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Eine Woche, bevor der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2019 an den brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado verliehen wurde, lud das Kulturwissenschaftliche Institut Essen (KWI) zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion ein, um Salgados fotografische Praxis zu diskutieren. Das Podium besetzten die Organisator*innen und Moderator*innen Matthias Gründig, Folkwang Universität Essen, und Dr. Anja Schürmann, KWI Essen, sowie als eingeladene Diskutierende Prof. Elisabeth Neudörfl, Folkwang Universität Essen, Prof. Dr. Elke Grittmann, Hochschule Magdeburg-Stendal, und ich, Dr. Evelyn Runge, CAIS Center for Advanced Internet Studies Bochum.
Vor 80 Jahren, am 17. Juni 1939, landete die „St. Louis“ in Antwerpen. Am 13. Mai 1939 war sie in Hamburg mit 937 Kindern, Frauen und Männern an Bord Richtung Kuba gestartet, darunter 930 deutsche Jüdinnen und Juden. Schon zwei Wochen später war die St. Louis im Hafen von Havanna angekommen. Doch die Landung wurde ihr verweigert – für die Passagiere völlig überraschend. Die „Irrfahrt“ der St. Louis war wochenlang ein Thema in der internationalen Presse. Zeitgenössische Medien berichteten ausführlich über die vergeblichen Verhandlungen des JDC, über die Aktivitäten des Kapitäns und des von ihm ernannten Bordkomitees, über Selbstmordversuche im Hafen von Havanna und über den Plan einiger Passagiere, im Falle einer Rückkehr nach Hamburg kollektiv Suizid zu begehen.
Künstlerische Strategien bei der Aneignung von fotografischen Bildern im Kontext der Digitalisierung
(2019)
Es erscheint zunächst nur konsequent, wenn einige Künstler*innen sich heute entschließen, auf die Herstellung eigener Fotografien gänzlich zu verzichten, und sich gleich aus dem globalen Pool von Bildern bedienen, um diese dann zu verfremden, zu collagieren und neu zu kontextualisieren. Sie überspringen den Schritt der Bilderstellung und gehen gleich zur Realisation (und Vermarktung) szenischer oder ornamentaler Ideen über.
Jeder Fotograf – Laie wie Profi – wird unter diesen Bedingungen mit seinen Bildern im Netz zum Materiallieferanten, der zuweilen auch den Künstlern im Atelier zuarbeitet, wenn diese die Bildrechte im Sinne der Kunstfreiheit außer Kraft zu setzen wissen. Die Praktiken der originalen Bildherstellung entfallen so zugunsten der Operationen an vorhandenen Bildern. Das Studio wird zum Post-Studio. Diesen Arbeitsraum gilt es, im Folgenden genauer zu untersuchen. Es handelt sich im Gegensatz zum konkreten, stillen Raum um eine Virtual Reality, die ihrerseits von immateriellen, selbstaktiven Prozeduren bestimmt wird.
Als bekannt wurde, dass Sebastião Salgado als erster Fotograf den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2019 bekommt, hatte ich das Gefühl, dass er medial vor allem durchgewinkt wurde, obwohl seine Art zu fotografieren innerhalb der Fotografie und Fototheorie stark polarisiert, weil er wie kaum ein zweiter Künstler die Fotografie mit ihren Dichotomien konfrontiert. Er ist Amateur und Profi, Fotojournalist und Kunstfotograf; er produziert nicht nur Fotografie, er vertreibt und kuratiert sie auch; er ist – zusammen mit seiner Frau – seine eigene Agentur und thematisch sowohl konservativ und religiös, als auch an zeitgenössischen Diskursen interessiert. Andere Dualismen sind die zwischen barock und schwarz-weiß, zwischen emotional und ästhetisch distanziert. Sie zeigen sich auch in der Rezeption, je nachdem, von welcher Seite er betrachtet wird. Denn dokumentarische Praktiken werden im Fotojournalismus anders diskutiert als im Kunstbetrieb.
Was ist deine Arbeit wert?
(2019)
Es ist auf den ersten Blick erkennbar, wer auf dieser Aufnahme des Hobbyfotografen Günter Franzkowiak aus dem Jahr 1975 die Hauptrolle spielt: ein Lohnzettel, oder, um genau zu sein, gleich drei davon. Die Blicke der drei Arbeiter des Volkswagenwerks in Wolfsburg lenken auch den des Betrachters unweigerlich auf jenen Papierstreifen, den der Arbeiter im Arbeitskittel am linken Bildrand in den Händen hält.
Kriegerische Auseinandersetzungen, gewaltsame Konflikte und Terrorismus gehören zu den dominanten Themen der weltweiten Berichterstattung. Die dabei vermittelten Bilder prägen unser Wissen und unsere Konfliktwahrnehmung entscheidend. Bisher nähert sich die Kommunikations- und Medienforschung der (foto)journalistischen Praxis zumeist von Seiten des fertig ausgewählten, abgedruckten bzw. ausgestrahlten Medienmaterials. Im Mittelpunkt stehen dabei Forschungsbegriffe wie Nachrichtenfaktoren, Gatekeeping oder Framing. In seiner Dissertation „Fotoreporter im Konflikt. Der internationale Fotojournalismus in Israel/Palästina“ nimmt Felix Koltermann eine neue Perspektive ein. Ihn interessieren nicht die Auswahl der fertigen Bilder oder deren Distribution, sondern die konkreten Produktionsbedingungen von Fotoreporter*innen.
Das Titelbild, ein Standfoto aus dem Film Mooi Holland von 1915, zeigt eine junge Frau in Tracht mit der weißen Haube, die bei Leser*innen in Deutschland wahrscheinlich Assoziationen an die Werbefigur Frau Antje und deren Karikatur wachrufen. Auf welchen historischen Grundlagen solche Klischees basieren, hat Sarah Dellmann auf der Basis von (Bewegt-)Bildern aus dem langen 19. Jahrhundert untersucht.
“Humans of Damascus” – The (Other) Art of Community (Building). An Interview with Rania Kataf
(2019)
In his inspiring book “The Art of Community”, Charles H. Vogl goes through the principles of belonging: initiation, boundaries, symbols, rituals, stories, temple and inner rings. These seven time-tested principles for emerging and connected communities could be applied entirely or in part, even to groups not physically or geographically connected. In other words, to communities interacting between real and virtual world, like “Humans of Damascus”.
In October 2016, Rania Kataf created a group on Facebook, that has rapidly grown beyond the seven ancient gates of the Syrian capital. Damascus, one of the oldest continuously inhabited cities of the world, has been for its strategic position a nexus of powers and influences coming from everywhere, and left their marks on the city.
„Ich war damals in Marburg nicht ganz unbekannt durch 24 Farbfotografien, die ich als Postkarten veröffentlicht hatte“ (S. 21). Schlicht und bedeutungsvoll zugleich sind die Worte, die der Apotheker und Drogerie-Fabrikant Georg Heinrich Mylius (1884-1979) in einem der letzten Briefe 1978 seinen 1911 entstandenen Aufnahmen widmete. Als erste fotografische Darstellungen Marburgs in Farbe und als solche seinerzeit ein öffentlich stark beachtetes technisches Novum können diese sogenannten Autochrome (S. 18) nach wie vor einiges Interesse für sich beanspruchen.
Die Arbeit von Maren Jung-Diestelmeier, mit der sie 2016 an der Technischen Universität Berlin promoviert wurde und die im Jahr darauf im Göttinger Wallstein Verlag erschien, ist, soweit der Rezensent das mit seiner zugegebenermaßen beschränkten Expertise auf dem Feld zu beurteilen vermag, ein großartiger Beitrag zur Stereotypenforschung. Das verwundert nicht angesichts dessen, dass die Dissertation von Werner Bergmann, bis 2016 Professor für Soziologie am Zentrum für Antisemitismusforschung, betreut wurde. Der Band macht sicher nicht zu Unrecht den Auftakt der vom ZfA herausgegebenen Reihe „Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart“.
Rezension: Fokus Panofsky
(2019)
Der Literatur-, Kunst- und Frühneuzeithistoriker mit einem Schwerpunkt bei der Mittelalter- und Renaissanceforschung Dieter Wuttke (Jg. 1929), zuletzt von 1979 bis 1995 Inhaber des von ihm gegründeten Lehrstuhls für Deutsche Philologie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit an der Universität Bamberg, ist den Lesern von IFB zuletzt mit der Rezension der dritten, ihm zum 80. Geburtstag gewidmeten Festschrift begegnet. Leser von IFB mit einem längeren Gedächtnis wissen freilich auch, dass er sich mit zentralen Figuren des Warburg-Kreises befasst hat, so insbesondere mit dem Gründer des Warburg-Instituts Aby M. Warburg (1866-1929), dessen Personalbibliographie er bearbeitet hat, sowie mit Erwin Panofsky (1892-1968), der nach Warburgs Tod zusammen mit Fritz Saxl eine der zentralen Figuren der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in Hamburg war.
Der erste Band der 2015 von Costanza D’Elia gegründeten Zeitschrift „Visual History. Rivista internazionale di storia e critica dell’immagine” wird mit einem Zitat aus „L’orologio“ („Die Uhr“) eingeleitet, einer der bedeutendsten politischen Romane der italienischen Nachkriegszeit, den der Schriftsteller und Maler Carlo Levi 1950 veröffentlichte. Die Auswahl der Zeilen erfolgte nicht zufällig: Ein Mensch, verzweifelt ob der „Unfähigkeit zu leben“, stößt „in immer neue Wissensgebiete vor, auf der ständigen Suche nach etwas, das ihm hoffnungslos verborgen bleiben würde“.
Nachrichten, Blogs, Online-Zeitschriften, Websites von Museen, von Gedenkstätten und anderen Bildungseinrichtungen, Online-Ausstellungen, Social Media – sie alle zeigen Bilder: groß aufgezogen, als Fotostrecke, in kleineren Formaten, mit oder ohne Bildunterschrift. Visuelle Informationen gehören im Netz dazu. Häufig dienen Bilder der Illustrierung von Texten; sie sind ästhetische Elemente, die visuell die Inhalte der Website kommunizieren sollen. Selten steht ihr eigener Quellenwert im Vordergrund. Bilder – und hierzu zählen auch historische Fotografien – sind niedrigschwellig durch Bildagenturen, Online-Bildarchive, Bilddatenbanken und Social Media zugängig, darunter auch solche, die diskriminierende Inhalte zeigen. Wie aber können wir mit Bildmaterial umgehen, das negative oder ausgrenzende Zuschreibungen aufweist und etwa die Persönlichkeitsrechte eines Menschen verletzt? Auseinandersetzungen über bildethische Fragestellungen in der Verwendung von (historischen) Fotografien finden zwar intern in einer Redaktion, in einem Ausstellungsteam, bei der Planung eines Buches immer wieder statt, allerdings werden diese noch kaum dokumentiert. Eine Diskussion in der Fachöffentlichkeit hat sich darüber noch nicht etabliert. Der Workshop „Bildethik – zum Umgang mit Bildern im Internet“ wollte genau hier ansetzen und einen Austausch von Erfahrungen, Methoden und Strategien im Umgang initiieren.
Die Ästhetik der Ausstellungsgestaltung im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, verweist beim Betreten der Räume sofort auf das Thema: Ein aufdringliches Teppichblau konkurriert mit Ausstellungswänden aus hellgrauen Lochblechsegmenten. Die Kapiteltexte sind auf verschiedenfarbige Tafeln aufgezogen und stehen locker im Raum verteilt, ebenso wie einige Spiegel, Vitrinen, Tische, Regale und Medienstationen. Alles trägt zum vorläufigen, werkstatthaften und uneinheitlichen Charakter des ersten Eindrucks der Ausstellung zum Medium Amateurfotografie bei.
Sicher fühlen sich einige Besucher*innen von diesem Anblick leicht abgeschreckt, bei mir löste er eher eine euphorische Goldgräberstimmung aus. Eine Ausstellung kleinformatiger Amateurfotografie, alle einheitlich einzeln gerahmt hinter Passepartouts wie kleine kunsthistorische Preziosen, hätte ich in diesem Zusammenhang als unpassend empfunden. Wenn sie auch in diesem Fall nicht völlig vermieden wurden: Auf diese Weise werden hier beispielsweise die Fotografien des Bauhauses präsentiert.
Das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) ist ein Kölner Verein, der sich die Dokumentation der Migration nach Deutschland zur Aufgabe gemacht hat. 1990 als „Archiv von unten“ von aus der Türkei stammenden Migranten unter dem Kürzel DOMiT (Dokumentationszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei e.V.) gegründet, widmete es sich zunächst ausschließlich der Migrationsgeschichte aus der Türkei. 2007 erfolgte die Fusion mit dem Verein Migrationsmuseum in Deutschland und die thematische Weitung hin zur Geschichte der Einwanderung nach Deutschland in allen Facetten.
Welche Impulse kann das Werk Max Webers der Zeitgeschichte liefern? Wie haben sich Zeithistoriker/innen im 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart bei der gedanklichen Ordnung ihrer Probleme von Weber inspirieren lassen? Ausgehend von der „Vielfalt der Perspektiven“, aus denen Webers Themen und Begrifflichkeiten fruchtbar gemacht werden, zeichnet Gangolf Hübinger die Bedeutung Max Webers für wechselnde zeitgeschichtliche Problemstellungen nach und zeigt, was seinen Denkstil letztlich ausmacht: die Verknüpfung von Universalgeschichte und Gegenwartsdiagnose.
Flüchtlingslager dienen weltweit der kurzfristigen Unterbringung von geflüchteten Menschen und der Bereitstellung von Schutz und Unterstützung insbesondere nach weitreichenden Fluchtbewegungen in Aufnahmeländer. Dem erhofften Übergangscharakter von Lagern, ihrer Kurzfristigkeit mit provisorischen Infrastrukturen stehen jedoch reale Entwicklungen gegenüber. Aufnahmesituationen dauern zunehmend lang an, sodass Lager über viele Jahre bis hin zu Jahrzehnten genutzt werden und sich zu restriktiven Lebensräumen der Menschen entwickeln.
Der vergessene »Brotkasten«. Neue Forschungen zur Sozial- und Kulturgeschichte des Heimcomputers
(2019)
Kaum eine Technologie prägt unseren Alltag so sehr wie der Mikrocomputer. Die Historisierung dieses technischen Mediums, der Umstände und Folgen seiner sozialen Implementierung sowie seiner Nutzungsarten ist überfällig. Der Computer in Privatbesitz ist fester Teil nicht nur unserer Gegenwart, sondern auch jener Epochen, die schon längst »historisch« geworden sind und deren Analyse zum Standardrepertoire der Zeitgeschichte gehört. Es ist schon über 40 Jahre her, dass in den USA in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre Computerbausätze für Bastler kursierten, darunter der erste Computer aus dem Hause Apple, und bald darauf auch die ersten Fertiggeräte fürs Zuhause. In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre, während der letzten Eskalationsetappe des Kalten Kriegs, lagen erschwingliche Heimcomputer unter Hunderttausenden von westeuropäischen Weihnachtsbäumen und prägten das Leben zahlloser Jugendlicher. Auch im Ostblock waren Heimcomputer schon Jahre vor dessen Zusammenbruch präsent. Kurzum: Der Computer als technisches Medium, als Konsumgut und als Alltagsobjekt prägte bereits jene Epochen, bei denen ein Konsens darüber herrscht, dass sie ein legitimer Gegenstand der historischen Forschung sind.
Der Tonfall war alarmistisch. »Der Staat«, so proklamierte der sozialdemokratische Politiker Erhard Eppler, »der von seinen Bürgerinnen und Bürgern erwartet, daß sie sich ihre Sicherheit am Markt kaufen, wohl wissend, daß nur wenige dies können« verdiene »seinen Namen nicht« mehr. Es schien Eppler die »verdammte Pflicht und Schuldigkeit des Staates« zu sein, das »Grundbedürfnis aller Menschen, nicht dauernd in Angst zu leben« zu erfüllen; man müsse daher zwingend darauf bestehen, »daß die Polizei in [einem] Arbeiterwohnviertel genauso patroulliert [sic] wie im vornehmeren, daß ein Einbrecher hier genauso viel riskiert wie dort, daß es keine Viertel« gebe, »wo die Polizei sich allenfalls bei Tage, und dann nur in Rudeln, blicken läßt und andere, wo sie zugunsten privater Dienste abgedankt« habe. Im Jahr 2002 veröffentlichte der Parteilinke seine Streitschrift »Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt?«, in der er gegen eine zunehmende Erosion staatlicher Kernkompetenzen anschrieb, die gegenwärtig vor allem aus ökonomischen Motiven grundsätzlich zur Disposition gestellt würden. Insbesondere »Privatisierung und Kommerzialisierung« bzw. eine rasch voranschreitende »Ökonomisierung« erschienen Eppler als existenzielle Bedrohungen des modernen Staates und seines fundamentalen Daseinszweckes, der Sicherheitsgewährung für seine Bürger durch das staatliche Gewaltmonopol. Durch die »Kommerzialisierung der inneren Sicherheit« werde diese zu einer »Ware am Markt« oder gar einem »Luxusgut«.
When does stress – understood as a bodily and psychological condition connected to rapid social change and the pressure to perform – become a social concern? Previous historical research has situated the topic exclusively in the West: stress as a characteristic condition of what is understood to be Western capitalism. Using the examples of the state socialist GDR and Czechoslovakia in the 1960s – 1980s, this contribution demonstrates how stress became a broad social concern in a non-liberal, noncapitalist context. It thereby challenges the notion that stress is a Western phenomenon, proposing instead to see it in the context of developed and “multiple” modernities.