickelten Szenarien womöglich den Blick auf die Realität verändern und Kritik verstärken konnten. Andererseits konnten die Spiele aber auch die Veralltäglichung des Kalten Krieges unterstützen: Sie bereiteten Wissen über militärische Sachverhalte auf und trugen zur Gewöhnung an das atomare Drohpotential bei.
Seit dem Ende der 1960er-Jahre lieferte der für seine Sofortbildkameras und -filme bekannte US-amerikanische Fotografiehersteller Polaroid Apparate nach Südafrika, die zur effizienten Erstellung von Ausweisdokumenten für die schwarze Bevölkerung dienen konnten. Besonders in der Firmenzentrale in Massachusetts löste dies den Protest schwarzer Mitarbeiter/innen aus (Polaroid Revolutionary Workers Movement, PRWM). Die Fallstudie untersucht einige Pamphlete und Flugblätter, die sich elaborierter Manipulationen von Fotografien und einer aufrüttelnden Bildsprache bedienten. Die Bewegung setzte das Medium Fotografie gegen den Sofortbildhersteller ein, um diesen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Der Streit um den US-amerikanischen Handel mit Südafrika gelangte bis ins Repräsentantenhaus. Die Darstellung der Bild- und Konfliktgeschichte ermöglicht es zugleich, einen breiteren Blick auf die Genese und die konkrete historische Situation der ausweisbasierten Kontrollmechanismen im Apartheidstaat Südafrika zu richten. Der tatsächliche Einsatz der Polaroid-Technik für Überwachungszwecke lässt sich nicht eindeutig ermitteln, und der Protest hatte insofern Erfolg, als das Unternehmen seine Lieferungen nach Südafrika Ende der 1970er-Jahre stoppte.
Katalysator wider Willen. Das Humboldt Forum in Berlin und die deutsche Kolonialvergangenheit
(2019)
Das neu-alte Schloss steht bereits. Die Baugerüste sind Ende 2018 gefallen und haben den Blick auf die rekonstruierten Barockfassaden an der Nord-, West- und Südseite freigegeben. Lediglich die moderne Ostfassade lässt von außen erkennen, dass es sich bei dem Gebäude auf dem Berliner Schlossplatz nicht wirklich um das alte Stadtschloss handelt, sondern um eine Teilrekonstruktion. In deren Innerem soll ab Ende 2019, im 250. Geburtsjahr Alexander von Humboldts, das Humboldt Forum etappenweise eröffnen. Neben Sonderausstellungsflächen, Veranstaltungsräumen und einer Ausstellung zur Geschichte des Ortes im Erdgeschoss sowie Ausstellungen des Landes Berlin und der Humboldt-Universität im ersten Obergeschoss wird es im zweiten und dritten Obergeschoss die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst beherbergen, die beide zu den Staatlichen Museen zu Berlin gehören und damit Teil der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sind.
»Alternative Fakten«, »erinnerungskulturelle Wenden«, Konflikte um Museen und Gedenkstätten, historische Sehnsüchte und Ressentiments – es nimmt nicht Wunder, dass der Aufstieg des Populismus1 überall in Europa auch von der Geschichtswissenschaft als Herausforderung verstanden wird. Das gilt in besonderem Maße für Deutschland, wo die politische Ordnung so sehr mit einer spezifischen Geschichtserfahrung und Geschichtsdeutung verbunden ist. Seit den Mobilisierungserfolgen von »Pegida« ab 2014 und der »Alternative für Deutschland« (AfD) ab 2015 steht der liberale Basiskonsens mit seiner um selbstkritische Reflexion und historische Verantwortung modellierten Erinnerungspolitik öffentlich unter Druck wie selten zuvor.
Blickt man vom Ufer der Motława in Gdańsk Richtung Norden, schiebt sich ein Bauwerk in den Blick, das sich deutlich von seiner Umgebung abhebt: ein schräg stehender langgestreckter Quader, der dem Anschein nach gleich umkippen wird. Statisch droht zwar kein Unglück, die Schieflage des Gebäudes verdeutlicht aber im übertragenen Sinn, wie es um das Innenleben des Bauwerkes steht. Es beherbergt das Museum des Zweiten Weltkrieges. Kein anderes Museum in Polen hat in den vergangenen Jahren mehr Kontroversen ausgelöst als das Projekt in Gdańsk. Obwohl in Polen zu Recht von einem Museumsboom gesprochen werden kann und es durchaus weitere Steine des Anstoßes gegeben hätte, ist nur der Streit um das Museum in Gdańsk so eskaliert.
Das Ziel der 1787 geschriebenen US-Verfassung sei es, so heißt es in der Präambel, »to form a more perfect union«. Damals war offen, ob das politische Experiment auf dem nordamerikanischen Kontinent erfolgreich sein oder ob es aufgrund von inneren und äußeren Konflikten schon bald scheitern würde. Entsprechend nannte das 1782 entstandene Great Seal of the United States, auf dem auch das bekannte Präsidentensiegel basiert, eine bis heute nicht völlig eingelöste Aufgabe: »E pluribus unum«, »Out of Many, One«, also aus vielen Einzelstaaten einen gemeinsamen Staat zu machen.
Museumspolitik – hier das Handeln des österreichischen Staates, der Länder und Kommunen zum Erhalt und zur Förderung der Museen – hat als Teil der Kulturpolitik in der öffentlichen Wahrnehmung keinen herausragenden Stellenwert. Dabei gab es in den letzten Jahren selbstverständlich zahlreiche museumspolitische Entscheidungen, die der sich wandelnden institutionellen Bedeutung von Museen Rechnung getragen und internationale Tendenzen zu Fragen des Sammelns, Bewahrens und Vermittelns von Kultur, Kunst und Natur nachvollzogen haben. Ein Resultat jüngerer Museumspolitik ist beispielsweise die neugestaltete Ausstellung in Mauthausen, dem ehemals größten Konzentrationslager des nationalsozialistischen Regimes auf österreichischem Boden, inklusive der Etablierung eines zeitgemäßen Bildungsprogramms.
Fritz Bauer und das Radio
(2019)
»Bauer ging nicht gerne in die Öffentlichkeit«, meinte Detlev Claussen rückblickend. Claussen, in den späten 1960er-Jahren Student in Frankfurt am Main, fügte seiner Charakterisierung des hessischen Generalstaatsanwalts jedoch sofort hinzu: »[…] aber die Verfolgung seiner Pflichten nötigte ihn dazu, öffentlich über die von ihm angeregten spektakulären Prozesse zu sprechen und in Hörfunk und Fernsehen, mit Aufsätzen und Vorträgen für eine Reformierung des Strafrechts zu kämpfen.« Der Soziologe Claussen ging noch weiter und urteilte: »Fritz Bauer musste contre coeur aus dem schützenden Schatten der Privatheit eines entre nous heraustreten, um seinen Auftrag zu erfüllen, nämlich Licht auf das Fortleben der Mörder unter uns zu werfen.« Die biographische Forschung unterstreicht das öffentliche Wirken des Juristen mittlerweile durch vielfältige Publikationen. Zu den Editionen von Vorträgen und kleineren Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften gesellen sich seit 2014 die Ausgaben der »Gespräche, Interviews und Reden« aus den Fernseharchiven und seit 2017 ein Hörbuch mit Tondokumenten unter dem Titel »Fritz Bauer. Sein Leben. Sein Denken. Sein Wirken«.
Der junge Historiker Lutz Niethammer (geb. 1939) wollte kein »68er« sein. Viele seiner Altersgenossen fanden den Weg in die Außerparlamentarische Opposition, doch Niethammer blieb distanziert – er wollte teilhaben, nicht teilnehmen. Zwar rezipierte er die marxistisch wie psychoanalytisch inspirierten Faschismustheorien, doch blieb es bei einem grundlegenden Wissenschaftsinteresse.2 Während sich viele andere der Studentenbewegung anschlossen und ihr Augenmerk auf den Antiimperialismus und Internationalismus legten, brachte Niethammer die Gefahr von rechts in den Blick. Schon früh wandte er sich gegen den Geschichtsrevisionismus: Seine Kritik an David L. Hoggans Buch »Der erzwungene Krieg« von 1961 bildete den Anfang einer längeren Auseinandersetzung. »Ich glaubte, wir sollten etwas gegen den Aufstieg des Neofaschismus tun«, erklärte Niethammer retrospektiv in seiner fragmentarisch-autobiographischen Essaysammlung »Ego-Histoire?«. Dies erschien ihm »näherliegender« (sic) als der hilflose Antikapitalismus der Linken.
Zu diesem Heft (1/2019)
(2019)
Anhand einer Anwaltsgruppe um Kurt Rosenfeld und Theodor Liebknecht wird gezeigt, wie sozialistische Anwälte Gerichtsverfahren sowie deren öffentliche Wahrnehmung mitprägten und im Sinne der eigenen politischen Bewegung nutzbar machen konnten. Wie setzten sie juristische Verfahrensmöglichkeiten für weitergehende Ziele ein? Nach Hinweisen zu den Ursprüngen dieses Anwaltstypus und den biographischen Hintergründen der Anwälte fokussiert der Beitrag das Fallbeispiel der Berliner »Spartakusprozesse«. In diesen Verfahren gegen (angebliche) Beteiligte am Januaraufstand 1919 klagten die untersuchten Anwälte die Rechtsprechung, die neue Regierung und die bewaffnete Macht an. Schon hier stellten sie die für die Weimarer Republik zentralen Fragen nach der Legitimität und Legalität der Regierung sowie nach einer alternativen Ordnung. Deutlich wird ferner der besondere Resonanzraum für politische Strafverteidigung in Umbruchszeiten und für Anwälte, die zugleich als Politiker öffentlichkeitswirksam arbeiteten. Sozialistische Anwälte können folglich nicht auf die Rolle von Kronzeugen gegen die einseitige Justiz der Weimarer Republik reduziert werden, sondern sie waren selbstbewusste Akteure, die zur Debatte um den rechtlichen und politischen Charakter der neuen Ordnung wesentlich beitrugen.
Fraenkels »Doppelstaat« als Rechtsgeschichte. Arbeitsrecht und Politik während der NS-Diktatur
(2019)
Ernst Fraenkels Buch »Der Doppelstaat«, 1941 in den USA erschienen und erst 1974 auf Deutsch publiziert, weist trotz seiner zentralen Stellung in der Forschung zur NS-Herrschaft eine lückenhafte Rezeptionsgeschichte auf. Der Aufsatz plädiert dafür, das Werk als Rechtsgeschichte zu verstehen. Am Beispiel des Arbeitsrechts wird aus einer praxeologischen, Fraenkel folgenden Perspektive deutlich gemacht, wie und warum sich die Grenzen zwischen Normen- und Maßnahmenstaat verschoben. Diese Kategorien bezeichnen nicht etwa den Gegensatz zwischen Staat und Partei; vielmehr ist genauer nach dynamischen Grenzüberschreitungen und Rechtsaneignungen zu fragen. Dargelegt wird, wie das privatrechtliche Gepräge des Arbeitsrechts staatlich durchdrungen wurde, sodass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer von Subjekten zu Objekten des Rechts der Arbeit wandelten. Möglich wurde dies nur durch das maßnahmenstaatliche Handeln sämtlicher Instanzen aus Verwaltung, Justiz und Polizei. »Treuhänder der Arbeit« und Gestapo dehnten das System der »Arbeitserziehungslager« immer weiter aus. Das Recht verlor sukzessive seine herrschaftsbeschränkende Funktion und geriet zu einem Herrschaftsmittel. Nicht mehr die Gerichte kontrollierten die Verwaltung, sondern die Behörden lenkten die Gerichts- und Rechtspraktiken.
Im März 1933 überfiel die SA das Amts- und Landgericht in Breslau. Jüdische Richter und Anwälte wurden, zum Teil unter schweren Misshandlungen, aus dem Gebäude getrieben und in den nächsten Tagen an der Ausübung ihrer Berufe gehindert. Die Justiz reagierte, indem sie ein sogenanntes Justitium verhängte: Für die Dauer von fünf Tagen wurden alle Termine abgesagt und alle Verfahren ausgesetzt. Im Rückblick stilisierten Zeitzeugen dieses Ereignis zum Streik. Der Beitrag skizziert zunächst die jahrhundertelange Rechtsgeschichte des Justitiums, das sich noch heute in der Zivilprozessordnung findet. Untersucht werden dann die näheren Umstände und Folgen der Breslauer Vorgänge von 1933. Dabei zeigt sich, dass der »Stillstand der Rechtspflege« tatsächlich kein Akt des Widerstandes gegen äußere Repression ist, sondern vielmehr ein juristischer Selbstbetrug: Auf die Gefahr von Rechtlosigkeit antwortet das Recht einfach mit dem Rekurs auf vorhandenes juristisches Vokabular, um eigene Handlungsfähigkeit zu suggerieren und selbst rohe Gewalt als Rechtszustand zu definieren.
Der Aufsatz analysiert die Kontakte zwischen der Hauptkommission zur Erforschung der deutschen bzw. »hitleristischen« Verbrechen in Polen und der bundesdeutschen Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Welche Dynamiken und Problemfelder entwickelte eine solche Kooperation vor dem Hintergrund des Kalten Krieges? Ein Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf dem jeweiligen Verständnis von Recht und den praktischen Herausforderungen. Da zwischen Polen und der Bundesrepublik bis 1970/72 keine direkten diplomatischen Beziehungen bestanden, war schon die Frage heikel, was »Rechtshilfe« bedeuten konnte. Der Dialog bewegte sich zwischen Kooperationswillen und beidseitiger Frustration, die aus konträren gesellschaftspolitischen und juristischen Voraussetzungen resultierte. Die polnische Hauptkommission war bereits 1945 gegründet worden, die Ludwigsburger Zentralstelle erst 1958. Für die justizielle Aufarbeitung der NS-Verbrechen im bilateralen Kontext bedurfte es mühevoller Verhandlungen. Vielfach berührten sie die Ebene der politischen Emotionen; dies zeigte sich etwa im situativ variierenden Gebrauch der deutschen Sprache durch die polnischen Vertreter. Die Intensität der Kommunikation über das Recht war bemerkenswert, auch jenseits der konkreten Ergebnisse für die Strafverfolgung.
Historiker und Historikerinnen, zumal jene der jüngeren deutschen Geschichte, beschäftigen sich am liebsten mit Recht, wenn es nicht weh tut. Der Boom der Menschenrechtshistoriographie steht dieser Diagnose ebensowenig entgegen wie die Flut an Behördengeschichten der NS-Zeit. Beide Trends bestätigen vielmehr den Befund, versteckt sich hinter den Etiketten doch nicht selten eine klassische Politikhistorie, oft in der Gestalt einer Gesetzgebungsgeschichte, aufgelockert durch und verwoben mit ideen- und diskurshistorischen Elementen. Dies erlaubt es einerseits, sich von der etablierten, meist juristisch definierten Rechtsgeschichte abzusetzen, der vorgeworfen wird, zu einer sterilen Dogmengeschichte erstarrt zu sein. Andererseits hält man an tradierten Arbeitsteilungen fest: Die lästige, wiewohl notwendige Pflichtaufgabe, sich in die technischen Einzelheiten des Rechts zu vertiefen, darf aus der eigenen Zuständigkeit entlassen werden. Entsprechend begrenzt bleibt der wissenschaftliche Austausch: Rechtswissenschaftler/innen lesen historiographische Arbeiten als leichte Lektüre für den Hintergrund; Historiker/innen rezipieren die Studien ihrer juristischen Kolleg/innen als sprödes Fußnotenfutter. Dass der fächerübergreifende Kontakt zuletzt vor allem durch regierungsseitig initiierte Projekte über die NS-Belastung einzelner Ministerien und Behörden vorangetrieben wurde, bestätigt diese Beobachtung eher, als dass sie widerlegt würde.
Für diese Debatte haben wir vier prominenten Vertreter*innen beider Disziplinen, der Rechts- und der Geschichtswissenschaft, schriftlich Fragen zur Situation, zum Potential und zu den Herausforderungen einer Zeitgeschichte des Rechts gestellt.
Wie verhält sich die Rechtsgeschichte zur »allgemeinen« Geschichtswissenschaft in Deutschland? Woher rührt das ausgeprägte disziplinäre Selbstbewusstsein der juristischen Rechtshistoriker*innen, und sollten Allgemeinhistoriker*innen dem etwas entgegensetzen? Worin sehen Sie die »großen Themen« und methodischen Trends der aktuellen rechtshistorischen Forschung, besonders der Juristischen Zeitgeschichte in der Bundesrepublik? Wieviel Theorie und Methodik braucht die Rechtsgeschichte? Wo sehen Sie Potential für neue Perspektiven, und inwieweit sollte eine zeitgemäße Rechtsgeschichte über den nationalen Rahmen hinausgehen? Welche Chancen, welche Grenzen sehen Sie für die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Jurist*innen und Historiker*innen?
Dass der Angeklagte dem Gerichtsreporter sympathisch gewesen wäre, kann man kaum behaupten. Der Delinquent, so notierte Ilja Ehrenburg während des ersten Nürnberger Prozesses, sei »ein übler Komödiant«, »gleicht einem alten Weib, und seine Kopfhörer sehen wie ein Kopftuch aus. Er spielt die Rolle des gutmütigen Onkels, der zufällig eine Million Menschen ermordet hat.« Als sowjetischer Berichterstatter entsprach es schwerlich Ehrenburgs Selbstverständnis, die Angeklagten in ein freundliches Licht zu setzen, und für den weithin – nicht zuletzt von sich selbst – als Anführer der verbliebenen Regimespitze wahrgenommenen Hermann Göring galt dies ganz besonders. Doch während andere Prozessbeobachter die nach Abschminken, Drogenentzug und Gewichtsverlust wiedergewonnene, maskuline Statur des Reichsmarschalls a.D. betonten, bemühte sich Ehrenburg nach Kräften, ein effeminiertes Bild zu zeichnen und Göring lächerlich zu machen. Das Kopftuch passte da ins Bild – irritierend war allenfalls, dass ausgerechnet ein Kopfhörer diesen Eindruck vermitteln sollte. Weder sah das im Nürnberger Justizpalast verwendete, metallene Gerät so aus, noch wollte es mit seiner Verwendung in Militär und Nachrichtentechnik so recht zum Anliegen des Journalisten passen.
Menschen schreiben, Menschen notieren. Papierne (heute auch digitale) Gedächtnisstützen halten fest, was sich im Kopf der oder des Schreibenden abspielt, um es für kurze oder längere Zeit zu sichern und zu übertragen. Termine, Kontakte und Adressen werden besonders oft verschriftlicht, da es sich um Informationen handelt, die präzise wiedergegeben werden müssen. Jeder einzelne Datensatz (eine Adresse, Telefonnummer, Ort und Zeit eines Treffens, Kontakte zu einer bestimmten Person) ist in sich eher trocken und schwer zu merken, die Verschriftlichung verwaltet also und assistiert unserer Erinnerung. An der Schnittstelle zwischen Alltagslogistik, Sozialleben und Erinnerung sind Adressbücher Hilfsmittel und Kulturtechnik zugleich. Das Adressbuch als Gegenstand dient im Sinne Bruno Latours der Delegation, da sein*e Benutzer*in Informationen auslagern kann. Dadurch werden Adressbücher fester Bestandteil von Netzwerken, welche ohne diese Niederschrift nicht aufrechtzuerhalten wären. Das lässt sich am Beispiel europäischer Netzwerke in London während des Zweiten Weltkrieges darlegen: anhand eines edierten »Who’s Who« und des persönlichen Adressbuches des Juristen René Cassin.
Auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges reagierten die Archivare des französischen Außenministeriums mit kühlem Realismus. Angesichts der Tatsache, dass man auf der anderen Seite des Rheins seit zwei Jahrzehnten gegen das »Diktat von Versailles« zu Feld gezogen war, lag es auf der Hand, dass die am Quai d’Orsay verwahrte Originalurkunde des Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 vor jedwedem Zugriff deutscher Eroberer in Sicherheit gebracht werden musste. Noch während der Mobilisierungsphase im September 1939 wurden darum ältere Pläne der Bestandssicherung aktiviert und die Pariser Friedensverträge zusammen mit anderen zentralen Unterlagen in geheime Depots an der Loire verlagert.
Cognac, Zigarren, Wackelpudding und wechselnde Damenbekanntschaften gehörten zur Standardausstattung der von 1986 bis 1998 in fünf Staffeln mit insgesamt 58 Folgen ausgestrahlten SFB/ARD-Anwaltsserie »Liebling Kreuzberg«. Mit einer Einschaltquote von bis zu 47 Prozent in der ersten Staffel1 verdankte die Serie ihren Erfolg nicht zuletzt dem Hauptdarsteller Manfred Krug (1937–2016). Als Anwalt der »kleinen Leute«, von seinem langjährigen Freund und Kollegen Jurek Becker als »einzige[r] Kleinbürger im deutschen Fernsehen mit Sexappeal« bezeichnet, verkörperte Krug den zuweilen raubeinigen, lebenserfahrenen und hilfsbereiten Rechtsanwalt Robert Liebling.
Der erste Flüchtlingsausweis der Welt war gleich ein Sondermodell: International ausgehandelt, wurde er im Völkerbund 1922 für staatenlose russische Flüchtlinge entwickelt, um eine neue Massenerscheinung im sortie de guerre zu kanalisieren – die von Krieg und Bürgerkrieg, Revolution und Vertreibungen ausgelösten Fluchtbewegungen. Dieses für ganz bestimmte Gruppen reservierte Identitätsdokument war unter Flüchtenden und Exilanten ebenso heiß begehrt wie auch verachtet, denn der während der 1920er-Jahre in mehr als 50 Ländern ausgestellte Pass-Ersatz war in seiner Rechtsqualität äußerst zwiespältig. Das Personendokument soll im Folgenden aus mehreren Forschungsperspektiven knapp beleuchtet werden, um zu einer Historisierung dieser ambivalenten Quelle der internationalen Flucht- und Asylgeschichte des 20. Jahrhunderts beizutragen. Um dieses zweidimensionale »Ding« der Rechtsgeschichte zum Sprechen zu bringen, sind auch Zugänge der Politik- und der Mediengeschichte sowie der Sozial- und der Alltagsgeschichte zu berücksichtigen.
Es gibt zahlreiche Gelegenheiten, um festzustellen, dass auch das eigene Selbst – entgegen jeglicher irrationalen Hoffnung – dem Alterungsprozess nicht entzogen ist. Eine Möglichkeit ist die Aufforderung, gut 25 Jahre nach seinem ersten Erscheinen ein Buch zu thematisieren, dessen Erstauflage in der eigenen akademischen Ausbildung nicht ganz unbedeutend war. Es war 1997, als mit Niklas Luhmanns »Gesellschaft der Gesellschaft« ein in mehrerlei Hinsicht schwergewichtiger Block mitten in die allgemeine Theoriediskussion hineinplumpste. Dass dieses Buch in der Erstausgabe mit schwarzem Einband daherkam, erschien mir damals durchaus folgerichtig und erinnerte an den gleichfarbigen Monolithen aus Stanley Kubricks »2001: A Space Odyssey«. Ähnlich Ehrfurcht gebietend gestaltete sich die Lektüre von Luhmanns Hauptwerk, vor allem dem Novizen in Sachen Systemtheorie, der ich damals war.
Umkämpfte Interaktionen. Flucht als Handlungszusammenhang in asymmetrischen Machtverhältnissen
(2018)
Seit 2015 macht sich eine Vielzahl von Männern, Frauen und Kindern in Italien auf den Weg, um die Alpen zu Fuß in Richtung Frankreich zu überqueren. Dazu reisen sie in der Regel über Turin mit dem Zug in das italienische Bardonecchia, warten dort den Einbruch der Dunkelheit ab und brechen anschließend zum Marsch über die Berge auf. Meist handelt es sich um Menschen aus Afrika, die bereits viele Wochen, wenn nicht Monate unterwegs sind und anders, als es die sogenannte Dublin-Verordnung vorschreibt, nicht in ihrem Ersteinreiseland Italien, sondern in Frankreich oder anderswo Fuß fassen bzw. Asyl beantragen wollen. Den strapaziösen und risikoreichen Weg über die Berge nehmen sie nicht zuletzt deshalb auf sich, weil sie der französischen Grenzpolizei (Police aux frontières, PAF) entgehen wollen, die seit den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris und St. Denis die französischen Staatsgrenzen erneut kontrolliert.
Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie Migration durch Statistik sozial relevant wird. Welche Kategorien kommen dabei zum Einsatz? Zuerst wird die historische und wissenssoziologische Perspektive erläutert. Im zweiten und dritten Teil werden historische Umbrüche in der Kategorisierung von Migration am Beispiel der amtlichen Statistik im Deutschen Kaiserreich und in der Bundesrepublik Deutschland skizziert. Der Fokus verschob sich von Migration als Ein- und Ausreisebewegung zu Migration als Alteritätszuschreibung (gestützt auf die Kategorie »Migrationshintergrund« ab 2005). Vor diesem Hintergrund wird im letzten Teil gezeigt, wie sich vergangene und aktuelle Kategorisierungen von Geflüchteten mit der Migrations- und Integrationssemantik verbanden bzw. verbinden. Über die Rekonstruktion der semantischen Brüche und Kontinuitäten hinaus dient die historische Kontextualisierung dem Ziel, heute gängige Kategorien für Migration und Flucht besser reflektieren zu können, die in der Wissenschaft, Politik und Verwaltung verwendet werden.
Während des Zweiten Weltkrieges flüchteten etwa 150.000 Europäer vor Krieg und Besatzung nach Großbritannien. Unter ihnen waren Angehörige der vormaligen europäischen Regierungen, Verwaltungen, politischen Eliten, Militärs und Königshäuser. Aus ihren Reihen bildeten sich Nationalkomitees und Exilregierungen, die die nationale Souveränität ihrer Länder trotz deutscher Besatzung aufrechterhalten und als Alliierte für einen gemeinsamen Sieg über Hitler eintreten wollten. Im Zentrum Londons lebten und arbeiteten sie in enger Nachbarschaft. Rechtlich betrachtet erreichten die Mitglieder der Exilregierungen London meist als individuelle Flüchtlinge; sie verließen die Stadt überwiegend als Angehörige anerkannter Regierungen. Eine genauere Untersuchung des »London Moment«, dieser formativen Phase europäischer Politik, bricht den vermeintlichen Gegensatz zwischen Macht und Ohnmacht auf und trägt so zur Reflexion über Flucht und Flüchtende bei. Der Aufsatz erläutert die Entwicklung des rechtlichen Status der Exilanten und folgt vier Fallbeispielen von der Ankunft zur Etablierung in London.
Das Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien 1947 zerteilte das Land nicht nur, sondern verursachte auch (jahrzehntelange) Migrationsbewegungen. In den Ostteil des neu gegründeten Pakistans migrierten urdusprachige Muslime, die der banglasprachigen Mehrheitsgesellschaft trotz gemeinsamer Religionszugehörigkeit überwiegend fremd gegenüberstanden. Als die Spannungen zwischen den ungleichen pakistanischen Landesteilen im Kampf um die Unabhängigkeit Ostpakistans eskalierten und daraus 1971 der neue Staat Bangladesch entstand, galten die Urdusprachigen als »Volksverräter« und verloren ihre Staatsbürgerschaft. Zum Teil bis heute leben sie mit ihren Nachkommen in mehr als 100 Flüchtlingscamps innerhalb des Landes. Der seit über 40 Jahren andauernde Wartezustand dieser Gruppe führt zu unterschiedlichen Strategien und Konflikten. Geschlecht, Bildung und besonders das Alter entscheiden über das Selbstverständnis der Campbewohner: Während sich die ältere Generation weiterhin für eine Repatriierung nach Pakistan einsetzt, fordern die Jüngeren verstärkt die bangladeschische Staatsbürgerschaft, die 2008 vom Obersten Gerichtshof des Landes formal anerkannt wurde. Dazwischen steht eine große Zahl Unentschlossener, die sich mit den Camps arrangiert hat. Der Aufsatz zeigt, dass weder Staatsangehörigkeit noch Staatenlosigkeit festgefügte Identitäten sind; Flüchtlingscamps sind zugleich Orte des Transits, der Vergemeinschaftung und der Stigmatisierung. Der praxeologische Ansatz des Diasporakonzepts bietet Zugang zu der perpetuierten migrantischen Situation der Urdusprachigen.
Bilder von Flüchtlingslagern rufen in der Regel emotionale Reaktionen, ja Bestürzung über die enormen Ausmaße dieser prekären Einrichtungen hervor. Manchmal führen sie gar zur Frage, ob und wie diese Orte überhaupt existieren können. Bei der Betrachtung von Fotos und der gesamten Bildwelt der Flüchtlingslager stellen sich spontan Assoziationen ein: materielle Not, eine offensichtlich nur provisorische Organisation der Räume, schwach ausgeprägte Spuren, die das Lager als Form von der natürlichen Umgebung und dem Boden kaum abheben. All dies vermittelt den Eindruck, dass morgen bereits verschwunden sein könnte, was uns heute vor Augen steht. Wir werden von einem Gefühl der Unwirklichkeit ergriffen, das mit der europäischen Geschichte verknüpft ist, mit den in Europa vorherrschenden Normen der Raumorganisation und den Lebensweisen des Westens. Dieses Gefühl legt eine bestimmte Einordnung nahe. Es mischt sich mit einer von den Themen Ausnahmezustand und Thanatopolitik geprägten Vorstellung des Lagers. Manche Sozialwissenschaftler/innen, Journalist/innen und Fotograf/innen haben sich von dieser stark vereinfachenden Repräsentation täuschen lassen und die Lager der Gegenwart vor dem Hintergrund der Shoah betrachtet. Global gesehen, ist die Wirklichkeit der Lager des 21. Jahrhunderts jedoch wesentlich komplexer und ambivalenter. Einerseits muss das Modell der Ausnahme relativiert werden durch die sowohl globale als auch lokale Kontextualisierung der Lager – selbst wenn sich die für die Sicherheit verantwortlichen oder humanitären Mächte gern von diesem Modell inspirieren lassen. Andererseits prallen im Alltag der Flüchtlingslager zwei unterschiedliche Zeitregime aufeinander, ereignet sich gleichsam ein Schock zwischen der Langsamkeit des Alltags der Ein-Gelagerten (encampés) und der von der humanitären Dringlichkeit bzw. der Brutalität der Sicherheitseinsätze verursachten Hektik und Betriebsamkeit (urgentisme). Aus diesem Grund sind Spannung und Ungewissheit stets Teil des Handelns, der Sinnzuschreibung solcher Orte und ihrer Zukunft.
Hoffnung auf Erfolg. Akteurszentrierte Handlungskonzepte in der Migrations- und Flüchtlingsforschung
(2018)
Die Herausforderung besteht somit in einer reflektierten Verbindung von historischer Wissens- und Migrationsforschung.[37] Darin könnte die Chance liegen, die oftmals eindimensionale Wahrnehmung von Migrant/innen als Opfer restriktiver Grenzregime aufzubrechen, denn sie blockiert tendenziell eher Erkenntnismöglichkeiten, als dass sie neue eröffnet. Wenn ein Konzept wie Eigen-Sinn dazu beitragen würde, die verengten Perspektiven auf Migrationsregime zu erweitern, wäre das nur zu begrüßen. Allerdings spricht die bisherige Inanspruchnahme des Begriffes dafür, doch eher auf andere handlungstheoretische Konzepte wie die Analyse von individuellen und kollektiven Handlungsspielräumen zurückzugreifen oder einer an die Arbeiten von de Certeau angelehnten und auf globale Migrationsbewegungen zugeschriebenen »Rhetorik des Wanderns« zu folgen. Eines zeichnet sich indes jetzt schon ab: Ohne eine stärkere und theoretisch durchdachte Berücksichtigung akteurszentrierter Konzepte wird die Migrationsforschung zentrale Aspekte ihres Gegenstandes weiterhin nur oberflächlich erfassen können.
Die Pyrenäen bilden eine natürliche Grenze zwischen Frankreich und Spanien, zwischen dem europäischen Hauptland und der iberischen Halbinsel. Dort, wo sie nicht in den Himmel ragen, in ihren Tälern und auf ihren Passhöhen sowie an den Meeren, waren die Pyrenäen auch stets eine tierra de paso, eine Transitzone. An ihren östlichen Ausläufern gibt es zwei bedeutende Übergänge. Einer liegt im sanften, flachen Tal von La Jonquera und quert die Landesgrenze bei Le Perthus. Der andere kreuzt an der Küste am Coll dels Belitres zwischen Cerbère (Frankreich) und Portbou (Spanien). Daneben und dazwischen durchziehen kleine Wege die Landschaft, offizielle und inoffizielle, Pfade für Schmuggler, Verfolgte, Fliehende. Jede Gegend und jede Route hat ihre Konjunktur. Die Hoch-Zeit dieser Transitlandschaft, als sich die europäische Kriegs- und Verfolgungsgeschichte des 20. Jahrhunderts an dieser Grenze kristallisierte, war zwischen dem Winter 1938/39, als der spanische Krieg mit dem Sieg Francisco Francos endete, und den Jahren 1940/41, bevor im Sommer 1941 die systematische Vernichtung der europäischen Juden begann.
Im Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe seines Buches »Exit, Voice, and Loyalty« stellte Albert O. Hirschman, US-amerikanischer Ökonom und Entwicklungstheoretiker, seine Konzepte »Abwanderung« (exit) und »Widerspruch« (voice) in einen doppelten historischen Zusammenhang: zum einen mit »dem Schicksal der Juden, die noch nach 1939 in Deutschland waren«, zum anderen mit seiner eigenen Flucht aus Deutschland in die USA, nach der »Machtergreifung« durch die Nationalsozialisten. 1933, im ersten Jahr seines Studiums, verließ der 1915 geborene Hirschman (damals noch: Otto-Albert Hirschmann) Berlin und flüchtete zunächst nach Paris. 1935/36 verbrachte er ein Jahr an der London School of Economics. Nach Paris zurückgekehrt, kämpfte er 1936 für kurze Zeit im Spanischen Bürgerkrieg gegen die Putschisten unter General Francisco Franco und ging dann nach Triest, wo er zwei Jahre später promoviert wurde. Aufgrund der italienischen Rasse-Gesetze reiste Hirschman 1938 wieder nach Frankreich aus. Zunächst Soldat in der französischen Armee, floh er wegen der Invasion der Wehrmacht 1940 nach Marseille, wo er für den US-Journalisten und Fluchthelfer Varian Fry arbeitete. Ende 1941 emigrierte er in die USA, bevor er 1943 als Soldat der amerikanischen Armee wieder nach Europa zurückkehrte. Nach dem Krieg arbeitete er zunächst als Ökonom im Auftrag der US-Bundesbank wie auch der Weltbank, später als Wissenschaftler an verschiedenen amerikanischen Universitäten. 2012 verstarb er im Alter von 97 Jahren.
Rückkehr oder Flucht? Als im Sommer und Herbst 1975 Hunderttausende aus Angola und Mosambik in Portugal eintrafen, schien die Not der Menschen offensichtlich und die Sache klar – doch sie war es nicht. Portugal hatte zwar 1960 die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ratifiziert. Die Regierung vertrat aber den Standpunkt, dass die Ankommenden, von denen viele Hals über Kopf aufgebrochen waren und nun mittelos und tief verunsichert in Notunterkünfte gebracht wurden, keine „Flüchtlinge“ seien.Rückkehr oder Flucht? Als im Sommer und Herbst 1975 Hunderttausende aus Angola und Mosambik in Portugal eintrafen, schien die Not der Menschen offensichtlich und die Sache klar – doch sie war es nicht. Portugal hatte zwar 1960 die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ratifiziert. Die Regierung vertrat aber den Standpunkt, dass die Ankommenden, von denen viele Hals über Kopf aufgebrochen waren und nun mittelos und tief verunsichert in Notunterkünfte gebracht wurden, keine „Flüchtlinge“ seien.
Mit dem Jahr 2015 ist in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit eine Figur auf die politische Bühne zurückgekehrt, um die es lange Zeit still geworden war: die Figur des Flüchtlings. Dabei war das Problem von Flucht und Vertreibung vor 2015 global betrachtet mitnichten weniger drängend. Allerdings griffen bis zu den Entwicklungen, die hierzulande als »Flüchtlingskrise« thematisiert wurden, die über die Jahre immer weiter ausgebauten Grenzsicherungsmaßnahmen der Europäischen Union, sodass von den weltweit vielen Millionen an Flüchtlingen nur wenige Europa überhaupt erreichten. Seit Jahrzehnten hatte die EU die Kontrollen der Zuwanderungsbewegungen verschärft, sodass die Wege nach Europa immer schwieriger zu bewältigen waren und es bis heute sind – mit dem Resultat, dass das Mittelmeer mittlerweile zur tödlichsten Grenze der Welt geworden ist. Hinzu kommt noch, dass sich die meisten Flüchtlinge weit entfernt vom europäischen Kontinent im globalen Süden auf halten. Sie fliehen aus Kriegs- und Krisengebieten meist in die unmittelbaren Nachbarländer. Zur Weiterwanderung fehlen ihnen oftmals die Mittel.
During the 1970s liberal social scientists and leftist activists discussed the possible decriminalization of pedophilia. The essay argues that, while rooted in the “sexual revolution,” this debate can only be comprehended if one considers customary practices of education. The essay explores the often violent situation in residential child homes and its critique by the New Left (“Heimkampagne”) and inquires into ideas about children and young persons’ own agency. The juxtaposition of physical violence and seemingly unproblematic sexuality made advocacy for pedophiliac contacts plausible, to the degree that some adolescents of the Nuremberg “Indianerkommune” even claimed right to these encounters.
Jenseits des Integrationsparadigmas? Aktuelle Konzepte und Ansätze in der Migrationsforschung
(2018)
Nicht erst seit dem »langen Sommer der Migration« 2015 spielen Flucht und Zuwanderung in Politik und Wissenschaft eine zentrale Rolle. Der Migrations-
forschung kommt dabei die Aufgabe zu, das über Migration zirkulierende Wissen – zu dem sie maßgeblich beiträgt – kritisch zu reflektieren. Wie auch in anderen Ländern zeichnete sich die Migrationsforschung in der Bundesrepublik lange Zeit durch ihre starke Policy-Nähe aus. Sie hat sich in der Bundesrepublik seit den frühen 1970er-Jahren dem »Ausländerproblem« zugewendet beziehungsweise es als solches mit konstituiert, und zwar in den Parametern der Politik, des Arbeits- und Wohnungsmarkts und sukzessive weiterer gesellschaftlicher Teilbereiche. Einflussreiche Migrationsforscherinnen und -forscher wie der Soziologe Hartmut Esser fungierten als »Berater und Stichwortgeber der Politik« und lieferten anwendungsorientiertes Wissen für die staatliche Steuerung und Regulierung von Migration. In diesem Sinne ist Michael Bommes und Dietrich Thränhardt zuzustimmen, wenn sie Migrationsforschung als »rather a part of the complex of problems that it claims to describe and explain« beschreiben. Die neueren Debatten über Migration in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften zielen daher verstärkt auf eine kritische Reflexion des gegenwärtigen Verständnisses von und des Umgangs mit Migration ab und beziehen auch die eigene Wissensproduktion in diese Reflexion ein.
»Man erinnert sich nicht, sondern man schreibt das Gedächtnis um, wie man die Geschichte umschreibt. Wie sollte man sich an den Durst erinnern?«, fragt sich der Schriftsteller, Fotograf und Regisseur Chris Marker (1921–2012) in seinem Filmessay »Sans Soleil« (1983). Damit weist er auf die Kluft zwischen Erfahrung und Erinnerung hin, die stets das Ergebnis reflexiver Prozesse ist. Er deutet des Weiteren einen Aspekt an, der für Historiker*innen von beträchtlicher Relevanz ist: den konstruktiven Charakter des Selbstzeugnisses. Nicht erst die historische Erzählung, sondern schon das Elementarteilchen der Geschichtsschreibung, das (Selbst-)Zeugnis, ist seit jeher das Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses der Neu- bzw. Umschreibung. Denn auf der einen Seite unterliegen Zeugnisse selektiven Wahrnehmungs- und Gedächtnismechanismen, auf der anderen ändern sie sich im Laufe der Zeit durch die Interaktion mit neu eingetretenen Erfahrungen und kollektiven Anstößen. Die negative Kehrseite dieser Verformbarkeit kommt bei der Manipulation und Instrumentalisierung von Zeugen durch Politik und Medien ans Licht, worüber Historiker*innen in den letzten Jahrzehnten intensiv reflektiert haben. Jedes (Selbst-)Zeugnis muss daher als eine Momentaufnahme in einem Prozess der Erinnerungsverarbeitung angesehen und entsprechend kritisch im Kontext seiner Entstehung und späteren Rezeption analysiert werden. Ohne Zeugnisse damit dem Bereich des Fiktiven zuzuordnen, bezweckt diese kritische Auseinandersetzung, ihnen die Qualität der Reinheit, Ursprünglichkeit und Beständigkeit, der Unmittelbarkeit des Zugangs zur Vergangenheit und der Individualität abzusprechen und sie in den Horizont sinnbildender Prozesse zurückzuführen.
»Hitler has won another victory at Bermuda […].« So kommentierte die Zeitung der zionistischen Arbeiterbewegung in den USA, »The Jewish Frontier«, die Bermuda-Konferenz vom April 1943. Was war passiert? Nach der Konferenz von Evian im Juli 1938 (und ihrem ernüchternden Ergebnis) war dies der zweite Versuch, mit einer internationalen Konferenz die Frage der jüdischen Flüchtlinge zu klären. Doch wie bereits 1938 am Genfer See, als sich außer der Dominikanischen Republik alle Teilnehmerstaaten weigerten, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, kam auch auf Bermuda keine Lösung zustande, obwohl an den mörderischen Absichten und Praktiken Nazi-Deutschlands 1943 kein Zweifel mehr bestand. Der World Jewish Congress (WJC) hatte für die Gesandten eine Informationsmappe zusammengestellt, die die nationalsozialistische Vernichtungspolitik darlegte und zum entschlossenen Handeln aufrief. Doch die Gesandten der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, die auf der britischen Inselgruppe im Nordatlantik zusammenkamen, um über die Aufnahme europäischer Juden zu verhandeln, begruben die Idee einer groß angelegten Rettungsaktion rasch. Beide Staaten begnügten sich mit Symbolpolitik und kleinteiligen Maßnahmen. Zwar wurde das Intergovernmental Committee on Refugees (ICR) reaktiviert, welches nach der Evian-Konferenz gegründet worden war und sich größtenteils als ineffektiv herausgestellt hatte. Doch blieb das ICR auch für den Rest des Krieges unbedeutend.
Es liegt gleichsam auf der Hand, dass Sicherheit immer auch eine räumliche Dimension aufweist – „Territorialisierungsdynamiken“, so stellte der Historiker Eckart Conze fest, „sind über weite Strecken Sicherheitsdynamiken.“ Schon der Geograph Robert Sack fasste Territorialität als ein Bestreben von Individuen oder Gruppen, im Raum auf Personen, Phänomene und Beziehungen ordnend einzuwirken. Durch die Begrenzung eines geographischen Gebiets werde versucht, eine regulative Kontrolle durchzusetzen. Umso mehr erstaunt daher, wie wenig dieser offensichtliche Wechselbezug zwischen Räumlichkeit und Sicherheit in der Theoriediskussion bislang reflektiert worden ist. Dieser Beitrag möchte aus historischer Perspektive einzelne Ansätze systematisch aufeinander beziehen. Er wird zunächst einen kurzen Überblick über die fragmentierte Theorielandschaft geben, um dann am Beispiel zentraler interdisziplinärer Forschungsfelder neue Perspektiven für einen integrierten Gesamtansatz zu erschließen.
Im Schatten der Geschichte. Die (vergessene) »Gewaltkommission« der Bundesregierung (1987–1990)
(2018)
Im Februar 2016 fand in der Alice Salomon Hochschule Berlin ein Symposion statt zum Thema »25 Jahre Gewaltprävention im vereinten Deutschland – Bestandsaufnahme und Perspektiven«, das von den Veranstaltern Stephan Voß und Erich Marks auf über 1.000 Seiten dokumentiert worden ist. Das Symposion hat gezeigt, dass der Gedanke der Gewaltprävention sich mittlerweile hochprofessionell auf zahllose Kontexte ausdifferenziert hat, in denen Menschen leben und handeln. »25 Jahre Gewaltprävention«, dieser Titel deutet auf den Januar 1990 hin, als der einstimmig verabschiedete Endbericht der »Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt« nach zweijähriger Arbeit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl übergeben wurde. Doch weder die fachliche Arbeit in der Kommission noch die Bereitschaft der politischen Akteure zur stärkeren Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse bei politischen Entscheidungen konnten verhindern, dass der eigentliche Anlass für die Einsetzung der Kommission in dem vorgelegten Bericht nur noch eine untergeordnete Rolle spielte. Durch die aktuelle politische Agenda des Jahres 1990 gerieten die Empfehlungen weitgehend aus dem Blick. Im Abstand von fast 30 Jahren lohnt es sich, den Kommissionsbericht als Quelle der bundesdeutschen Gewaltgeschichte und der Bemühungen um eine Verminderung von Gewalt zu lesen. Dies geschieht im Folgenden aus soziologischer Perspektive, jedoch in der Hoffnung, auch der Geschichtswissenschaft Impulse zur Beschäftigung mit solchen Dokumenten zu geben.
Gewalt in der Erziehung ist eine zentrale Untersuchungsebene, will man die Gewaltpotentiale einer Gesellschaft ergründen. Der Aufsatz beleuchtet zunächst die Bemühungen zur historischen Aufarbeitung der Missstände und Missbrauchstatbestände in der bundesdeutschen Heimerziehung: Welche Gewaltpraktiken waren hier anzutreffen, welche Erklärungsmuster wurden entwickelt, und welche Wandlungen sind seit den 1970er-Jahren eingetreten? Wer die Heimerziehung unter dem Gesichtspunkt der Gewaltabkehr beleuchten will, muss besonders auf die Nachfolgejahrzehnte schauen, in denen die Hilfen zur Erziehung grundlegend reformiert worden sind. Ein Blick auf die familiale Erziehungspraxis zeigt sodann, dass die Heimerziehung in puncto Gewalterfahrungen kein Sonderverhältnis darstellte. Während durch institutionelles und normatives Gegensteuern seit den 1970er-Jahren versucht wurde, der Gewalt in der Heimerziehung den Nährboden zu entziehen, bedurfte es für eine Abkehr von familialen Gewaltpraktiken in der Mehrheitsgesellschaft eines sehr viel längeren Wandlungsprozesses. Er ist in Deutschland auch mit der gesetzlichen Ächtung der körperlichen Züchtigung im Jahr 2000 noch nicht abgeschlossen.
Im deutschen Erinnern an »1945« hat sich das Bild vom Wehrmachtssoldaten eingeprägt, der das Maschinengewehr, mit dem er gerade noch geschossen hat, wegwirft und dann mit erhobenen Händen aus den Trümmern einer Häuserreihe auf die Straße tritt. Die Geste steht für einen Akt der unmittelbaren Gewaltabsage; sie visualisiert die Kapitulation. Zu den international populären Bildern vom Kriegsende 1945 zählen auch das inszenierte Hissen der Flagge auf Iwo Jima oder auf dem Reichstag, die scheinbar endlosen Flächen zerstörter und stiller Städte sowie die Bilder aus den befreiten Konzentrationslagern, deren Leichenberge und Überlebende ein Gewaltsystem zeigten, das erst mit vollständiger Niederlage des Deutschen Reichs zum Stillstand kam.
Friedensforschung und Gewalt. Zwischen entgrenzter Gewaltanalyse und epistemischer Gewaltblindheit
(2018)
In der Gegenwart werden geradezu eruptiv und medial befeuert »alte« Gewaltphänomene zu Tage gefördert: Die Kampagne »#MeToo« lässt ein soziales Gewaltproblem sichtbar werden, welches lange Jahre ahnungsvoll präsent war, ohne im Detail öffentlich-politisch oder auch durch die Friedensforschung angemessen adressiert worden zu sein. Gleichzeitig drohen die Machthaber von Atomwaffenstaaten unverblümt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen, während weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit autonome Waffensysteme entwickelt werden, die gar nicht mehr auf eine/n Gewalttäter*in angewiesen sind, sondern allein aufgrund von dafür entwickelten Algorithmen Gewalt anwenden und Menschen töten. Bei einem derart entgrenzten Gewaltverständnis hat die Friedensforschung alle Hände voll zu tun, die unterschiedlichen Gewaltphänomene der Gegenwart im Blick zu behalten, über deren Entstehungsbedingungen aufzuklären und Ansätze zu ihrer Eingrenzung oder Überwindung zu entwickeln. Doch verdeutlichen die genannten Beispiele, dass auch die Friedensforschung nicht ohne weiteres aus den »Denkcontainern« der jeweiligen Gegenwart aussteigen kann und deshalb nicht vor epistemischer Gewaltblindheit, der wissenschaftlichen Unaufmerksamkeit für gesellschaftlich bedeutsame Gewalterfahrungen, gefeit ist. Wie bearbeitet die Friedensforschung das Spannungsverhältnis zwischen entgrenzter Gewaltanalyse einerseits und epistemischer Gewaltblindheit andererseits? Welche Rolle spielt dabei ihre Abhängigkeit von staatlicher finanzieller Förderung? Welche Gewaltverhältnisse werden aus welchen Motiven untersucht – und welche nicht? Ein Blick in die Geschichte der bundesdeutschen Friedensforschung kann hier erhellend wirken.
»Im Zentrum dieser Untersuchung stehen Verhaltensweisen, die man als typisch für die abendländisch zivilisierten Menschen ansieht. Die Frage, die sie uns aufgeben, ist einfach genug. Die Menschen des Abendlandes haben sich nicht von jeher in der Weise verhalten, die wir heute als typisch für sie und als Kennzeichen des ›zivilisierten‹ Menschen anzusehen pflegen. […] Wie ging eigentlich diese Veränderung, diese ›Zivilisation‹ im Abendlande vor sich? Worin bestand sie? Und welches waren ihre Antriebe, ihre Ursachen oder Motoren?« (Bd. 1, S. LXXI-LXXII) So beginnt Norbert Elias’ 1939 erstmals veröffentlichte Arbeit »Über den Prozeß der Zivilisation«. Bis heute zählt sie zu den am meisten rezipierten Studien, die die deutschsprachige Soziologie je hervorgebracht hat. Während die Erstveröffentlichung – bedingt nicht zuletzt durch die politische Situation in Europa – kaum Beachtung fand, begann mit der ersten Taschenbuchausgabe von 1976 eine Debatte, die das Werk nicht nur über die Grenzen der Soziologie hinaus, sondern auch jenseits des Elfenbeinturms der Wissenschaften bekannt gemacht hat. Sucht man nach den Gründen für die anhaltende Popularität und Strahlkraft des Werks, lassen sich zwei Motive identifizieren. Zunächst ist zu konstatieren, dass Elias auf die von ihm gestellten Fragen eine empirisch gesättigte, theoretisch innovative und methodologisch anregende Antwort entwickelte. Ein Grund liegt also zweifellos in der wissenschaftlichen Originalität des Werks. Ausschlaggebend für den langfristigen Erfolg des Buches auch außerhalb der Soziologie und sogar außerhalb der Wissenschaft scheint jedoch ein zweiter Grund zu sein: Die Studie liefert eine historisch-soziologische Fundierung eines zentralen Elements der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften, indem sie die Vorstellung einer zunehmenden Gewaltlosigkeit der Moderne stützt. Während es sich beim ersten Grund um einen im engeren Sinne wissenschaftlichen handelt, stellt der zweite das Werk in den Horizont moderner Selbstbefragungs- und Selbstvergewisserungsdiskurse.
„Wife-beating is occurring every 18 seconds in the United States“, teilte das FBI 1978 mit und machte durch diesen Sprechakt deutlich, dass auch in amerikanischen Sicherheitskreisen inzwischen ein Bewusstsein für die Bedeutung häuslicher Gewalt entstanden war. Zugleich handelte es sich hierbei nicht nur um eines von vielen Verbrechen, sondern es war sogar, wie das FBI erkannte, „the largest single offense committed, and probably the least reported“. Hinzu kam, dass auch die Polizeiorgane selbst massiv von diesem Problem betroffen waren: Im Jahr 1976 standen 31% aller Angriffe auf Polizisten im Zusammenhang mit Fällen häuslicher Gewalt, „representing the greatest percentage of assaults on law enforcement officers“. Zudem starben 20% aller Beamten, die im Einsatz getötet wurden, nachdem sie einem Notruf im Zusammenhang mit domestic violence Folge geleistet hatten.
Jenseits von Brutalisierung oder Zivilisierung. Schule und Gewalt in der Bundesrepublik (1970–2000)
(2018)
Gewalt an Schulen wird regelmäßig skandalisiert und erscheint oftmals als Symptom einer allgemeinen Verrohung von Gesellschaft. Demgegenüber haben viele Historiker/innen gerade die Schule in das Zentrum einer Zivilisierungsgeschichte der westdeutschen Gesellschaft seit 1945 gestellt. Der Beitrag nimmt diesen Deutungswiderspruch zum Ausgangspunkt einer Analyse schulischer Gewalt zwischen den frühen 1970er-Jahren und der Jahrtausendwende. Vorgeschlagen wird eine neue Lesart, die den Gegensatz der konkurrierenden Thesen von Gewaltzunahme und Gewaltabnahme aufhebt und stattdessen die sich wandelnden Vorstellungen dessen untersucht, was »Gewalt« eigentlich sei und wie sie überwunden werden könne. Seit den 1970er-Jahren mehrten sich die Arten von Gewalt, die mit Schule in Verbindung gebracht wurden. Eine Sensibilisierung gegenüber sehr unterschiedlichen Gewaltphänomenen war verbunden mit neuen Ansprüchen an Schule und schulische Kommunikation – Erwartungen, die von Lehrer/innen und Eltern als Fortschritt erfahren werden konnten, aber auch als Zumutung und Überforderung.
Im allgemeinen Sprachgebrauch werden alle Beschriftungen und Zeichnungen, die beiläufig oder illegal angebracht werden, als Graffitis bezeichnet. Die Unterschiede im weiten Feld der Graffitis sind groß. Sie betreffen nicht nur die Gestaltung der Zeichen und deren Bedeutung, sondern auch die soziale Fundierung und Sinnhaftigkeit. Dies gilt für historische Graffitis, deren Spuren seit der Antike nachweisbar sind, und ebenso für das zeitgenössische Graffiti.
1918/19 – Krieg und Sieg, Zusammenbruch und Niederlage, Revolution und Reform, Frieden und Neuordnung, Bürgerkrieg und Gewalt, Hunger und Spanische Grippe und noch mehr. Die Elemente können analytisch getrennt werden, und viele von ihnen sind je für sich historisch analysiert worden. Sie sind interpretiert und narrativ integriert worden etwa in Revolutionsforschung, Kriegsgeschichte, Gewaltgeschichte, Friedensforschung, Krankheits- und Seuchengeschichte. Doch die historische Dynamik von 1918/19 ergab sich aus dem Ineinander der verschiedenen Elemente, und zwar in ganz unterschiedlichen Konstellationen. 1918/19 ist daher ein herausforderndes Jubiläum für eine konzeptionell auf Entdeckungsreisen befindliche Geschichtswissenschaft.
Der Massenmord an den europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg gehört heute zu den am gründlichsten erforschten Themen der Neueren Geschichte. Vor der Publikation von Raul Hilbergs Dissertation »The Destruction of the European Jews« aus dem Jahr 1954, die erst 1961 im Druck erschien und noch heute zu Recht als Standardwerk der Holocaust-Forschung gilt, fehlte es zwar nicht an Untersuchungen zum Thema, doch waren diese zunächst ganz überwiegend aus einer nationalgeschichtlichen Perspektive verfasst und deckten daher immer nur Teilbereiche des Gesamtphänomens ab. Zu den wenigen Ausnahmen im deutschen Sprachraum, die früh die politischen Aspekte des Völkermordes in Südosteuropa analysierten und damit nachdrücklich auf dessen europäische Dimension aufmerksam machten, gehörte eine heute vergessene juristische Doktorarbeit, die im akademischen Jahr 1957/58 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. angefertigt wurde.
Mit der Titelstory »The Cooking Craze« kommentierte das »Time Magazine« 1977 die Hingabe von US-Amerikaner_innen an eine neue Leidenschaft: das Kochen. »The Great American Love Affair is taking place in the kitchen«, behauptete der Artikel, in dem sich auch Craig Claiborne zu Wort meldete, seit 1957 Food Editor und Restaurantkritiker der »New York Times«. Er bekräftigte: »Gourmet cooking at home is a movement that has arrived.« Das Magazin diagnostizierte damit ein Massenphänomen: Seit den 1960er-Jahren eroberten das Selberkochen und ein verstärktes Interesse an Ernährung den Alltag vieler US-Amerikaner_innen. Der Artikel beschrieb einen Trend, der Frauen – und zunehmend auch Männer – vorwiegend aus der Mittel- und Oberschicht erfasste sowie einen Boom der Kochbuchliteratur mit sich brachte.
Die weltpolitische Umbruchsituation 1989/90 barg für die internationale Ordnung wie für die nationalen Sicherheitsarchitekturen große Herausforderungen. In vielen Staaten musste das Militär seine Rolle neu definieren. Zugleich hofften westliche Regierungen und Zivilgesellschaften auf eine neue (Welt-)Friedensordnung. In diesem Spannungsfeld mussten Antworten auf ein Grundproblem moderner Demokratien gefunden werden: Wie lassen sich Streitkräfte, Militäreinsätze und damit verbundene (Todes-)Opfer legitimieren? In Kanada, einem wichtigen Truppensteller von UN-Blauhelm-Einheiten schon seit den späten 1940er-Jahren, wurde dieser Ausgleich mit einem Rückgriff auf die eigene Peacekeeping-Tradition versucht. Anhand der Errichtung des weltweit ersten »Peacekeeping Monument« in der kanadischen Hauptstadt Ottawa lässt sich exemplarisch analysieren, wie die gesellschaftliche Auseinandersetzung um militärisches Traditionsverständnis und (postkoloniale) Identitätsentwicklung einer Gesellschaft verlief, die sich zunehmend als friedliebend verstand. Während das Denkmal und das nationale Peacekeeping-Narrativ weithin positive Resonanz finden, ist die tatsächliche kanadische Beteiligung an UN-Blauhelm-Einsätzen seit etwa 20 Jahren nur noch marginal.
Zu diesem Heft
(2018)
Das Ende des Kalten Krieges gilt gemeinhin als Auftakt des Engagements der Bundeswehr in aller Welt, beginnend mit den UN-Missionen in Somalia und Kambodscha 1992. Übersehen wird dabei, dass sich die Bundeswehr schon seit 1959 mit großem Aufwand an mindestens 135 Hilfsaktionen im Ausland beteiligt hatte – auf dem Gebiet der NATO, aber auch darüber hinaus, wie etwa in Äthiopien, Bangladesch oder Peru. Der Beitrag fragt nach den Gründen für den bemerkenswerten Einsatz und stellt dar, welche Logik hinter dieser Beteiligung stand. Die Bundeswehr selbst betonte als zentrales Motiv den Dienst an der Menschlichkeit. Aus einer militärisch-operationellen Perspektive wird aber deutlich, dass die Hilfsaktionen attraktiv waren, weil sie einem »echten Einsatz« glichen. Für die westdeutsche Armee im Kalten Krieg boten sie gute Möglichkeiten, ihre Bereitschaft zu testen, die eigenen Fähigkeiten auszubauen und Orientierung im Raum zu entwickeln. Da die Hilfsaktionen in der öffentlichen und in der rechtlichen Diskussion zugleich als selbstlos, gut und daher unproblematisch galten, erwies sich die humanitäre Hilfe als ein Vehikel, um die Bundeswehr für den Einsatz »out of area« vorzubereiten.
Protagonisten der führenden Parteien in Katalonien mussten sich in den vergangenen Monaten allerlei Vorwürfe gefallen lassen. Die spanische Zentralregierung bezeichnete ihre Beschlüsse als offenen Rechtsbruch und Verstoß gegen die Verfassung. In der spanischen und der internationalen Presse war die Rede von einer gefährlichen Spaltung des ganzen Landes, die durch die katalanische Politik ausgelöst werde. Eines kann man den dortigen Akteuren jedoch nicht vorwerfen: Geschichtsvergessenheit. Diejenigen Personen, die sich selbst zur Unabhängigkeitsbewegung rechnen oder für eine größere politische Selbstständigkeit eintreten, bedienen sich gezielt der Geschichte als Rechtfertigungsmittel und Argumentationsressource. Das ist erst Anfang 2018 wieder deutlich geworden, als der abgesetzte katalanische Präsident Carles Puigdemont bei einer Tagung in Dänemark vom langen Schatten Francos sprach und damit auf das Verhalten der spanischen konservativen Volkspartei Partido Popular im Katalonienkonflikt anspielte. Die Instrumentalisierung der Geschichte ist für regionalistische oder nationalistische Bewegungen ein typisches Vorgehen. Zugleich macht dieser Sachverhalt klar, dass ein Beitrag, der die aktuellen Ereignisse in Katalonien aus zeithistorischer Perspektive zu deuten versucht, möglicherweise selbst Gefahr läuft, solche Narrative zu reproduzieren oder zu stärken. Dass Geschichte in dem Konflikt als Mittel der Auseinandersetzung dient, stellt Historiker/innen vor die Herausforderung, die Argumente der Akteure einerseits zu prüfen und andererseits einen eigenen Erklärungsansatz zu liefern.
Kompromissgeschichte, serviert auf dem "Tablet". Das Haus der europäischen Geschichte in Brüssel
(2018)
Im Mai 2017 wurde im Brüsseler Leopoldpark, im Zentrum des Europaviertels, das Haus der europäischen Geschichte eröffnet. Zehn Jahre nach seiner Initiierung durch den damaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, den deutschen CDU-Politiker Hans-Gert Pöttering, erwartet den Besucher eine Ausstellung, die als geradezu idealtypische Inkarnation EU-europäischer Kompromisslogik gedeutet werden kann. Seit Pötterings Idee, einen Ort zu schaffen, »der unsere Erinnerung an die europäische Geschichte und das europäische Einigungswerk gemeinsam pflegt und zugleich offen ist für die weitere Gestaltung der Identität Europas durch alle jetzigen und künftigen Bürger der Europäischen Union«, wurde über die inhaltliche wie gestalterische Ausrichtung des »Hauses« (das sich bewusst nicht als »Museum« bezeichnet) heftig debattiert.
Roland Freislers sich überschlagende Stimme im Volksgerichtshof, die beklemmende Atmosphäre im Nürnberger Gerichtssaal während des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher, Adolf Eichmann vor Gericht in Jerusalem: Töne und Bilder einiger besonders bedeutender Strafprozesse sind der Öffentlichkeit vertraut. Doch entstanden die Ton- und Filmaufnahmen nur in Ausnahmefällen und bereits mit Blick auf die Öffentlichkeit. Dies gilt für die Schauprozesse der NS-Diktatur, die für die mediale Verbreitung inszeniert wurden, ebenso wie für die Nürnberger Prozesse, bei denen die Dokumentation zur Aufklärung über die Verbrechen und zur Demonstration rechtsstaatlicher Verfahren diente.
Der Begriff »Flucht« beschreibt, wie es im Editorial des vorliegenden Hefts heißt, einen »Handlungszusammenhang in asymmetrischen Machtverhältnissen«, aber auch verschiedene Räume und Orte, die verlassen, durchquert oder als Ziele angesteuert werden. Romane und andere literarische Texte zu diesem Thema können dazu beitragen, dem »Eigen-Sinn« mehr Gewicht zu verleihen, aber auch den Flüchtenden selbst und ihrer Wahrnehmung von Flucht, Vertreibung und Akzeptanz oder Ablehnung eine Stimme zu geben. Was genau ist aber der »Eigen-Sinn« der Literatur? Seit 2015 boomt eine unter dem Schlagwort »Flüchtlingsliteratur« verhandelte Prosa, die die Lebenswege von Flüchtenden und Geflüchteten unterschiedlicher Kulturen in den Blick nimmt. Doch welchen Mehr- und Eigenwert hat die Literatur? Sind die Dokumentationen, die zahlreichen journalistischen und wissenschaftlichen Beiträge nicht ausreichend?
Zu diesem Heft
(2017)
Mit der Wende des Zweiten Weltkrieges und dem beginnenden Rückzug der Wehrmacht entstand für die Menschen, die in den besetzten Gebieten mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten, eine neue Situation. Die Rückkehr der alten Machthaber, in deren Augen sie Landesverräter waren, würde ganz sicher Repressionen für sie bedeuten. Dabei war die Motivation zur Zusammenarbeit irrelevant, ja sogar der Grad der Freiwilligkeit. Kollaboration wird hier also im ursprünglichen Wortsinne von Zusammenarbeit gefasst. Ob diese erzwungen, aus Not, taktisch, opportunistisch oder aus Überzeugung erfolgte, oder gar als Kooperation zu kennzeichnen ist, spielte für die Angst vor Vergeltung keine primäre Rolle...
Als Malia Obama, die damals 11-jährige Tochter des US-amerikanischen Präsidenten, 2009 ihre Eltern mit ungeglättetem Haar nach Rom begleitete, ahnte sie wohl nicht, dass diese Frisur immer noch zum Politikum werden konnte. Einige Kommentatoren auf der konservativen Website »Free Republic« monierten, das Mädchen sei ungeeignet, die USA zu repräsentieren, und machten dies an ihrem Hairstyle fest. Selbst wenn solche Stimmen marginal blieben, rekurrierten sie auf bekannte Diskurse, die den Natural Hairstyle, auch bekannt unter dem Namen Afro, ähnlich wie schon in den 1950er- und 1960er-Jahren erneut mit Ungepflegtheit assoziierten...
»I have a confession to make, Chief, but please don’t get a shock.« Mit diesen Worten beginnt ein 40-seitiger, für die transnationale Geschichte des Nationalsozialismus bedeutsamer Bericht von Willy Brandt an Louis P. Lochner aus dem Jahr 1946. Nicht der spätere Bundeskanzler, sondern Willy Erwin Hermann Brandt, Geschäftsführer der Associated Press GmbH bis Ende 1941, beschrieb darin seinem früheren Vorgesetzten Lochner, dem Chef-Korrespondenten der Associated Press (AP) in Deutschland, die Zusammenarbeit von AP und NS-Regime in den Jahren 1942–1945. Der bisher in der Forschung unbekannte, auf schlechtem Durchdruckpapier verfasste Report in Lochners Nachlass in Madison/Wisconsin mutet wie ein Agenten-Thriller an: Demzufolge tauschte die amerikanische Nachrichtenagentur von 1942 bis zum Frühjahr 1945 mit einer geheimen Agentur von SS und Auswärtigem Amt in Berlin, dem »Büro Laux«, ständig Fotomaterial aus...
Spanien hat sich seit den 1950er-Jahren zu einem der wichtigsten Urlaubsziele in Europa entwickelt. Für die Regionen, in die Touristen aus der ganzen Welt reisten und noch heute reisen, bedeutete dies eine fundamentale Neugestaltung von sozialen Strukturen und Lebensgewohnheiten sowie auch von Landschaft und Umwelt. Der Aufsatz beleuchtet das Verhältnis zwischen Umwelt und Tourismus anhand der Beispiele Mallorca und Costa Brava – ausgehend von den Wahrnehmungen und Handlungen spanischer Akteure, die seit den frühen 1970er-Jahren mit dem Tourismus zusammenhängende Probleme diagnostizierten. Im Zentrum der Analyse stehen zunächst Politiker, die aus ökonomischen Gründen die Bedeutung von Umweltfragen für die langfristige Sicherung des Tourismus erkannten, sowie dann Naturschutzgruppen und Bürgerinitiativen, die sich gegen den weiteren Ausbau des Massentourismus engagierten. Die umweltpolitische Argumentation dieser Gruppen verband sich mit regionalen Identitätsentwürfen und Autonomieansprüchen; sie führte zu Teilerfolgen wie der Ausweisung von Schutzgebieten. Der Beitrag stützt sich auf Quellen aus spanischen Lokal- und Regionalarchiven, auf Material der Umweltinitiativen sowie auf Pressedebatten über den Tourismus.
Längst beerdigt und doch quicklebendig. Zur widersprüchlichen Geschichte der »autogerechten Stadt«
(2017)
Das Automobil steht gegenwärtig wieder einmal im Brennpunkt breiter gesellschaftlicher Debatten um Themen wie Elektromobilität, Car-Sharing, »autonomes Fahren« und verwandte Fragen. Darin kommt ein tiefer Umbruch der automobilen Kultur zum Ausdruck. Wie Konflikte um Fahrverbote in den Innenstädten, den Abriss automobiler Infrastrukturen oder die Erweiterung autofreier Zonen zeigen, erfasst dieser Umbruch auch und gerade die (großen) Städte. Vor dem Hintergrund eines sich andeutenden Abschieds von der Automobilität der Hochmoderne in den metropolitanen Räumen Europas und Nordamerikas gewinnt auch die retrospektive Reflexion über Entwicklungslinien und Wendepunkte der Raumentwicklung im Zeichen des Automobils in »seinem« 20. Jahrhundert stark an Interesse. Dies gilt umso mehr, als der epochemachende Leitbegriff der »autogerechten Stadt« die Genese und die Probleme städtischer Automobilität mehr verdeckt als freilegt.
1991, kurz vor der Abwicklung der DEFA, lief im Ost-Berliner Kino Babylon die nostalgische Filmreihe »Frühe Jahre damals in Berlin«. In einem Streifzug durch die DEFA-Geschichte gab es hier einige alte Berlin-Filme neu zu entdecken: Darunter war auch »Modell Bianka«, ein Paradebeispiel dafür, wie sehr sich die frühe DDR-Filmproduktion für die Arbeits- und Konsumwelt der Frau im Sozialismus interessierte. Besonders das Thema Mode erwies sich in dieser Milieustudie über die Bekleidungsindustrie der DDR als Stoff für heitere Unterhaltung...
»Geschmack klassifiziert«, schrieb Pierre Bourdieu (1930–2002) in seiner Studie »Die feinen Unterschiede«. Er klassifiziere nicht zuletzt den, der die Klassifikation vornehme (S. 25). Der französische Soziologe umriss damit eine zentrale These seiner Untersuchung. Schließlich ging es ihm darum zu zeigen, dass kulturelle Praktiken und ästhetische Vorlieben – für diesen oder jenen Film, diese Möbel, jene Kleidung – soziale Unterschiede nicht nur widerspiegeln, sondern auch festigen. Was ich esse, schön oder hässlich finde, weist mich demnach als Angehörige oder Angehörigen einer bestimmten sozialen Klasse aus. Es drückt sich darin ein Habitus aus, der mich mit anderen verbindet, die über einen ähnlichen Bildungsgrad, eine ähnliche soziale Herkunft und ähnliche Existenzbedingungen verfügen...
Mit den meisten bedeutenden Wissenschaftstheoretikern des 20. Jahrhunderts hat es die eigentümliche Bewandtnis, dass sich ihr Ruhm auf ein einziges Werk gründet, gegenüber dem ihre anderen Arbeiten wie Nebenwerke erscheinen. Das gilt für Ludwik Flecks »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« (1935) ebenso wie für Thomas Kuhns »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« (1962) und Karl Poppers »Logik der Forschung« (1934). Auf Paul Feyerabend (1924–1994) trifft die Ein-Buch-Berühmtheit in besonderem Maße zu...
Wie klingt Sozialismus im urbanen Raum einer DDR-Bezirkshauptstadt? Diese Frage verknüpft Überlegungen zur Soundgeschichte einer Stadt mit den Aspekten Umwelt und öffentliche Hygiene. Lärm als Problemlage des städtischen Raumes auszumachen, erforderte Perspektivenwechsel, die nicht nur das DDR-Gesundheitswesen vor Herausforderungen stellte. Gesund zu werden, gesund zu bleiben, galten als Anforderungen öffentlich-administrativer Vorgaben an die private Lebensgestaltung. Die entsprechenden Voraussetzungen dafür zu schaffen, das steckte sich die sozialistische Gesundheitsverwaltung als eines ihrer Ziele und Kernaufgaben.
Der Titel legt nahe, es ginge im Folgenden darum, zukünftige theoretische oder empirische Forschungsthemen zu identifizieren, die bislang entweder kaum bearbeitet wurden oder deren weitere Bearbeitung zusätzliche Erkenntnisgewinne verspricht. Zwar wird auch davon noch die Rede sein, aber in erster Linie verfolge ich die Absicht, eine kritische Bestandsaufnahme der derzeitigen sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung vorzunehmen, indem ich frage, welche Ansätze sich schon in der Vergangenheit als problematisch erwiesen haben und von welchen somit wohl auch in Zukunft kaum Neues zu erwarten sein dürfte. Mein Text ist thesenartig gehalten und gliedert sich in mehrere Teile: Im ersten Teil zeichne ich einleitend die Frontlinien in der vor etwa 20 Jahren aufgebrochenen und mittlerweile gut bekannten Auseinandersetzung zwischen den sogenannten »Mainstreamern« und den sogenannten »Innovateuren« der Gewaltforschung nach, bevor ich zu diesem ganzen Komplex einige wissenschaftstheoretische Anmerkungen mache, mit denen ich dann zu den Themen des zweiten Teils überleite. In diesem zweiten Teil liegt der Schwerpunkt auf Theorieangeboten, die im Kontext der Gewaltforschung derzeit gemacht werden: Aufgrund einer Reihe aktueller Publikationen zu »Gewalträumen« gehe ich zunächst vergleichsweise ausführlich und kritisch auf diese Problematik ein, bevor ich mich anschließend den organisationssoziologischen Herangehensweisen an das Gewaltthema widme. Im letzten Teil lasse ich mich zunächst von der Beobachtung einer allzu häufigen und leichtfertigen Rede von »Eigendynamiken« und »Prozessen« in der Gewaltforschung irritieren, um schließlich am Ende meiner Ausführungen einige Linien für zukünftige Arbeiten zu skizzieren.
Die große Bedeutung des Pflegens und Reparierens in der Automobilkultur der DDR hatte Rahmenbedingungen wie etwa Versorgungs- und geplante Infrastrukturmängel, Eigenarbeit im Sozialismus und spezifische Fahrzeugeigenschaften. Selbermachen wird aber auch als möglicherweise universellere, nicht systemspezifische Form der Automobilnutzung und der Mensch-Technik-Beziehung interpretiert, wobei die Kontexte von Nutzerqualifikationen, Freizeitverhalten, Bildung, skills und deren Prestige eine Rolle spielen. Im Rahmen der automobilgeschichtlichen Periodisierung wird Eigenarbeit als Möglichkeit sloanistischer Modifikation fordistischer Einheitsfahrzeuge durch Nutzer gesehen, wobei technische Kreativität ‚von unten‘ zum Tragen kam.
Im Januar 2012 feierte der Afrikanische Nationalkongress (ANC), die Regierungspartei der Republik Südafrika, mit großem Pomp sein hundertjähriges Bestehen. Der ANC ist die älteste Organisation des afrikanischen Nationalismus nicht nur in Südafrika, sondern auf dem Kontinent – und war lange Zeit die erfolgloseste. Während politische Parteien in Westafrika wie Kwame Nkrumahs Convention Peoples Party (Ghana) bereits zwei Jahre nach ihrer Gründung die Regierungsgeschäfte übernahmen und in anderen Beherrschungskolonien die Entkolonialisierung ähnlich schnell verlief, konnte der ANC erst 82 Jahre nach seiner Gründung die Regierung stellen.
Der „Normalfall Migration“ (Bade/Oltmer 2004) ist in Forschung und Publizistik längst ein Gemeinplatz geworden und dennoch – die Ankunft eines Bruchteils der globalen Fluchtbewegungen stürzte Europa in den letzten Jahren nicht zum ersten Mal in eine politische und legitimatorische Krise. Von nie dagewesener Fluchtmigration war die Rede und vielerorts drohte wieder einmal der Untergang des Abendlands oder zumindest umfassendes Chaos (exemplarisch dokumentierend: Neumann 2015). Angesichts der verbreiteten – und empirisch gerechtfertigten – Etikettierung des 20. Jahrhunderts als „Jahrhundert der Flüchtlinge“ (Opitz 1999) erstaunt diese kurzsichtige Wahrnehmung, ebenso vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Bedeutung, die Migration für die europäische Geschichte nicht nur des 20. Jahrhunderts spielte (Bade 2000; Moch 1992). Flucht- und Gewaltmigration ist vielleicht nicht der migrationshistorische Normalfall, aber ein wiederkehrendes Phänomen (Oltmer 2017). Gleiches gilt für die Debatten um die Aufnahme von „echten“ und die Abwehr von vermeintlich „falschen“ Flüchtlingen. Die Unterscheidung, welche Migrationsformen eher als Flucht und welche eher als freiwillige Bewegung zu sehen seien, ist – und war – stets interessengeleitet. Zugleich ist die Entscheidung zur Migration in aller Regel einer Vielzahl von Motiven unterworfen, die mal eher Zwangs-, mal eher den Charakter freiwilliger Entscheidung haben (Tilly 1978; Lucassen, Lucassen 2005). Hierzu gehören insbesondere auch Folgewanderungen, die nach dem Ausweichen vor direkter Gewalt den weiteren Weg bestimmen.
Die Visitenkarte mutet unverfänglich an. Man könnte sie zunächst für die gewöhnliche Karte eines Geschäftsmanns halten. Erst der zweite Blick lässt den Betrachter stutzig werden: War Peter Venkman nicht eine fiktive Gestalt aus dem Kassenschlager Ghostbusters von 1984? Erst das Wissen um die Provenienz des Papier-Artefakts leitet den Betrachter schließlich auf die richtige Fährte: Peter Venkman ist ein Pseudonym und Mega Industries kein größenwahnsinniger Konzern, sondern ein Kollektiv niederländischer Teenager innerhalb einer transnationalen Community, die kommerzielle Computerspiele vom Kopierschutz befreite und an den Verkaufskanälen vorbei zirkulierte.
Vertreibung, Flucht und Wanderungsbewegungen sind Phänomene, die es wohl zu allen Zeiten gegeben hat. Vor dem Beginn der Ära der Nationalstaaten wurden Flüchtlinge und Einwander*innen nicht selten als Bereicherung empfunden, da sie Informationen über andere Länder und Kulturen, Sitten und Gebräuche mitbrachten. Im Mittelalter war in Europa eine universalistische Philosophie vorherrschend, die Flüchtlingen im Allgemeinen positiv gegenüberstand. Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden im späten 18. Jahrhundert bekanntlich auch von Flüchtlingen gegründet, die Europa verlassen hatten, weil sie hier kein Recht auf Religionsfreiheit gefunden hatten oder in anderer Hinsicht unterdrückt worden waren.
Wenn es darum geht, die moderne Gesellschaft gegenüber anderen abzugrenzen, ist die Frage des Umgangs mit Gewalt von zentraler Bedeutung. Denn der Moderne wird gemeinhin zugeschrieben, die Gewalt in den Griff bekommen zu haben: Die Würde und Freiheit des Einzelnen gelten ihr als universelle Prinzipien, die nicht nur philosophisch diskutiert, sondern auch in Verfassungen und Gesetzen kodifiziert worden sind und sich damit zu Grundprinzipien der Organisation von Gemeinwesen entwickelt haben. Daher gebe es in modernen Gesellschaften deutlich weniger Gewalt als in früheren und als in zeitgenössischen Gesellschaften, die (noch) nicht in der Moderne angekommen seien. Historische Untersuchungen scheinen dieses Argument zu belegen.01 Die Moderne hat – so scheint es – der Gewalt also in doppeltem Sinne den Rücken gekehrt: Sie ist gewaltavers in ihren ethischen Prinzipien und gewaltarm in ihren ihren alltäglichen Lebensrealitäten.
Das Journal of Refugee Studies (JRS) ist die wichtigste internationale Fachzeitschrift im Bereich der Flüchtlingsforschung. Seine Gründung im Jahr 1988 trug maßgeblich zur Konsolidierung der Flüchtlingsforschung als eigenständiges Forschungsfeld bei. In diesem Aufsatz reflektiere ich die 29jährige Geschichte des JRS. Ich interessiere mich insbesondere für den Anspruch des JRS, fächerübergreifend zu sein, für seine Reputation als Forum für politikrelevante, angewandte Forschung und für die Rolle, die Flüchtlingen in der Zeitschrift eingeräumt wurde. Ausgehend von der Überlegung, dass heute im JRS in erster Linie über Flüchtlinge geschrieben wird, schlage ich vor, ein Experiment aus den Anfangsjahren des JRS zu wiederholen und Flüchtlinge (wieder) selbst zu Wort kommen zu lassen. Ausgehend von meiner Lektüre der letzten 29 Jahrgänge des JRS gebe ich der Hoffnung Ausdruck, dass in einer neugegründeten Fachzeitschrift wie der Z’Flucht theoretisch ambitionierten Aufsätzen, deren Erkenntnisse auf einer breiten empirischen Basis beruhen, gebührend Platz eingeräumt wird, und dass AutorInnen zu einer rigoros selbstkritischen Herangehensweise an ihre Themen ermutigt werden.
Staudammbauten in Afghanistan, Ahmed Ben Bella und wie er die Welt sah, die Fotos hungernder Kinder in Nigeria und Bangladesch, amerikanische Agrarwissenschaftler, die in Manila Reissorten züchten, Chinas Werben um Afrika, eine UN-Erklärung, niemals umgesetzt, über die Errichtung einer »Neuen Weltwirtschaftsordnung« – wer hätte vor 20 Jahren vorausgesagt, dass diesen Episoden einmal symptomatische Bedeutung zugemessen würde, wenn es um das Verständnis der internationalen Politik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht. Wie stark sich das geschichtswissenschaftliche Bild des Zeitraums gewandelt hat, lässt sich tatsächlich, noch vor allen interpretatorischen Einordnungen und methodischen Konzeptualisierungen, besonders eindrücklich an der Fülle neuen Wissens ablesen, das historische Studien in den letzten gut 15 Jahren hervorgebracht haben. Weltregionen, über die man wenig wusste, Akteure, die eher im Hintergrund operierten, politische Projekte, die nebensächlich erschienen, Konflikte, die als sekundär galten, sind inzwischen eingehend erforscht.
Ist eine Geschichte ohne Dinge vorstellbar? Wohl kaum, denn auch der reine Gedanke benötigt Dinge, will er auf Dauer festgehalten werden. Ist eine Geschichtsschreibung ohne Dinge vorstellbar? Sehr wohl, wenn wir die in Bibliotheken und auf Festplatten angesammelte Geschichtsschreibung Revue passieren lassen. Dieses Dilemma der Diskrepanz zwischen der realen Welt, ihrer Wahrnehmung und der intellektuellen Reflexion betrifft zwar nicht allein die dingliche Dimension historischer Lebenswelten, doch stellt sich die Frage nach der Einbeziehung der materiellen Kultur in die historische Forschung aus mehreren Gründen besonders deutlich.
Es Ist ein fragend-tastendes sich Annähern an eine historiografische Perspektivumkehr, wie sie aus den zitierten Zeilen von Tony Bennett und Patrick Joyce spricht. Beide haben mit „Material Powers" einen der Bände herausgegeben, die hier zur Diskussion stehen. Für manche Historikerinnen und Historiker mag der,material turn1 eine „Provokation“ bedeuten (so der Untertitel einer Sektion zu Geschichte und Materialität auf dem Historikertag 2012 in Mainz). Doch beweist die gegenwärtige (Wieder-)Annäherung unterschiedlicher kultur- und gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen an die Dimension Materialität, dass Jahrzehnte einer perspektivischen Ent-Materialisierung als Defizit wahrgenommen werden - der Archäologe Bjornar Olsen spricht von einer „kollektiven Amnesie“ der Kultur- und Gesellschaftswissenschaften gegenüber dem Materiellen.
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges war der Abschied von einem bedingungslosen Fortschrittsglauben gekommen. Die Erfahrungen des Stellungskrieges und der Materialschlacht munitionierten die Fortschrittskritik. Die universitäre Etablierung des Fachs Volkskunde im Jahr 1919 war seit den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durch wissenschaftliche Zeitschriften, Kongresse und museale Sammlungen vorbereitet und von der »Suche nach dem Elementaren in der Kultur« begleitet worden. Die Hinwendung zu den Dingen, vor allem zu Arbeits- und Hausgerät aus europäischen Reliktgebieten, spielte in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Die Frage nach ihrer Bedeutung und Sinnaufladung verdichtete sich mit der Disziplinierung, auch wenn die Erforschung der materiellen Kultur nicht der einzige Gegenstand des Faches war, das sich aus den Philologien herausbildete. Geht man davon aus, dass das 19. Jahrhundert das »Saeculum der Dinge« ist, weil die industrielle Massenproduktion die Verfügbarkeit sowie den Verbrauch der Dinge seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immens steigerte, dann führt der Weg zu der intensivierten Aufmerksamkeit für die Dinge des Alltags in Kunst, Literatur und Wissenschaft in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.
Die zentrale Forschungsfrage dieses Aufsatzes ist, warum Europäische Staaten im Unterschied zu Staaten in Südostasien, den USA, und Australien die Festlegungen zum Rückführungsverbot aus der Flüchtlingskonvention fortzusetzen versuchten, als Bootsflüchtlinge in den 200er Jahren Zuflucht in ihren Territorien suchten. Zunächst gebe ich einen Überblick, wie Staaten in anderen Weltregionen auf Bootsflüchtlinge, die nach Asyl suchten, seit den 1970er Jahren geantwortet haben und betone ihre Nichtbeachtung der Flüchtlingskonvention. Danach wende ich mich Europa zu und zeige, dass es eine ähnliche Reaktion in den 1990er Jahren gegeben hat. Dies veränderte sich jedoch nach 2000. Dieser Entwicklung widmet sich der übrige Aufsatz, wobei ich den wachsenden Einfluss des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (ECtHR) betone. Da Italien eine besonders große Zahl solcher Asyl suchender Bootsflüchtlinge aufgenommen hat, wird es besonders prominent behandelt.
Kosmetika sind in vielerlei Hinsicht banal, sie stellen aber oft (wie andere Praktiken des Körperschmucks) auch wirkungsvolle Ausdrucksmittel in Konflikten um die Symbolik von Körper und Selbst dar. In den Vereinigten Staaten warfen Feministinnen bei der Wahl zur »Miss America« 1968 vermeintliche Folterinstrumente wie Büstenhalter oder künstliche Wimpern sowie Frauenzeitschriften wie »Glamour« und Männermagazine wie »Playboy« in einen »Freiheitsabfalleimer«. In den USA, in der Bundesrepublik Deutschland und anderen westlichen Ländern wandten sich Anhängerinnen der neuen Frauenbewegung dagegen, den weiblichen Körper wie eine Ware zu behandeln...
Am 12. April 1945, acht Tage nachdem die letzten deutschen Truppen ungarisches Staatsgebiet verlassen hatten, erschien Frau S. in den Räumlichkeiten der kurz zuvor gegründeten »Untersuchungskommission zur Erforschung und Bekanntmachung der von den Nationalsozialisten und Pfeilkreuzlern verübten Verbrechen« (Náci és nyilas rémtettek kivizsgálására alakult bizottság, im Folgenden: »Verbrechens-Kommission«). Sie gab ein Gewaltverbrechen zu Protokoll, welches sich drei Monate vorher im jüdischen Krankenhaus in der Budapester Maros-Straße ereignet hatte...
Seit 1950 sind mehr als 778.000 Menschen auf deutschen Straßen gestorben und mehr als 31 Millionen Menschen verletzt worden (in der Bundesrepublik und der DDR zusammen). In anderen Industriestaaten liegen die Zahlen der Opfer von Verkehrsunfällen in vergleichbarer Höhe, in den Schwellenländern steigen sie angesichts einer zunehmenden Mobilität weiter. Wie lässt sich erklären, dass eine moderne Gesellschaft wie die deutsche des 20. Jahrhunderts bereit war, diesen Blutzoll zu zahlen? Die Frage weist über sich selbst hinaus, denn sie macht auf ein zentrales Problem der Epoche der Industriemoderne aufmerksam: Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden neue, von industriellen Produktionsweisen geprägte Technologien, die die Lebensgewohnheiten tiefgreifend veränderten und mit denen sich Hoffnungen einer überaus fortschrittlichen Zeit verbanden.
Seit dem erfolglosen Putsch am 15. Juli 2016 gilt in der Türkei der Notstand. Mitte April 2017 stimmten nun 51,4 Prozent der Wahlberechtigten für eine Verfassungsänderung, die dem Präsidenten weitreichende Befugnisse verleiht. Der Wahlkampf hatte das Land stark polarisiert, das Referendum war eine Abstimmung für oder gegen das »System Erdoğan«. Aber auch nach der Wahl hat sich die Lage nicht beruhigt – die Opposition zweifelt an der Rechtmäßigkeit der Abstimmung, unter anderem weil kurzerhand 2,5 Millionen ungestempelte Wahlzettel zugelassen wurden...
Jenseits von Zeit und Raum. Flugreisewerbung in den USA und Westdeutschland während der 1970er-Jahre
(2017)
»Getaway. To places you always wanted to see but never thought you could«, lautete die Überschrift einer Werbekampagne der amerikanischen Fluggesellschaft Trans World Airlines (TWA) im Jahr 1971. In großformatigen, mit Farbfiltern hervorgehobenen Bildern von Sehenswürdigkeiten wie dem britischen Parlamentsgebäude in London, dem amerikanischen Grand Canyon oder dem Taj-Mahal-Mausoleum im indischen Agra bewarb sie Reiseziele auf verschiedenen Kontinenten.
Private Alben sind für Außenstehende schwer zugänglich. Die Familie, die ihre Alben dem Museum übergab, maß ihnen gesellschaftliche Bedeutung zu. Als Fundstücke ohne Kontext stehen sie für sich allein und erscheinen zunächst hermetisch.[3] Doch bei sorgfältiger Betrachtung und Analyse lässt sich in vier Arbeitsschritten das lebensgeschichtliche Narrativ eines sowjetischen Kraftwerksingenieurs rekonstruieren. In einem ersten Schritt geben das Abgebildete und die (knappen) Beschriftungen Auskunft über örtliche und zeitliche Bezüge, materielle Kultur, Alter, Generationenzugehörigkeit und soziale Beziehungen der Menschen. In einem zweiten Schritt können die aufgerufenen Kontexte recherchiert werden – hier als Hintergrund die Ingenieure als »Klasse«, die sowjetische innere Expansion seit 1945 und die örtlichen Verhältnisse. In einem dritten Schritt werden die Fotografien und die Alben als Artefakte betrachtet. Auf die Fragen nach Entstehungszeit und Urheberschaft folgen in einem vierten Schritt Fragen nach Bedeutungen bestimmter Anordnungen und Gebrauchsspuren der Alben. So entfalten sich aus den Bildern und ihrer Komposition visuelle Narrative.
Ambivalente Metaphorik. Ein kritischer Rückblick auf Zygmunt Baumans "Dialektik der Ordnung" (1989)
(2017)
Lange vor Baumans »Dialektik der Ordnung« war mir ein Text von Yvonne Hirdman in die Hände gefallen, als ich mich für ein Forschungsprojekt zum »social engineering« in die Forschungsliteratur zur schwedischen Geschichte und Gesellschaftspolitik einzulesen begann. Hirdman, Historikerin, hatte 1989 ein schlankes Buch mit dem aus dem Deutschen abgeleiteten Titel »Att lägga livet tillrätta« publiziert, »Das Leben zurechtlegen«.[1] Die Studie war im Rahmen einer Enquête entstanden, mit deren Hilfe der schwedische Staat sein eigenes Funktionieren untersuchte. Hirdman, die zehn Jahre zuvor eine Geschichte der Sozialdemokratie unter dem selbstsicheren Titel »Wir bauen das Land« verfasst hatte, hielt nun derselben sozialdemokratisch dominierten Gesellschaftspolitik vor, die Menschen systematisch übermächtigt zu haben.
Um 1980 avancierten in der Bundesrepublik und in West-Berlin Hausbesetzungen und die kollektive Instandsetzung verfallender Häuser zu einem sichtbaren und vieldiskutierten Mittel des Protests. Einer aus ihrer Perspektive verfehlten Wohnungspolitik, die intakte Häuser abriss, setzten unterschiedliche Akteure den Erhalt von Altbauten und damit auch von gewachsenen sozialen Strukturen der Stadtviertel entgegen. Mit der eigenhändigen Instandsetzung der Häuser war das Ziel verbunden, sie zu Orten für neue, alternative Formen des Zusammenlebens und Arbeitens umzugestalten. Instandsetzen hieß, den Beweis dafür anzutreten, dass Flächensanierung als »Kahlschlagsanierung« falsch sei, dass Altbauten erhaltenswert und menschengerechte Städte mit mehr Lebensqualität ohne große Kosten möglich seien.
Seit einiger Zeit löst sich die Schockstarre, die bei Bekanntwerden des Ergebnisses des Referendums vom Juni 2016 über die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs eingesetzt hatte. Mittlerweile wird sie außerdem gelegentlich durch Entwicklungen in den USA, Italien und anderswo überlagert, die alle ihrerseits für die weitere Entwicklung in Bezug auf den Brexit folgenreich sind. Weiterhin ist das Vereinigte Königreich Teil der Europäischen Union, wobei die Perspektive eines Austritts längst ihren Schatten vorauswirft. Viel ist in den vergangenen Monaten international gesagt und geschrieben worden, um das lange Zeit Undenkbare zu erklären. Eine beachtliche Reihe von Kommentatoren hat sich zu Ergründungen des britischen Nationalcharakters hinreißen lassen und etwa Beispiele für ein tief verankertes Sonderbewusstsein und Anzeichen für einen Sonderweg in Kultur und Geschichte bemüht.
Seit einiger Zeit erfreuen sich Themen wie »Gerechtigkeit«, »Würde« oder das »richtige« Leben großer Popularität. Auch in der Geschichtswissenschaft floriert die Erforschung von Moral: »Menschenrechte«, »Transitional Justice« oder »Humanitarismus« sind als neue Themenfelder erschlossen worden. In Frankfurt am Main und Berlin beschäftigen sich größere Forschungsverbünde mit der Analyse normativer Ordnungen moderner Gesellschaften. Unter dem Schlagwort »NS-Moral« geht es um Inhalte und Geltungsmacht einer partikularen Moral des Nationalsozialismus. Zeitlich übergreifende Darstellungen zur Geschichte der »Menschheit« oder des »Westens« verfolgen selbst das Ziel, eine bestimmte (politische) Moral zu rechtfertigen.
Millionen von Menschen aus zahlreichen Ländern besuchten im 20. Jahrhundert die Schlachtfelder und Soldatenfriedhöfe des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Die Motive und Praktiken der Reisenden waren dabei durchaus unterschiedlich. In den ersten Nachkriegsjahren und -jahrzehnten fuhren viele Angehörige von Kriegstoten zu Soldatenfriedhöfen, Gedenkstätten und ehemaligen Schlachtfeldern. Aber es waren immer auch andere Personen und Gruppen unter den Reisenden, die keine persönliche Beziehung zu den toten Soldaten hatten. Nach dem Ersten Weltkrieg bezeichneten britische Zeitgenossen die Reisen von Veteranen und Angehörigen gefallener Soldaten zu den von ihnen als heilig betrachteten Schlachtfeldern und Kriegsgräbern als Pilgerfahrten und werteten andere Besucher dieser Orte als »Touristen« ab, die sich an den sakralen Stätten nicht angemessen benähmen und aus reiner Sensationslust angereist seien.
Manche Bücher sollte man besser vom Ende her lesen, lässt sich doch so ihr archimedischer Fluchtpunkt rasch entdecken. Gewiss, für Kriminalromane empfiehlt sich eine solche Lesart nicht, wohl aber für diesen Essay-Band Hans Magnus Enzensbergers. Darin schließt der Autor seine Reiseberichte aus sieben Ländern mit einem »Epilog« ab, in dem ein fiktiver amerikanischer Journalist namens Timothy Taylor im Jahr 2006 den ebenfalls fiktiven finnischen EG-Präsidenten Erkki Rintala interviewt, der von seinem Amt freiwillig zurückgetreten ist, nachdem er wegen seiner Erfahrungen in den Korridoren der Brüsseler Politik zu einem Gegner der europäischen Integration geworden war.
Zu diesem Heft
(2017)
My Road to Berlin, or Mein Weg nach Berlin, presents a Willy Brandt that confounds a present-day reader’s expectations. While the 1960 autobiography of the then-mayor of West Berlin links his career with the familiar story of democracy’s development in Germany, this work nevertheless retains an unexpected edge. In one surprising scene, the mayor denounces his East Berlin SED counterparts as a ›Communist foreign legion‹ whom ›the citizens of my city had decisively defeated‹ during the Second Berlin Crisis of 1958 (p. 17). In the book, Brandt comes off as a Cold Warrior of steely determination rather than a Brückenbauer bridging ideological divides. Far from being out of character, however, My Road to Berlin captures Brandt at a pivotal moment in his career, when he sought to offer himself to both West German voters and a global public as a viable alternative to Konrad Adenauer.
Over the last few years the 1970s have come into the focus of historians in Britain, France and Germany. The recent historiographical debates on the decade largely remain anchored in national contexts however. A comparative analysis of French and British narratives about the 1970s shows the degree to which historical interpretations of the decade remain shaped by contemporary perceptions, political strategies and historiographical traditions. This article argues that we need a real transnational historical dialogue in order to question and deconstruct the implicit assumptions which shape our interpretations of the decade.
The introduction to this issue on historical surveillance studies argues for an integrated understanding of surveillance that focuses on the interconnectedness of the state, economy and sciences within the context of different forms of technological revolution. It suggests reading contemporary diagnoses of ‘total surveillance’ from a long-term historical perspective beginning in the seventeenth century. In this light, surveillance is not limited to intelligence history or state control. Rather, it produces patterns of order and data that can be deployed for political processes like urban planning, welfare policy, crime prevention, or the persecution of political opponents. Furthermore, surveillance is also part of the economy, encompassing market and consumption research, advertising, and workplace monitoring. Research into the political and the economic aspects of surveillance should be combined. After defining the term ‘surveillance’ and differentiating between security and surveillance studies, the article provides an overview of different empirical studies in this new historiographical field. It concludes with shortsummaries of the articles collected in this issue.
Der »Trip durch die Computerszene« begann für den Pflasterstrand-Journalisten Matthias Horx in der Elektroabteilung eines Kaufhauses. In seinem gleichnamigen, 1984 erschienenen Buch betrachtete er dort fasziniert eine neue Spezies – computerbegeisterte Jugendliche, oder, wie er es in einem romantischen Anflug formulierte, »Mikro-Clochards«. Diese liefen »ständig mit einem Diskettenstapel unter dem Arm herum, von Kaufhaus zu Kaufhaus, immer auf der Suche nach dem freien Schacht eines Diskettenlaufwerks und einem Cursor, der nur für sie blinkt.«
Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft mit unvollständigem Gedächtnis. Neuere deutsche Migrationsgeschichte samt ihrem Kernstück, der Geschichte der Einwanderungsgesellschaft Deutschland, ist ein Spezialthema, das in der Zeitgeschichte nicht breit rezipiert wird.Auch ist es nicht flächendeckend in der universitären Lehre verankert. In den Standardwerken zur Geschichte der Bundesrepublik stellt Migration nach wie vor eine Randnotiz dar. Zudem existieren viele Forschungslücken, blinde Flecken und hegemoniale Deutungsmuster; Darstellungen und Analysen sind oft an der Mehrheitsperspektive orientiert. Daher bleibt die Forderung von Bundespräsident Johannes Rau in seiner Rede auf dem Historikertag 2002, die Geschichte Deutschlands unter dem Blickwinkel
der Transformation zu und der Realität einer Einwanderung.