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Am 9. August 2020 fanden die Präsidentschaftswahlen in Belarus statt. Erwartungsgemäß erklärte die Zentralwahlkommission den autoritären Amtsinhaber Aljaksandr Lukaschenka mit 80,1 % zum Wahlsieger. Zehntausende Menschen in der Hauptstadt Minsk und in der belarusischen Provinz gingen auf die Straßen, um gegen die offenkundige, dreiste Wahlfälschung zu protestierten. Das Regime ließ die Protestkundgebungen mit rabiater Gewalt niederschlagen und friedliche Demonstranten und Demonstrantinnen brutal misshandeln. Mindestens sieben Menschen wurden dabei getötet. Lukaschenkas Plan, die Proteste im Keim zu ersticken, ging jedoch nicht auf: Die breite Protestbewegung, welche die europäische Öffentlichkeit auf eine lange Zeit vernachlässigte „Terra incognita“ Belarus aufmerksam machte, ließ sich nicht einschüchtern, wobei zahlreiche Belarus*innen – trotz brutaler Repressionen und grassierender Pandemie – ihren Kampf gegen den verhassten Diktator fortsetzen. Warum kam es zu diesem Protestausbruch, der immer öfter als Belarusische Revolution bezeichnet wird? Welche Haltungen lassen sich in der belarusischen Gesellschaft beobachten? Welche Denkmuster sind innerhalb der politischen Elite verbreitet?
Und: Wie haben sich Sozial- und Geschichtswissenschaften in Lukaschenkas Belarus entwickelt? Was erwartet Belarus im Jahre 2021?
Über diese und weitere Fragen diskutieren der Soziologe Henadz Korshunau, die Historikerin Iryna Ramanava und der Historiker Alexander Friedman. Das Gespräch fand am 28. Dezember 2020 statt.
„Wie sich die Spannungen lösen lassen, hängt letztlich von uns selbst ab“, schreibt der Rechts- und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel in seinem Buch Der Doppelstaat, das 1941 im US-Exil erschien. Das Buch war eine der ersten Analysen des nationalsozialistischen Regimes und ist das bekannteste Werk Fraenkels. Hier soll es aber nicht um den Doppelstaat selbst gehen, dem ein anderer Beitrag in diesem Schwerpunkt gewidmet ist, und auch nicht um die Spannungen, die Fraenkel anspricht. Vielmehr liegt das Augenmerk auf der Handlungsfähigkeit der Menschen, die er ausmacht. Wer ist das „uns“, das er anspricht; ja, warum spricht er überhaupt „uns“ inmitten einer wissenschaftlichen Analyse an?
Die Antwort, die ich auf diese Ausgangsfrage geben möchte, versucht einen methodisch ideengeschichtlichen Ansatz der Politikwissenschaft für die Zeitgeschichte fruchtbar zu machen.
Ol’ga Šparaga hat die belarusischen Untersuchungsgefängnisse von innen gesehen. Sie erzählt vom Schmutz und von der Kälte, von den Verhören – und von der Angst der Wärter. Um einem drohenden Strafverfahren wegen angeblicher Organisation von Massenunruhen zu entgehen, ist sie nach Litauen geflohen, wo sie Bildungsbeauftragte des Koordinationsrats der belarussischen Gesellschaft wurde. Trotz der massiven Repressionswelle, mit der das Regime die Gesellschaft überzieht, bleibt sie optimistisch: An dem Versuch, die Zeit anzuhalten, ist bisher noch jeder gescheitert.
Die Industriestadt Schlobin (Gebiet Homel) liegt im Südosten der Republik Belarus und galt im August 2020 als eine der Hochburgen der Protestbewegung gegen das Lukaschenka-Regime. Zwei der vielen Schlobinern und Schlobinerinnen, die sich gegen die Diktatur auflehnten, waren der 18-jährige Jauhen Kachanouski und der drei Jahre ältere Dzmitryj Hopta. Am 5. Februar 2021 wurden sie wegen Beteiligung an „schweren Unruhen“ und „Widerstand gegen die Miliz (Polizei)“ vom Rayongericht Schlobin zu einer Haftstrafe verurteilt: Kachanouski, der noch im August festgenommen worden war, soll dreieinhalb Jahre im Gefängnis verbringen; Hopta, der vor dem Prozess auf freiem Fuß geblieben war, zwei Jahre. Obschon Hopta milder als Kachanouski bestraft wurde, rückte vor allem der 21-jährige Schlobiner ins Blickfeld belarusischer Medien: Die in Schlobin als regimetreu und hart bekannte Richterin Iryna Pradun stellte sich auf die Seite des wenig überzeugenden Staatsanklägers Andrej Anoschka, der die drastischen Haftstrafen für die Angeklagten (dreieinhalb Jahre für Kachanouski und zweieinhalb Jahre für Hopta) gefordert hatte. Während Kachanouski seine Schuld bestritten und außerdem über polizeiliche Folter berichtet hatte, zeigte sich Hopta reumütig, wodurch seine Haftstrafe etwas verkürzt wurde. Hoptas geistige Behinderung und die Tatsache, dass sich der Beschuldigte seit Jahren in psychiatrischer Behandlung befindet, wurden hingegen außer Acht gelassen.
Ist der Fall Hopta eher ein Betriebsunfall der „übereifrigen Provinzjustiz“ oder verdeutlicht er vielmehr, dass die belarusische Diktatur in ihrer Repressionspolitik eine weitere rote Linie überschritten hat? Welche Rolle spielen Menschen mit Behinderung im Kontext der Protestbewegung? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages.
Die Dezember-Ausgabe der Zeitschrift Osteuropa (herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde) widmet sich unter dem Titel „Macht statt Gewalt oder: Gewalt statt Macht, Belarus: Schritte zur Freiheit: oder Repression, Schikane, Terror“ auf über 400 Seiten der politischen Situation in Belarus und der Geschichte des Landes. Wir baten den Chefredakteur der Zeitschrift, Manfred Sapper, um Zusammenarbeit für unseren Themenschwerpunkt zu Belarus und bekamen umgehend die freundliche Genehmigung das Editorial des Themenheftes (10-11/2020) als Reprint zu veröffentlichen.
Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl erschütterte im Mai 2019 die Welt ein zweites Mal. Die Miniserie Chernobyl[1] rief den Reaktorunfall, der sich am 26. April 1986 nahe der ukrainischen Stadt Prypjat ereignete, ins Gedächtnis und fesselte bei Sky und HBO ein Rekordpublikum an die Bildschirme. Im Westen erntete die britisch-amerikanische Produktion reichlich Lob und Preise – in Russland dagegen stieß die Serie auf teils harte Kritik. Politiker*innen und Medien bezeichneten sie als US-Propaganda, forderten ein Verbot und warfen den Filmemacher*innen vor, den sowjetischen Machtapparat zu diffamieren. Am Beispiel der US-britischen Serie Chernobyl und des russischen Kinofilms Tschernobyl 1986 zeigt der Beitrag, wie an den ehemaligen Fronten des Kalten Krieges um die „richtige“ Geschichtsdeutung gekämpft wird.
Er ist einer der bedeutendsten Sozialhistoriker in Deutschland. Jürgen Kocka (Jg. 1941) beeinflusste die Geschichtswissenschaft seit den 1970er-Jahren maßgeblich und gilt zusammen mit Hans-Ulrich Wehler (1931-2014) als Begründer der „Bielefelder Schule“, die für eine Historische Sozialwissenschaft eintrat. Mit gerade 32 Jahren war Kocka 1973 an die nur wenige Jahre zuvor gegründete (Reform-)Universität Bielefeld berufen worden. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2009 war er Professor für die Geschichte der industriellen Welt an der Freien Universität Berlin. Seit 1992 baute er als Leiter den Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien in Potsdam auf, aus dem das heutige Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam hervorging. Außerdem war er Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung sowie Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 1975 gründete er die Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft, die er bis 2008 mitherausgab. Für sein Wirken ist er vielfach ausgezeichnet worden, u. a. mit dem Leibniz-Preis der DFG, dem Historikerpreis der Stadt Bochum, dem Internationalen Holberg-Gedenkpreis und dem Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland.
Jürgen Kocka hat etliche Bücher zur Geschichte der Arbeit und der kapitalistischen Klassengesellschaft, zu Arbeitermilieu und Bürgertum usw. im 19. und 20. Jahrhundert veröffentlicht und unzählige Artikel in Sammelbänden und Fachzeitschriften verfasst.
Anlässlich des Inkrafttretens der Reichsverfassung Bismarcks am 16. April 1871 sprach Yves Müller mit Jürgen Kocka über die Geschichte Preußens und des Kaiserreichs, die Demokratisierung in Deutschland, über unser Verhältnis zur Nation und aktuelle Tendenzen der Geschichtsschreibung. Das Interview bildet den Auftakt zu einem z|o-Themenschwerpunkt zur Erinnerungs- und Rezeptionsgeschichte Preußens und des Kaiserreichs, der fortlaufend ergänzt wird.
Es mutet paradox an: Nach 1947, dem Jahr, in dem der Alliierte Kontrollrat den preußischen Staat für aufgelöst erklärt hatte, setzte in den deutschen Geschichtswissenschaften, der Publizistik und in der Politik eine Diskussion ein, wann Preußen zu bestehen aufgehört habe.[1] Das so nahe liegende Jahr 1947 vermochte als Schlusspunkt indes wenig zu überzeugen. Diskutiert wurden andere Epochenjahre als Zäsur zwischen Bestehen und Nicht-Bestehen: Hatte Preußen nicht bereits 1945 mit dem Zusammenbruch jeglicher staatlichen Ordnung zu existieren aufgehört? Oder schon 1933/34 mit der Gleichschaltung, die den Ländern ihre Eigenständigkeit beraubte? Oder doch am 20. Juli 1932, als mit dem „Preußenschlag“ die demokratisch gewählte Regierung Otto Brauns abgesetzt und die Staatsgewalt auf den Reichskanzler übertragen wurde? War nicht die Monarchie seit jeher ein integraler Bestandteil preußischer Geschichte gewesen, sodass ihr Ende in den kalten Herbsttagen des Jahres 1918 zu verorten ist, als Wilhelm II. als Kaiser und König abdankte und in das niederländische Exil flüchtete?
Frauenbewegungen in ihren „langen Wellen“ (Ute Gerhard) weisen historische ‚Interferenzen‘ auf, die sich insbesondere an Konflikten, Brüchen ebenso wie Solidaritäten und Bündnissen zeigen. Diese Phänomene lassen sich in Frauenbewegungskontexten über große Zeiträume hinweg nachweisen.
In der Frauenbewegung des Kaiserreichs spielte der Konflikt zwischen bürgerlichen und proletarischen Frauen eine besondere Rolle, denn er führte hier zu einer selbstständigen Organisation und gezielten Mobilisierung von Arbeiterinnen jenseits der bürgerlichen Frauenvereine. Diese Konstellation erzeugte in der Geschichtsschreibung der Frauenbewegung, die mit den Aktivistinnen der ersten Welle einsetzte, von Beginn an Streitigkeiten darüber, wer zur Frauenbewegung zählte oder besser: wer nicht dazu gehören sollte.
In der Historiographie der Frauenbewegung, die anfangs von Aktivistinnen betrieben wurde, die sich selbst zum Forschungsgegenstand machten und damit ein politisches Programm verfolgten, dominierte lange die Betonung der Differenz. Die jüngere Forschung hat zwar den Blick geweitet, um der Heterogenität der Frauenbewegung im Kaiserreich Rechnung zu tragen, aber schreibt paradoxerweise die Marginalisierung der proletarischen Frauenbewegung tendenziell fort, indem sie sowohl ältere Narrative aus der Forschung übernimmt als auch implizit gegen die Renaissance der „Klassenfrage“ in der zweiten Rezeptionswelle der 1970er Jahre gerichtet ist.
Eine (schlaglichtartige) Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte erscheint lohnenswert, da dadurch Schieflagen und deren Ursachen offengelegt werden können. Wir vertreten in diesem Beitrag die These, dass sich das zeitgenössische Schicksal des doppelten Paria-Daseins der organisierten Proletarierin im Kaiserreich auf traurige Art und Weise in der gegenwärtigen Forschung wiederholt: Einerseits wird ihre Geschichte politisch marginalisiert, weil sie eine Frau ist, und andererseits, weil ihr als Sozialdemokratin/Sozialistin bis heute die eigene Autonomie abgesprochen wird.
Unser Beitrag versteht sich als Aufschlag einer möglichen Debatte und möchte dazu anregen, die proletarische Frauenbewegung als wichtige Referenzfigur der deutschen Frauenbewegungsgeschichte (wieder) wahrzunehmen, um der Heterogenität der Frauenbewegung(en) des Deutschen Kaiserreichs in einem intersektionalen Sinne gerecht zu werden.
Pünktlich zum 150. Jahrestag der Reichsgründung von 1871 ist die öffentliche Debatte über die Modernität des deutschen Kaiserreichs wieder voll entbrannt. Den Anstoß gaben Eckart Conze und Hedwig Richter mit ihren jüngsten Veröffentlichungen zum Reichsgründungsjubiläum.[2] Über alle Streitpunkte hinweg sind sich die gegensätzlichen Positionen in einem Punkt erstaunlich ähnlich: Das Königreich Preußen war so etwas wie das konservative Bollwerk gegen die Parlamentarisierung und Demokratisierung des Kaiserreichs. Gestritten wird eigentlich nur über die Frage, ob dieses Bollwerk bis 1914 noch unerschütterlich feststand (Eckart Conze) oder ob seine Mauern bereits zu bröckeln begonnen hatten (Hedwig Richter).
As the biggest commercial city in Tanzania today, Dar es Salaam features a number of German colonial memory sites which range from buildings, statues to open spaces. Formerly existing as a small caravan town exclusively owned by the Arab Sultan of Zanzibar, Dar es Salaam was further developed by the Germans who used it as their capital (Hauptstadt) beginning in the late 19th century. After the WWI, the city continued to serve as the capital in British mandate period until it was inherited by the independent government of Tanzania in 1961.
Im Juni 2020 nahm Emery Mwazulu Diyabanza einen aus dem Tschad stammenden hölzernen Grabpfosten aus dem 19. Jahrhundert und versuchte hiermit das Museum zu verlassen. Er rechtfertigte seine Tat, dass er gestohlenes Eigentum zurückfordere. Im Oktober verurteilte ein Gericht ihn wegen Diebstahl zu einer Geldstrafe. Der aus dem Kongo stammende Diyabanza dokumentierte die Aktion auf youtube und leistete hiermit einen Beitrag für die aktuelle Debatte um Restitution von Objekten, die in kolonialen Kontexten erworben wurden.
„Wem gehört Kulturgut?“ – Diese Frage wird in den letzten Jahren verstärkt diskutiert. Die Aufmerksamkeit für koloniale Sammlungen wird dabei durch Forderungen aus den sogenannten Herkunftsländern oder Interventionen wie dem Sarr/Savoy-Bericht bestärkt. Sie trifft auf eine Diskussion um Deutschlands koloniale Vergangenheit, die sich derzeit vor allem an Forderungen der Herero und Nama, an Straßennamen, am Humboldt Forum oder an Diskussionen um Rassismus festmacht.
In der aktuellen Debatte wird dabei oft übersehen, dass bereits vor einigen Jahrzehnten intensive Debatten um postkoloniale Restitution geführt wurden. Ziel dieses Beitrages ist es, diese Fragen an einem historischen Beispiel zu untersuchen und verschiedene Perspektiven auf die Frage, wem Kulturgut gehört, aufzuzeigen.
The debates about what to do with collections from colonial contexts, and how to deal with them, have developed pace and unexpected momentum in the last three years. This is especially true for artifacts from the African continent, whether they are in museums or collections in Europe, North America, or elsewhere outside the continent. But the same is true under different circumstances, and we do not want to pass over this, for colonial collections and museums in Africa. Let's take a closer look at both in light of recent debates.
The discussions about whether, to whom and when under which circumstances a return, or rather indeed: an unequivocal restitution is appropriate or not, have recently experienced differentiations. This applies already to the preconditions of most restitutions, namely the opening and making accessible of the inventories. While some think that in principle everything should be put online, another opinion maintains that whenever possible, the creators or original holders should have their say beforehand, especially in the case of 'sensitive' objects such as those containing human remains, of a sacred nature, or photographs of contexts of violence. This has also brought other issues into focus – questions about the various forms of rights of disposal, about the forms and functions of museums in Africa, and in Europe and elsewhere.
Auf dem Höhepunkt der internationalen Auseinandersetzung um postkoloniale Restitutionsfragen tagte im Mai 1980 erstmals ein neuer UNESCO-Ausschuss mit der kuriosen Bezeichnung Intergovernmental Committee for Promoting the Return of Cultural Property to Its Countries of Origin or Its Restitution in Case of Illicit Appropriation. Das kurz ICPRCP genannte Komitee sollte als vermittelnde Instanz zwischen Kulturgüter besitzenden und zurückfordernden Staaten tätig werden. Doch seine Gründung wurde, davon zeugt dieser Name, von heftig geführten Deutungskämpfen über die zentralen Begriffe „restitution“ und „return“ begleitet.
Restitution, Rückgabe, oder auch Transfer gehören heute zum Standardvokabular von postkolonialer Museumspraxis und auswärtiger Kulturpolitik, in der medialen Berichterstattung werden sie oft synonym verwendet. Dabei waren diese Termini ursprünglich eng mit divergierenden Interpretationen der kolonialen Vergangenheit, institutionellen Selbstverständnissen und entwicklungspolitischen Interessen verbunden.
Ursprünglich anlässlich der Eröffnung des Humboldt-Forums geplant, fiel die Konzeption dieses Themenschwerpunkts in ein Jahr, das, bereits während es noch stattfand, zum einschneidenden Epochenjahr, ja zur historischen Zäsur erklärt wurde. Geprägt von der Lebens- und Arbeitswirklichkeit, den öffentlichen und akademischen Debatten dieses Ausnahmejahres, dehnte sich auch dieses Dossier aus, und sollte nicht länger allein (zeitgeschichtliche Perspektiven auf) postkoloniale Restitution in Deutschland thematisieren, sondern die Besonderheiten und Schwerpunkte seines Entstehungsjahres spiegeln, das postkoloniale Fragen immer wieder und auf mannigfaltige Weise in den Vordergrund spielte. An dieser Stelle möchte ich den unter erschwerten Bedingungen arbeitenden Autor:innen, deren Texte ich im Folgenden einzeln vorstellen werde, herzlich danken.
Emmanuel Macron ist nicht nur der erste französische Präsident, der nach der Kolonialzeit seines Landes geboren wurde, sondern auch der erste, der unumwunden von einer Kolonialschuld spricht und bereits 2017 – unter zum Teil heftiger Kritik – sein Vorhaben andeutete, Rückführungen von Kulturobjekten in ihre Herkunftsländer im Globalen Süden anzuregen. Nach seiner Wahl beauftragte er die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und den senegalesischen Intellektuellen Felwine Sarr damit, einen Bericht zu verfassen, der darlegen sollte, wie ein solches Verfahren gelingen kann.
Im Gegensatz zu Deutschland ist auf politischer Ebene in Frankreich also recht viel in Bewegung. Allerdings ist die Resonanz aus der Bevölkerung – wiederum anders als im deutschsprachigen Raum – zurückhaltender, wie Bénédicte Savoy im Gespräch mit Gabriele Metzler berichtet. Das Videointerview war Teil der Vorlesung Der lange Nachhall des Kolonialreichs. Deutsche Geschichte im europäischen und globalen Kontext seit 1919, die Metzler im ersten pandemiebedingt digitalen Universitätssemester, dem Sommersemester 2020, an der Humboldt-Universität zu Berlin hielt. Mit freundlicher Genehmigung der Gesprächspartnerinnen durfte es an dieser Stelle veröffentlicht werden.
Dreißig Jahre nach der deutschen Vereinigung werden vor allem Stimmen lauter, die einen grundlegenden Perspektivwechsel in der Geschichtsschreibung fordern: Erfahrungen und Perspektiven von People of Color, Jüdinnen und Juden sowie Geflüchteten sollten stärker in die Betrachtung der „Wiedervereinigung“ und der anschließenden Transformationsprozesse einbezogen werden. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der 2020 erschienene Herausgeber*innenband Erinnern stören von Lydia Lierke und Massimo Perinelli.
Ein Blick auf Quellen der Umbruchszeit zu Beginn der neunziger Jahre verdeutlicht: Diese Erfahrungen wurden durchaus zeitgenössisch festgehalten – in Filmen, sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, Fotografien und Interviews. Vor allem dokumentarische Filme wurden von aktivistischen und subkulturell links geprägten Milieus produziert, verblieben aber lange in internen Rezeptionsschleifen, ohne Eingang in größere gesellschaftliche Debatten zu finden. Dabei stellten sie durch die Perspektive auf die Betroffenen Zusammenhänge zwischen alltäglicher Diskriminierung und der Gewalt seitens extrem Rechter her.
[...]
Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht, die verstärkt darauf dringt, das Augenmerk auf Rassismus, politischen Nationalismus und Rechtsextremismus zu legen, gilt es, diese Diskursverschiebungen ebenso nachzuzeichnen wie zeitgenössische Quellen in ihrer Entstehung und Rezeption zu historisieren. Exemplarisch soll hier der Dokumentarfilm Stau – Jetzt geht’s los von Thomas Heise (Deutschland 1992) als eine Schlüsselquelle besprochen werden, die verständlich machen kann, welche Perspektiven und Fragen Anfang der neunziger Jahre in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema Rechtsextremismus im Vordergrund standen.
„Mit Angst, Hass und entgrenzter Gewalt – und nicht mit Sektflaschen begann die Deutsche Einheit für Linke, Deutsche mit Migrationshintergrund, Ausländerinnen und Ausländer in vielen ostdeutschen Städten“, kommentierte unlängst Christian Bangel den 3. Oktober 2020 in DIE ZEIT. „Das war nicht nur ein schlechter Start der Deutschen Einheit. Es war ein Fanal für die neuen Zeiten.“ Tatsächlich bekamen die rechten Gewalteskalationen im Übergang von der DDR zur vereinigten Bundesrepublik, die von körperlicher Bedrohung und Herabsetzung bis zu tödlichen Angriffen reichten – zuletzt immer mehr Aufmerksamkeit. In manchen Regionen hatte diese „Gewalt der Vereinigung“ vor allem für nicht-weiße Personen, Wohnungslose und Linke eine permanente Bedrohungslage geschaffen.
Unter #Baseballschlägerjahre forderte Bangel vorletztes Jahr dazu auf, die Erinnerungen an die Vereinigungsgewalt zu teilen. Innerhalb einer Woche sammelten sich mehrere hundert kurze Einzelberichte an; im November 2020 veröffentlichte der RBB in Kooperation mit ZEIT ONLINE daran anknüpfend zusätzlich sechs Kurzfilme, die Schlaglichter auf einzelne Orte werfen und Geschichten von Bedrohung, Terror und Angst erzählen. Es gibt aber auch einige autobiographische Romane. Jene, die zu dieser Zeit ihre Jugend in Ostdeutschland erlebten, erzählen davon, wie sie angegriffen, bedroht und zusammengeschlagen wurden: Clemens Meyer in „Als wir träumten“ (2007), Peter Richter in „89/90“ (2015), Manja Präkels in „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (2017).
Die autobiografischen Texte stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages, da sie eine neue Perspektive auf die Erfahrung der Transformationsprozesse der Vereinigung eröffnen und sich mit einem anderen Phänomen der postsozialistischen Gesellschaft in Zusammenhang bringen lassen: der Abwanderung. Die enthemmte rechte Gewalt war für die in diesem Beitrag ausgewählten Berichtenden ein wichtiger Anlass, den Osten zu verlassen.
In West-Berlin existierten zur Hochzeit des Kalten Krieges zwei antinazistische Strukturen, die den gesellschaftlichen Umgang mit der extremen Rechten in der Viersektorenstadt einige Jahre lang prägten: Der Kampfbund gegen den Nazismus (KgN), der eigenen Angaben zufolge rund 200 Mitglieder hatte, und das Referat Neofaschismus (Referat N) im Bund der Verfolgten des Naziregimes (BVN), in dem ein fester Mitarbeiter und vielleicht ein Dutzend Unterstützer*innen tätig waren.
Der folgende Text beschäftigt sich mit Fragen danach, warum diese beiden Initiativen entstanden und wer in ihnen aktiv war. Vor welchen Kontinuitäten des Nazismus warnten sie, insbesondere mit Blick auf rechte Gewalt? Warum waren beide Institutionen, KgN und Referat N, nur über so kurze Zeit tätig? Hatten sie überhaupt politischen Einfluss?
Das Thema Vereinbarkeit von Mutterschaft und wissenschaftlicher Karriere wird seit einigen Jahren sehr intensiv diskutiert. Die Publikation von Sarah Czerney, Silke Martin und Lena Eckert geht einen neuen Weg, in dem nicht nur auf das Thema Elternschaft rekurriert, sondern auf ein allgemeines, in der Gesellschaft fest verankertes Bild der Frau als potenzielle Mutter. Es werden Erfahrungen von Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Fachgebieten in unterschiedlichen Funktionen gesammelt um ein diverses Bild der Problematik zu zeichnen. Die Unvereinbarkeit sei, so die Herausgeber:innen, den „symbolischen, psychischen, historischen, ökonomischen und politischen Koordinaten geschuldet“. In dieser thematischen Fokussierung wird nichts beschönigt, es werden keine Held:innengeschichten erzählt. Die Publikation ist vielmehr eine Bestandanalyse, die zu dem Schluss kommt: es braucht nicht nur eine Schärfung des Diskurses, sondern konsequente Veränderungen der wissenschaftlichen Praxis.
In Anlehnung an die Medienwissenschaftlerin Alexandra Schneider kann die Amateurkinematografie als eine kulturelle Praxis verstanden werden, die bestimmte Formen der Produktionstätigkeit, des von ihr sogenannten filmischen Texts und der Rezeption vereinte und verschiedene, soziale wie künstlerische, Funktionen erfüllte. Der Begriff des Amateurfilms umfasst alle möglichen Genres nicht kommerzieller Filmproduktion: Familien- und Urlaubsfilme ebenso wie Reportagen von politischen Ereignissen bis hin zu Werbe- und Imagefilmen sowie handlungsbasierten Spielfilmen, die entweder für den privaten Familien- und Freundeskreis oder für ein halb-öffentliches Publikum im Kontext von verschiedenen Vereinen und Organisationen bestimmt waren.
Befasst sich die historische Forschung mit Fotografie, so teilen sich die Quellen grob in vier verschiedene Zugangsarten auf: veröffentlichte Bilder in Printmedien, in Ausstellungen, semi-öffentlich-zugängliches Bildmaterial aus Archiven/Sammlungen oder privaten Archiven sowie der immer wichtiger werdende Bereich der Social Media. Mit der digitalen Fotografie und der Nutzung des Internets als Informationspool und für zwischenmenschliche Kommunikation ist Instagram dabei zu einer zentralen Social Media-Plattform zum Teilen visueller Inhalte avanciert. Die Richtlinien für akzeptiertes Material und die Nutzungsbedingungen legt die Betreibergesellschaft selbst fest.
Wir gehen im Folgenden der Frage nach, in welchem Verhältnis die veröffentlichten Bilder auf der zeitgenössischen populären Plattform zur allgemeinen Öffentlichkeit von Ausstellungen und Presse stehen. Welche bildethischen Vorstellungen drücken sich in den Praktiken von Instagram aus? Und inwieweit kann das digitale öffentliche Bildersammeln als Archiv gelten und auf gesellschaftliche zeithistorische Fragen Antworten geben?
Es ist notwendig, ein kritisches Bewusstsein über die Rolle und Funktion von Bildern in antisemitischen Diskursen zu schaffen und durch die Vermittlung von Medienkompetenz antisemitische Kommunikation durchschaubar zu machen. Außerdem sollten durch historisierende Bildanalysen solche Elemente herausgearbeitet werden, durch die antisemitische Bilder von anderen visuellen Aussagen unterschieden und abgegrenzt werden können.
Pelze Multimedia, von Gästen liebevoll das „Pelze“ genannt, war ein Ladenlokal in einem zunächst besetzten Haus in der Potsdamer Straße 139 in Berlin-Schöneberg. Zwischen 1981 und 1996 eigneten sich FrauenLesben* den Raum kollektiv organisiert und experimentell an. Der Dokumentarfilm „Subjekträume“ (D 2020) handelt vom subkulturellen Ort Pelze Multimedia. Die Entstehung und Produktion eines Dokumentarfilms, so die Regisseurin Katharina Voß und die wissenschaftliche Berater*in Janin Afken, ist durchsetzt mit ethischen Fragen. Beide trafen sich mit der Filmhistorikerin Sarah Dellmann zum Gespräch über (bild-)ethische Aspekte in der Produktion von „Subjekträume“.
Es sind ethische, nicht historische oder ästhetische Fragen, mit denen die Dokumentarfotografin Janina Struk in den letzten Absätzen ihrer Studie „Photographing the Holocaust“ die Leser*innen konfrontiert. Sie gibt zu bedenken, ob nicht die heutige Verwendung der von Tätern gemachten Fotos einer konspirativen Demütigung der fotografierten Opfer gleichkäme und die abgebildeten Leidensmomente aktiv fortsetze und wiederhole, während Millionen Besucher*innen dabei zusehen.
Ausgehend von Theodor W. Adornos Auffassung, dass Kunst sprechen lasse, »was die Ideologie verbirgt«, werden im vorliegenden Beitrag in der DDR entstandene künstlerische Landschaftsdarstellungen als mediale Beglaubigungen eines gleichermaßen realen wie teleologisch verstandenen Sozialismus in den Blick genommen. In der DDR spielte Landschaft und ihre mediale wie ästhetische Repräsentation eines Zusammenhangs aus Natur, Kultur, Interpretation, Leben und Arbeit eine zentrale Rolle. Denn mit Landschaftsdarstellungen lässt sich der »authentische« Lebensstil einer Gesellschaft verräumlichen und ermöglicht so historische Aufschlüsse sowohl über Authentisierungsstrategien des Sozialismus als auch über die problematische Referentialität des Authentischen, einschließlich seiner Bedeutung in der politischen Kommunikation. Der Vergleich von DDR-Landschaftsdarstellungen unterschiedlicher Dekaden zeigt darüber hinaus verschiedene Strategien der Verzeitlichung des Raumes. Dies wird hier exemplarisch an zwei Filmen und einem Gemälde über Montanlandschaften untersucht: dem Spielfilm »Sonnensucher« (1958) von Konrad Wolf und der Serie »Columbus 64« (1966) von Ulrich Thein sowie dem Gemälde »Hinter den sieben Bergen« (1973) von Wolfgang Mattheuer.
Der Beitrag untersucht, inwiefern dem Comic aufgrund seiner medienspezifischen Merkmale das Potenzial für eine authentische Darstellung der Vergangenheit zugeschrieben bzw. abgesprochen wurde. Im Mittelpunkt der Analyse stehen in Deutschland zwischen 1965 und 2015 veröffentlichte Geschichtscomics über den Ersten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund einer in der Geschichtsdidaktik entwickelten Typologie von (historischer) Authentizität im Comic werden die dort angewandten Authentisierungs- und Beglaubigungsstrategien untersucht. Besondere Bedeutung kommt dabei der seit den 1970er Jahren anzutreffenden Auffassung zu, der Erwachsenen- bzw. Autor*innencomic sei ein besonders geeignetes Ausdrucksmittel des authentischen Selbst und verfüge gerade über die deutliche Ausstellung der subjektiven Sicht der Verfasser*in auf die Vergangenheit über besondere Authentizität.
Mehrere Männer und Jungen werden an einem Militärcheckpoint kontrolliert, ließe sich auf den ersten Blick über obiges Foto festhalten. Im Zentrum des Bildes steht ein Mann in Lederjacke, zerissenem Netzhemd über der nackten Brust, enger Hose und Springerstiefeln, der die Kontrolle bereits durchlaufen hat und einen bewaffneten Soldaten passiert, der wiederum auf sein Gewehr gestützt am linken Bildrand zu sehen ist. Dass es sich bei zwei der Personen auf dem Foto jedoch um Mitglieder der britischen Punkband The Clash und damit international gefeierte Stars der Musikszene jener Jahre handelte, verändert die Wahrnehmung des Bildes grundlegend: Es ist ein Beispiel für den auswärtigen Blick auf eine von Gewalt geprägte Gesellschaft und die visuelle Konstruktion verschiedener Männlichkeiten darin.
Der Beitrag untersucht Authentizitätskonstruktionen und ihr Verhältnis zu Medialität im deutschsprachigen Mediendiskurs über »altes« Handwerk, handwerkliches Selbermachen und Do It Yourself (DIY) seit 1990. Dabei wird ebenfalls auf historische Spezialdiskurse eingegangen, auf welche die Deutungen in der Gegenwart zurückgreifen. Drei Paradoxien strukturieren die Untersuchung: das Paradoxon der materialbasierten Entmaterialisierung, das Paradoxon der schnellen Entschleunigung und das Paradoxon der massenmedialen Fortschrittskritik. Daran wird deutlich, dass Medien Authentizität zuschreiben und dabei in einen Widerspruch zu ihrer eigenen Verfasstheit gelangen. Über den Gegenstand »Handwerksdiskurs« hinaus wird dies als inhärenter Bestandteil von Authentisierungsstrategien identifiziert.
Die TV-Serie »Holocaust« hat die deutsche Erinnerungskultur maßgeblich geprägt. Dabei war die Serie umstritten, unter anderem wegen ihres fiktionalen Charakters und wegen teilweise ahistorischer Stellen. »Wenn die nicht mal das richtig machen, dann stimmt auch alles andere nicht«, lautete ein Vorwurf an die amerikanischen Serienmacher. Das deutsche Fernsehen antwortete auf »Holocaust« mit Projekten, die eine besondere Form von Authentizität für sich reklamierten: Verfilmungen nach einer wahren Begebenheit, für deren Authentizität Zeitzeug*innen bürgten. Die TV-Serie »Ein Stück Himmel« war die größte Antwort auf »Holocaust« Anfang der 1980er Jahre. Sie erzählt das Überleben des jüdischen Mädchens Janina David. Der Aufsatz schildert, inwiefern Adaptionen zulasten von Authentizität gehen. Das TV-Team stand vor großen Herausforderungen, eine ansprechende Form von seriellem Erzählen mit Authentizität in Einklang zu bringen. Entsprechend gab es am Set heftige Kontroversen. Deutlich wird: Authentizität ist ein skalierbarer Wertbegriff. Er basiert auf verschiedenen Zuschreibungen, mit denen Akteur*innen ihre unterschiedlichen Interessen zur Realisierung oder Vermarktung der Serie argumentativ aufladen.
Historische Authentizität im Spielfilm. Ein Zusammenspiel von Ähnlichkeits- und Differenzerfahrung
(2021)
Der Beitrag beschäftigt sich mit Diskursen, Konzepten und Konventionen von »historischer Authentizität« in populären fiktionalen Spielfilmen, insbesondere, aber nicht ausschließlich im deutschsprachigen Kontext. Der erste Teil widmet sich einer typisch deutschen Tradition der Verknüpfung von filmischer Geschichtsdarstellung und Realismus, die als notwendige Grundlage für die Forderung nach Authentizität in fiktionalen Ausdrücken begründet wird. Der zweite Teil erläutert ein theoretisches Modell, das die Herstellung des Realismus-Eindrucks als Zusammenspiel von ästhetischer Ähnlichkeits- und Differenzerfahrung begreift. Wie sich dies für die Analyse von historisch situierten Spielfilmen anwenden lässt, erläutert der dritte Teil des Beitrags, der zugleich eine Systematisierung von ästhetischen Strategien der Authentifizierung vorschlägt. Zum Abschluss, im vierten Schritt, wird ein Ausblick auf mögliche Bezugspunkte für eine verstärkt kritische Auseinandersetzung mit dem Thema »historische Authentizität im Spielfilm« gegeben.
Dieser Aufsatz untersucht die Inszenierung des Authentischen und seine politische Funktion an ausgewählten Beispielen von Wochenschauen aus der Bundesrepublik und der DDR in den 1950er und 1960er Jahren. Für die damaligen Zuschauer*innen stand das Authentizitätsversprechen der bewegten Bilder in einem Spannungsverhältnis zur offensichtlichen Inszenierung des Politischen, nicht zuletzt nach den Erfahrungen in der NS-Diktatur. Die folgenden Überlegungen zeigen, dass Authentizität und Ideologie dennoch keine Gegensätze waren, sondern sich bedingten. Die Inszenierung der Ideologie durch den Einsatz von nicht-fiktivem Bildmaterial, dem die Zuschauer*innen Authentizität zuschreiben konnten, war geradezu die Voraussetzung dafür, dass die erhoffte propagandistische Wirkung erzielt werden konnte.
Wie stellt sich das Verhältnis von Authentizität, Medien und Geschichte unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Moderne dar? Der Text führt kursorisch in dieses Dreiecksverhältnis ein und zeigt die Probleme auf, in die das Konzept von Authentizität angesichts der Unvermeidbarkeit von Medien in historischen und generell kommunikativen Zusammenhängen führt. Plädiert wird daher für eine heuristische Perspektive, die solche Widersprüche und Spannungen für die Analyse von Geschichtsbildern sowie in historischer Perspektive produktiv macht.
Der Beitrag geht der filmischen Konstruktion von Authentizität nach. Hierfür werden zunächst verschiedene filmtheoretische Positionen zum Realitätsgehalt von fotografischen Bildern vorgestellt, um divergierende Konzeptionen von Realität aufzuzeigen. Anschließend werden unterschiedliche filmische Verfahren aus dem Bereich des Dokumentarfilms besprochen, die zum Eindruck von Authentizität beitragen. Um die paradoxale Struktur des Authentischen aufzuzeigen, werden die eingangs vorgestellten filmtheoretischen Überlegungen anhand des Spielfilms »Come Back, Africa« (1959) diskutiert. Abschließend beschäftigt sich der Beitrag mit der Inszenierung der Produktion von dokumentarischen Bildern, mit der die Fernsehserie »Holocaust« (1978) und der Spielfilm »Son of Saul« (2015) die Glaubwürdigkeit ihrer Erzählung unterstreichen.
Geschichtszeichen gehen von einer gewissen geografischen oder historischen Ferne aus, von der man ein Ereignis (z.B. die Französische Revolution von Königsberg aus) betrachtet und als erhabenes Zeichen eines Wendepunkts in der Geschichte begreift. 1940 veröffentlichte der Militärhistoriker Felix Hartlaub seine Dissertation: »Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto«. Hierin konstruiert er die Seeschlacht der siegreichen Abwehr des Osmanischen Reichs im Jahr 1571 als Geschichtszeichen. Doch während seiner Tätigkeit als Kriegstagebuchschreiber im »Führerhauptquartier Wolfsschanze« (1943-1944) erlebte er das Militär aus zu großer Nähe, sodass der Geist seines Heldenepos in den letzten Jahren des Krieges von seiner Erfahrung im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) regelrecht zerschreddert wurde. Die Neuausgabe seines »Lepanto-Buchs« erfährt in den letzten Jahren eine große Resonanz im Lager der Neuen Rechten. Man geht auf Tuchfühlung mit einem Geschichtszeichen, von dem man sich eine mythische Ausstrahlung erhofft.
Potsdam 1993: In einer Broschüre zur Stadtentwicklungsplanung trifft Urbanität auf Naturraum: drei Hochhäuser am Wasser. Eine attraktive Wohnlage? Oder eine Störung des Bildes einer Stadt, die hier nur ausschnitthaft zu erkennen ist? Ohne Kontext lässt sich dieses Foto vielfach interpretieren. Es könnte der Eindruck entstehen, die drei Gebäude seien brachial in die Erde gerammt worden und würden den idyllischen Uferbereich stören. Oder strecken sie sich symbolisch, gar majestätisch gen Himmel und stehen für technischen Fortschritt und modernen Wohnkomfort in einer Großstadt mit Wasserlage?
Noch stärker als die Folgen des Ersten Weltkriegs wurde die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg durch dessen Visualisierung in der Fotografie und im Film geprägt: durch die NS-Kriegspropaganda ebenso wie durch private Fotografien des Kriegsgeschehens oder auch durch Dokumentationen von Kriegsverbrechen. Während zum Kriegsende hin die NS-Propaganda mit Bildern und Filmen den „Durchhaltewillen“ steigern sollte, dokumentierten die alliierten Medien die nun zu Tage tretenden Massenverbrechen der Nationalsozialisten. Daneben findet sich auf deutscher Seite in den letzten Kriegswochen eine Fotografie der „Katastrophe des Krieges“, die nun auf deutschem Boden stattfand. Parallel entstanden so zwei Bilderwelten, die sich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten wenig berührten, jedoch Strategien unterschiedlicher Erinnerungsdiskurse zum Ausdruck brachten.
Christoph Classen, Achim Saupe, Hans-Ulrich Wagner
Wie stellt sich das Verhältnis von Authentizität, Medien und Geschichte
unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Moderne dar? Der Sammelband
führt kursorisch in dieses Dreiecksverhältnis ein und zeigt die Probleme
auf, in die das Konzept von Authentizität angesichts der
Unvermeidbarkeit von Medien in historischen und generell kommunikativen
Zusammenhängen führt.
Mit Beiträgen von: Christoph Classen, Miriam Frank, Juliane Hornung,
Judith Keilbach, Sylvia Kesper-Biermann, Georg Koch, Helmut Lethen,
Michael Ostheimer, Raphael Rauch, Brigitte Sahler, Magdalena
Saryusz-Wolska, Achim Saupe, Franziska Schaaf, Julia Schumacher, Daniel
Siemens, Katja Stopka, Hans-Ulrich Wagner
Der Aufsatz präsentiert die multimediale Geschichte des Romans, Hörspiels und Fernsehfilms »Am grünen Strand der Spree«, die zwischen 1955 und 1960 in Westdeutschland publiziert wurden. Darin schildern der Autor Hans Scholz bzw. die Regisseure Gert Westphal und Fritz Umgelter unter anderem die Massenerschießung von Juden in der sowjetischen Stadt Orscha im Herbst 1941. Der Romanautor beteuerte, die Beschreibung basiere auf seinen eigenen Kriegserinnerungen, und nahm für sich die Position eines Augenzeugen in Anspruch. Zugleich passte er das Bild des Verbrechens an die mutmaßlichen Erwartungen seiner Leser*innen an. Ähnlich agierten die Regisseure des Hörspiels und Fernsehfilms. Jede Version entfernte sich von den Ereignissen, die während des Ostfeldzugs tatsächlich stattfanden, und ähnelte zunehmend den Erzeugnissen der bundesdeutschen Erinnerungskultur, die Leid und Heldentum deutscher Soldaten in den Vordergrund stellte. Nichtsdestotrotz hielten die Rezipient*innen – darunter zahlreiche Kriegsveteranen – die Szene aus Orscha für besonders »authentisch«. Anhand von Aussagen in zeitgenössischen Besprechungen, Briefen und Interviews wird die Vorstellung von angeblich »authentischen Kriegsbildern« in der Bundesrepublik diskutiert.
Der Beitrag widmet sich dem Spannungsfeld von Authentizität und Medien am Beispiel der New Yorker High Society und der Gesellschaftsberichterstattung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum stehen die New Yorker Millionäre Margaret (1902-1983) und Lawrence Thaw (1899-1965), die in den 1920er und 1930er Jahren um die Welt reisten und dabei neben zahlreichen Amateurfilmen professionelle Reisefilme mit der National Geographic Society und bedeutenden Hollywoodstudios drehten. Der Beitrag beleuchtet zum einen die narrativen und visuellen Authentisierungsstrategien der Gesellschaftsberichterstattung, die stets auf das scheinbare Privatleben ihrer Protagonist*innen abzielte. Zum anderen untersucht er, wie die Thaws eben diese Strategien in ihren Filmen reflektierten und in ein anderes Medium übersetzten. In diesem Zusammenhang stellt sich auch grundsätzlich die Frage, welchen spezifischen Quellenwert nicht-fiktionale Filme für die historische Forschung haben.
Ziel dieses Aufsatzes ist es, Authentizität als medienwissenschaftliche Analysekategorie im geschichtsdokumentarischen Kontext zu konturieren und nach Besprechung der Referenzebenen und dem Umreißen von Authentizität als Textstrategie und Zuschreibungsphänomen diese als interdiskursive Analysekategorie beispielhaft an der Serie »14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs« zu erproben. Die derzeitigen Vorstellungen »authentischer« Geschichtsdarstellung im doku-dramatischen Bereich implizieren demnach sowohl personalisierende als auch depersonalisierende Strategien. Dabei sind die unter den Kategorisierungen zusammengefassten Merkmale, die im Zusammenhang mit der Serie »14« als »authentisch« verhandelt werden, nicht disjunkt, sondern konturieren die Authentizität über wechselseitige Verweisstrukturen. Und da Authentizität nicht über einen Parameter garantiert werden kann, sondern als Verhältnis von Faktoren und in der Synthese des Ensembles im Text zu untersuchen ist, entsteht eine längere Liste von Merkmalen, welche die Zuschreibung des Prädikats »authentisch« anregen, die allerdings selbst nicht als abgeschlossen zu begreifen ist.
Der Beitrag beschäftigt sich mit den Gladiatoren-Darstellungen des französischen Salon-Künstlers Jean-Léon Gérôme, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit nahezu fotorealistischen Inszenierungen des antiken Alltagslebens große Berühmtheit erlangte. Herausgearbeitet werden die Authentizitätsstrategien des Künstlers, die als grundlegend für die Popularität seiner Werke bis ins 21. Jahrhundert betrachtet werden. Gérômes Vorgehen ist äußerst medienreflexiv und operiert mit einer Verschränkung von Authentizitätszuschreibungen auf mehreren Ebenen. Ein entscheidender Schritt zur Authentizitätssteigerung ist der Medientransfer von der Malerei zur Skulptur, der abschließend in zeitgenössische Praktiken der Wissensproduktion eingeordnet wird.
Geschichtsdokumentationen im Fernsehen stehen vor der Herausforderung, dem Publikum aktuelles, relevantes Wissen zu präsentieren und es gleichzeitig emotional anzusprechen. Dazu nutzen sie ein umfangreiches Repertoire an erzählerischen und gestalterischen Strategien, die auf zwei unterschiedliche Sphären des Authentischen verweisen: zum einen Legitimierungsstrategien, die auf eine Objektauthentizität abzielen und das Versprechen einlösen sollen, vergangenes Geschehen nach aktuellem Wissensstand darzustellen; zum anderen Emotionalisierungsstrategien, durch die Subjektauthentizität evoziert werden soll, die dem Publikum eine emotionale Teilhabe an dem Gezeigten ermöglicht. Beide Formen von Authentifizierungsstrategien finden sich in Fernsehdokumentationen zur Urgeschichte besonders deutlich, wie in dem vorliegenden Beitrag herausgearbeitet wird. Dabei zeigt sich auch, dass die Gestaltung der Fernsehbeiträge über das eigentliche Ziel hinausgeht und in einer stark durch gegenwärtige Fragen und Herausforderungen geprägten »Paläo-Poesie« mündet.
Ohne afroamerikanische Geschichte kann die amerikanische Geschichte und Gegenwart nicht verstanden werden. Christine Knauer zeichnet in ihrem Beitrag die Genese der afroamerikanischen Geschichtsschreibung nach und verweist auf die enge Verknüpfung von Geschichtsschreibung, Freiheitskampf und Bürgerrechtsbewegung im 19. und besonders im 20. Jahrhundert. Sie beschreibt die derzeitigen Forschungsansätze und -trends in der afroamerikanischen Historiografie, die auch in der europäischen sowie deutschen Amerikaforschung zunehmend bearbeitet werden.
Seit mehr als 20 Jahren publiziert der avant-verlag mit Sitz am Weichselplatz in Berlin-Neukölln für Liebhaber:innen – von Grafik und Kunst, von Literatur und Wort, von Comics und Graphic Novels. Mit Neugier und viel Herz werden aktuelle Bücher internationaler Größen und einzigartige Neuheiten sorgfältig ausgewählt, um zu zeigen, „was der Comic heute ist: ein sich stetig entwickelndes Medium mit literarischer Qualität“. Im Gespräch mit Public Historian und Visual History-Redakteurin Josephine Kuban gibt der Verlagsgründer Johann Ulrich Einblicke in das unverwechselbare Profil des avant-verlags, aber auch den deutschen Comic- und Graphic Novel-Markt sowie die Welt der Geschichtscomics.
Sebastian Dobson, freier Wissenschaftler auf dem Gebiet der frühen Fotografiegeschichte Japans und Ostasiens, hat gemeinsam mit Sabine Arqué, Dokumentarin, Bildredakteurin und Autorin mit den Themenschwerpunkten Tourismus und Fotografie, eine umfangreiche Monografie zu Fotografien Japans um 1900 vorgelegt. Der mit mehr als 700 zu einem großen Teil kolorierten Fotografien reich bebilderte, mit englischen, deutschen und französischen Texten versehene Band „Japan 1900: A Portrait in Color“ lädt ein zu einer „Reise durch Japan um die Jahrhundertwende“.
Als im Herbst 2017 der Berliner Antisemitika-Sammler Wolfgang Haney starb, wurden verschiedene Personen und Institutionen unruhig. Was wird aus der Sammlung? Kommt sie auf den Markt und geht als Gesamtwerk verloren? Welche Akteure und Logiken treten auf den Plan und konkurrieren um die ganze Sammlung oder um Einzelobjekte? Werden die Dauerleihgaben, die in großen Museen gezeigt werden, auf der Stelle zurückverlangt? Gibt es für öffentliche Einrichtungen Handlungsspielraum? Können, dürfen, sollen Steuergelder in den Ankauf judenfeindlicher Artefakte fließen? Wie werden sich die Erben verhalten?