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Der Schlaf scheint auf den ersten Blick eine „anthropologische Konstante“ zu sein. Eine Historisierung der Regeln und Praktiken des Schlafs im 20. Jahrhundert kann jedoch zeigen, wie eng Vorstellungen vom „richtigen“ Schlafen an die Machtstrukturen der Gesellschaft geknüpft waren. Dieser Artikel geht der Frage nach, auf welche Weise Arbeitgeber, Sozialplaner, Ärzte und Psychologen auf den Schlaf und damit auf den Körper, die Arbeitskraft und die Zeit des Individuums zuzugreifen versuchten. Anhand von fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen und Diskussionen, aber auch von populären Ratgebertexten wird in einem ersten Schritt untersucht, wie und warum der Rhythmus des Schlafs seit Ende der 1920er-Jahre zu einem stark beachteten Thema wurde. In einem zweiten Schritt geht es um die Veränderungen, die der Zweite Weltkrieg im Umgang mit dem Schlaf bewirkte. In einem dritten Schritt wird der entscheidende Bruch in der Mitte der 1950er-Jahre untersucht, der das schlafende und arbeitende Individuum zum Gegenstand einer modernen Schlafforschung und neuer Schlafregeln machte.
Soziale Ungleichheit hat viele Gesichter und stellt sich in verschiedenen Gesellschaftsformationen jeweils unterschiedlich dar.1 China ist ein besonders interessanter Fall, weil dort eine Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft unter der Ägide der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) abläuft. Sozialistisches Erbe und kapitalistische Gegenwart gehen also eine ungewöhnliche Verbindung ein. Vor diesem Hintergrund soll der vorliegende Beitrag zeigen, dass die heutigen sozialen Ungleichheiten in China nicht allein das Produkt der Hinwendung zum Kapitalismus sind. Gemäß der Humankapitaltheorie müsste in einer marktbasierten Gesellschaft die individuelle Bildung den größten Beitrag zur Erklärung bestehender Einkommensungleichheit liefern. In der Praxis sind aber auch in kapitalistischen Gesellschaften die Startvoraussetzungen der Einzelnen nicht gleich: Sie hängen stark von der sozioökonomischen Stellung der Eltern ab, sprich von deren ökonomischem und kulturellem Kapital. Über die Weitergabe des Status von einer Generation zur nächsten bilden sich typischerweise soziale Schichten heraus, die je nach Gesellschaft mehr oder weniger Durchlässigkeit aufweisen. In China kommt noch ein dritter Faktor hinzu: Die im Staatssozialismus angelegten sozialen Differenzierungen bilden die Basis für heutige soziale Ungleichgewichte. „Politisches Kapital“ spielt nach wie vor eine wichtige Rolle – Verbindungen zur Herrschaftselite und die Stellung im offiziellen politischen Diskurs besitzen entscheidenden Einfluss auf die Schichtungsergebnisse.
Im sozialistischen Polen war soziale Ungleichheit kaum ein Thema öffentlicher Debatten. Nach 1989 hingegen wurde sie zu einer Streitfrage, denn die Transformation erzeugte neue Formen von Armut und Reichtum bzw. machte auch ältere Formen stärker sichtbar. Hatten die Polen das politische Establishment der Volksrepublik abgewählt, weil die Regierung ihr Gleichheitsversprechen nicht hatte halten können, oder weil sie sich als unfähig erwiesen hatte, den Niedergang der Wirtschaft aufzuhalten? Meinungsumfragen, die von den 1960er-Jahren bis in die späten 1980er-Jahre durchgeführt wurden, geben darauf einige Antworten; sie werden im vorliegenden Beitrag erstmals systematisch herangezogen und quellenkritisch eingeordnet. Bis Mitte der 1980er-Jahre unterstützte ein großer Teil der Bevölkerung soziale Gleichheit und kritisierte soziale Unterschiede. Das änderte sich fundamental, als die soziale, politische und private Frustration der Bürger zusammenfiel mit einem tiefen wirtschaftlichen Niedergang. Nun wurde das bisherige System als Hindernis auf dem Weg zu radikalen marktwirtschaftlichen Reformen betrachtet. Dass mit solchen Reformen wachsende Ungleichheit verbunden sein würde, war den Befragten durchaus bewusst.
Neuere Täterforschung
(2013)
Im Zuge der Holocaust-Forschung ab den 1990er-Jahren wandte sich die Geschichtswissenschaft auf breiter Basis den Tätern zu. Frank Bajohr zeigt in seinem Beitrag, dass die sogenannte Neuere Täterforschung aber kein einfacher Königsweg zur Erklärung der NS-Verbrechen ist. Er versteht sie vor allem als Perspektive, die in den letzten Jahrzehnten eine empirische Rekonstruktion des Holocaust aus der Nahperspektive ermöglicht hat. Die Frage, warum jemand zum Täter wurde, lässt sich nicht monokausal beantworten, sondern verlangt eine multiperspektivische Sichtweise. Frank Bajohr plädiert daher dafür, „Täter“ und „Gesellschaft stärker zusammenzudenken“ und mit strukturellen und institutionellen Ansätzen zu kombinieren.
Informationelle Privatheit, also die Kontrolle darüber, was andere über mich wissen können und sollen, erscheint durch den digitalen Wandel, der unseren Alltag revolutioniert hat, gefährdeter denn je. Rund um die Uhr werden Daten über unsere persönlichen Interessen, Beziehungen und Gewohnheiten von kommerziellen Anbietern elektronisch gesammelt, ausgewertet und bei Bedarf auch staatlichen Stellen zur Verfügung gestellt. Man könnte sagen: Wir sind total „verdatet“.
Der Aufsatz entwirft eine Zeitgeschichte der Vorsorge, die sich für den hygienepolitischen Übergang von Praktiken der Intervention und Krisenbewältigung zu Praktiken der Prävention interessiert. Am Beispiel der Pestvorsorge in der Sowjetunion wird erstens ein Prozess der Institutionalisierung, Professionalisierung und Verwissenschaftlichung dargestellt. Zweitens werden die Eigenheiten des sowjetischen Falls herausgearbeitet. Die dortige Pestbekämpfung war bis in die 1930er-Jahre von Interventionen geprägt, die aus einem Repertoire repressiver, im Kontext der Zwangskollektivierung etablierter Maßnahmen schöpften. Der Umgang mit der Pest war nicht mit Aufklärung verknüpft, sondern mit Geheimhaltung. Die Einrichtung eines Netzwerks wissenschaftlicher Forschungsstätten führte zu einem Wandel im Umgang mit der Seuche. Dies war eingebettet in parallele Diskurse über administrative Grenzen und geographisches Wissen. Der Aufsatz stützt sich auf Quellen aus Staats- und Partei-Archiven in der Russischen Föderation und der Republik Aserbaidschan.
Propaganda gilt als politisches Kommunikationsmittel, um die Meinungen und Verhaltensweisen von Zielgruppen auf ein bestimmtes Ziel hin gerichtet zu beeinflussen. Wird in Deutschland der Propagandabegriff vor allem in den Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus gestellt, fand er in der Vergangenheit genauso Einsatz im religiösen Umfeld, in der französischen Revolution wie auch in der Werbebranche. Thymian Bussemer verweist auf die verschiedenen Arten der Propaganda seit dem 17. Jahrhundert und liefert einen Überblick über die Stationen der Propagandaforschung von historischen Überblicksarbeiten zu einer gesellschaftsgeschichtlichen Betrachtung.
Over the last few years, there has been an increasing interest in the concept of Fordism. It is no longer only used to describe a specific form of the organization of production. Rather, scholars stress the importance of a broader understanding. In my article, I pick up these discussions by showing, first, that a concept of Fordism only makes sense if the effects of the emerging consumer societies are seriously taken into account. Second, I argue in favor of a body history of Fordism, giving rise to the question as to what extent we might be able to speak of »Fordist bodies«. With reference to debates about periodization, third, I discuss how such an account fits into the history of industrialized societies since the late 19th century. By focusing on the discussion about post-Fordism, I argue that there is certainly some evidence for a »break« in the course of the 1960s and 1970s. Particularly from the perspective of body history, however, there are also indications that a reevaluation of the Fordist features of late 20th century societies is also called for.
In both the US and West-Germany, the history of the 1970s is perceived as a time of economic and cultural crises. More recent publications in both countries concentrate on political protest and reform movements. American studies, however, choose a wider focus, that could be inspiring for future German studies, through amplifying the crisis narrative with the everyday developments of the 1970s, ranging from new forms of consumption to tourism and mass sports. Moreover, successful movies and TV series were analysed to develop fundamental interpretations for the history of societies. Quite often, American publications succeed in connecting classical governmental policy with social history whereas German works tend to centre on either one of these aspects.
Quelle: Verlag
In France, the culture of secrecy continues to dominate access policies. The acceptance of or resistance to this culture by various social actors, including government officials, civil servants such as archivists, historians, independent scholars, and journalists, partly explains the historical tension between advocates of a more restrictive or liberal policy of access to government records deemed ‘sensitive’. Unlike the American case with its long-established right to access, in France, access to information is just starting to be considered a citizen’s right. Initial reactions to the first version of my book (1994) sparked a rather violent debate. In the controversy, most of the archivists and some influential historians either denied or justified the difficulty of accessing so-called ‘sensitive archives’. Indeed, thanks to the ‘invisibility’ of this question until then, a book dedicated to the ‘Vichy Syndrome’, which had been published some years before, did not even mention this problem as evidence of France’s difficulties in facing the past.
After a seven-year period of military dictatorship and following the reestablishment of parliamentary democracy in 1974, historical studies have been a continuously developing field in Greece. Similarly as in Spain and Portugal at much the same time, archives became accessible for academic historians. The general public’s expectations about the establishment of historical ‘truth’ concerning the recent past were pressing.1 It is against this backdrop that we propose to review the changing conditions of historical research and especially the challenges involved in gaining access to primary sources, in particular those related to ‘national matters’. We will try to show the ways in which the particularities of the Greek case have to do with the history of civil rights in the country in the twentieth century, both during the interwar years and – more dramatically – during the Cold War period.
Der Autor definiert die Funktionsbedingungen einer repräsentativen Demokratie und legt diese dann insbesondere für die Bundesrepublik Deutschland auf den Prüfstand. Medialisierung, technische Revolutionen und ökonomische Liberalisierung gefährden demnach zunehmend die Grundbedingungen für eine funktionierende nationale Demokratie; noch sei aber kein gangbarer Weg zu parlamentarischer Kontrolle internationaler Gremien gefunden worden. Doering-Manteuffel konstatiert einen freiwilligen Verzicht gewählter Repräsentanten auf Verantwortung, die statt dessen lieber ökonomischen Agenturen oder dem Bundesverfassungsgericht überlassen werde, und warnt insbesondere vor der Eigendynamik der Wirtschaft. In einer Demokratie müsse Verantwortung und Entscheidungskompetenz dagegen unbedingt bei einer gewählten und damit legitim abgesicherten Regierung liegen.
Militärgeschichte
(2013)
Krieg und Militär sind die beiden Hauptkomponenten der Militärgeschichte. Das Feld umfasst Forschungen zu militärischen Konflikten, zur sozialen Gruppe und Großorganisation Militär ebenso wie zu den Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zwischen Krieg und Militär auf der einen und der jeweiligen gesellschaftlichen Verfasstheit auf der anderen Seite. Jörg Echternkamp zeichnet in seinem Beitrag den thematischen und methodischen Wandel nach, der seit den 1990er-Jahren immer häufiger dazu führt, dass die Militärgeschichte ihren Blick vom Schlachtfeld auf die Kriegsgesellschaften richtet. Er beschreibt die wichtigsten Debatten und plädiert dafür, Militärgeschichte als zeithistorische Aufklärung zu verstehen.
Die zeithistorische Analyse und die Beschreibung von Widerstand und Opposition gehören zu den zentralen Gegenständen der Erforschung moderner Diktaturen. Dabei stehen Untersuchungen zum Widerstand in der DDR immer in engem Bezug zur NS-Forschung bzw. zu deren Definition des Widerstandsbegriffs. Rainer Eckert regt deshalb an, den Forschungsbereich Widerstand und Opposition in der DDR und damit auch für alle anderen kommunistischen Staaten stärker zu positionieren. Eine künftige Schwerpunktlegung auf die internationale als auch auf die regionale Ebene würde zudem die Perspektive schärfen. Ebenso könnten laut Eckert der Vergleich widerständiger Generationen und die Analyse der Verhältnisse und Differenzen innerhalb der verschiedenen Oppositionellengruppen sowie von Einzelpersonen neue Erkenntnisse bringen.
Diesen Spielfilm umgab nicht nur hierzulande lange ein hartnäckiges Missverständnis. Er feiere, so hieß es, eine glitzernde Scheinwelt, in der narzisstische Mitmacher konsumierten statt kritisierten. Er repräsentiere den neukonservativen Wertehimme der „Lord-Extra-Generation angepaßter Jungen und Mädchen“.1 Andere sahen eher Resignation und Flucht vor bedrückenden Gegenwartsproblemen. 1978, auf dem Höhepunkt der so genannten Disco-Welle, waren sich westdeutsche Beobachter aber darin einig, das massenhafte Tanzen zu elektronisch reproduzierter Musik als Anpassung und Entpolitisierung der jungen Generation deuten zu dürfen. Auch nachdem die Welle und die mit ihr verbundene Kulturkritik abgeflaut waren, blieb „Saturday Night Fever“ als belangloses „Sozialaufsteigerfilmchen“ gespeichert. Poststrukturalistisch gewendet lässt sich der Streifen als Auftakt zu einer Reihe international erfolgreicher Tanzfilme wie „Fame“ (1980), „Flashdance“ (1983) oder „Footlose“ (1984) verstehen, die in den neoliberalen 1980er-Jahren dem Publikum ein unternehmerisches Verhältnis zum eigenen Körper nahebrachten.
Der Homo Sovieticus und der Zerfall des Sowjetimperiums. Jurij Levadas unliebsame Sozialdiagnosen
(2013)
Der Mythos vom „neuen Menschen“ ist keine sowjetische Erfindung, sondern Teil der europäischen Ideengeschichte seit dem 18. Jahrhundert. Er nahm unterschiedliche Formen und Gestalten an, um zahlreichen politischen Ideologien zu überwältigenden Zielen und damit zu gesellschaftlichem Zuspruch zu verhelfen. In keinem anderen Land hatte der Mythos vom „neuen Menschen“ aber einen so starken Einfluss auf soziale Identitäten und politisches Handeln wie in der Sowjetunion. Die in den 1930er-Jahren zementierte Konzeption vom „Homo Sovieticus“ war zentral für die triumphale Selbstdarstellung des ersten sozialistischen Staats. Sie brachte eine historische Mission der Weltbefreiung und -eroberung und damit einen kollektiven Erlösungsglauben eindrucksvoll zur Anschauung. Darin ging sowohl das klassische marxistische Bild vom kämpferischen, siegreichen Proletariat ein als auch die überlieferte Vision von einer besonderen historischen Bestimmung des russischen Volks. Das sich aus den „neuen Sowjetmenschen“ bildende „Sowjetvolk“ werde aller Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende bereiten und neben der Freiheit auch den hehren revolutionären Idealen der Gleichheit und Brüderlichkeit den Weg in die Wirklichkeit ebnen.
Wie lässt sich soziale Ungleichheit in staatssozialistischen Gesellschaften konzeptionell fassen? Der Beitrag stützt sich auf neuere Ungleichheitskonzepte der Soziologie und führt die Debatte um das Verhältnis von Sozial- und Geschichtswissenschaften fort – im Hinblick auf aktuelle Fragen einer Gesellschaftsgeschichte der kommunistischen Diktaturen. Diskutiert werden die gewollten und ungewollten Verteilungen sozialer Vor- und Nachteile, die innergesellschaftlichen Diskurse über „Privilegien“ und „arbeiterlichen Egalitarismus“ sowie die sozialen Dynamiken im Vorfeld der Systemtransformationen Ende der 1980er-Jahre. Besonders am Beispiel der DDR zeigt der Aufsatz die „intersektionale“ Verteilung von Armut und Reichtum nach Einkommen, bürokratischen Mechanismen und Effekten des „grauen“ Marktes. Eine weiterführende These lautet: Es gab einen engen Zusammenhang zwischen der sozialen Differenzierung im späten Staatssozialismus vor 1989/90 und der „Verungleichung“ danach.
Vom privatisierten Staat zum verstaatlichten Markt? Eigentum in der Sowjetunion und in Russland
(2013)
In der Sowjetunion bestand eine hierarchisch strukturierte Planwirtschaft mit Staatseigentum nur auf dem Papier. Daneben und mit ihr verknüpft gab es ausgedehnte Zweige der Untergrundwirtschaft und informelle Beziehungsnetzwerke. Die „roten Manager“ hatten sich die Betriebe jedoch nicht angeeignet. Erst in der Perestrojka begann die Privatisierung des Staatsvermögens, das vor allem an Insider aus den Betrieben ging. Anfang der 1990er Jahre sollte mit Hilfe der Gutscheinprivatisierung das ganze Volk zu Eigentümern der Betriebe gemacht werden. Doch erneut setzten sich Privilegierte mit guten Kontakten zur Bürokratie durch. Die Vertreter großer Kapitalgruppen, die als „Oligarchen“ berüchtigt wurden, kauften sich zu Vorzugspreisen in Großunternehmen ein. Das Staatsvermögen wurde rasch und weitgehend, wenn auch äußerst ungleich verteilt. Nur im Energie- und Rüstungssektor wurde die Privatisierung gestoppt. Der volle Schutz des Privateigentums steht noch aus, denn die Machtstrukturen verfolgen viele kleine und mittlere Unternehmen mit falschen Anschuldigungen.
Atomisierung, Entmündigung, Zwangsorganisation. Arbeitsrecht und Arbeitsverfassung im Dritten Reich
(2013)
Die Arbeitsverfassung des Dritten Reiches zielte in ihrem Kern auf die "vollkommene Atomisierung der deutschen Arbeiterklasse", so der sozialdemokratische Politikwissenschaftler Franz Leopold Neumann 1942 in seinem berühmten "Behemoth". Und in den Deutschland-Berichten der SOPADE hieß es bereits 1935: "Das Wesen der faschistischen Massenbeherrschung ist Zwangsorganisation auf der einen, Atomisierung auf der anderen Seite." Atomisierung und eine zugleich repressive wie sozialpaternalistische Integration der Arbeitnehmerschaft in eine rassistisch definierte "deutsche Volks- und Leistungsgemeinschaft" - in diese Formel lassen sich auch die Grundintentionen fassen, nach denen das NS-Regime die neue Arbeitsverfassung und ebenso das Arbeitsrecht zu strukturieren versuchte. Was aber heißt dies konkret? Wie erfolgreich waren das Hitler-Regime und die nationalsozialistischen Arbeitsrechtler bei der Verwirklichung dieser Ziele? Zu diskutieren ist in diesem Zusammenhang außerdem, ob (und inwieweit) sich die Arbeitsmarktkonstellationen, (sonstige) Tarifverhältnisse und innerbetriebliche Sozialbeziehungen auf Dauer überhaupt autoritär-zentralistisch regulieren lassen.
What is striking about recent research on residential care is not only its national bias and its tendency to neglect regional variations in ‘texture’, but also its preoccupation with contemporary issues and its lack of historical context. The notion of contingency, that is, the idea that things might have evolved differently, often seems to be missing. Moreover, most of the literature appears to be one-dimensional, downplaying the diversity, complexity and ambiguity of real developments. It often lacks an awareness of the power of precedents in shaping society’s attitudes to residential care and the practical responses to this problem. This is particularly important because, as this article tries to demonstrate, the present situation of residential care reflects the cumulative impact of traditions and cultural norms, of past decisions and commitments.
Gelenkte Bilder. Propagandistische Sichtweisen und fotografische Inszenierungen der Reichshauptstadt
(2013)
Berlin als administratives und politisches Zentrum des NS-Regimes war die prominenteste und »produktivste« Bühne der öffentlichen Inszenierung nationalsozialistischer Machtentfaltung. Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) war die wichtigste Schaltzentrale der NS-Propaganda.
Als Christoph Kleßmann in den 1990er Jahren erstmals seine Überlegungen zu einer »asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte« formulierte, war ein solcher Ansatz nicht unumstritten. Wenn beide deutschen Nachkriegsgesellschaften überhaupt zusammen beschrieben wurden, so geschah dies meist im Modus einer normativ aufgeladenen Kontrastgeschichte. Auch die Frage nach Verflechtungen und Transfers stieß seinerzeit angesichts der noch hitzig geführten Debatte um den historischen Vergleich und die jüngere Kulturtransferforschung auf Widerstände. Heute haben sich diese Auseinandersetzungen längst überholt. Die Frage nach Verflechtungsprozessen bedarf nicht länger einer besonderen Legitimation. Ganz im Gegenteil: Seit Jürgen Kockas Kritik an der Verinselung der DDR-Forschung dient das Verflechtungsparadigma vielfach als Rechtfertigung, um sich überhaupt noch mit der Geschichte der DDR zu beschäftigen.
In Marktwirtschaften tragen die Unternehmen nur einen Teil der Kosten des Produktionsfaktors „Arbeit“. Sie entlohnen zwar die im Betrieb geleistete Arbeit, kommen jedoch nicht ohne weiteres für die Sicherung derer auf, die arbeitslos sind oder wegen Krankheit, Invalidität oder hohen Alters vorübergehend oder auf Dauer nicht erwerbstätig sind. Die betriebliche Kostenrechnung ist daher – wenn man die Betrachtung idealtypisch zuspitzt – von einem erheblichen Teil der sozialen Kosten des Produktionsfaktors „Arbeit“ entlastet. Mit anderen Worten: Die betrieblichen Entscheidungen sind nicht unmittelbar an gesamtwirtschaftlich oder gesamtgesellschaftlich definierte Aufgaben und Ziele gebunden; sie können sich vielmehr strikt an Rationalitätskriterien eigener Art orientieren, vor allem an Kriterien der Rentabilität. Diese „Externalisierung von Kosten der freien Verfügbarkeit des Produktionsfaktors Arbeit im freien Arbeitsvertrag“ (M. Rainer Lepsius) trägt zu der hohen Anpassungselastizität und Innovationsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Produktionsweise bei. Sie verlangt aber zugleich nach Institutionen der sozialen Sicherung, die die ausgelagerten Kosten auffangen.
Alter(n) hat sich in der Gegenwart grundlegend gewandelt. Aufgrund der Entwicklung in der Medizin haben heute viele ältere Menschen die Möglichkeit, die Lebensphase Alter nicht nur länger, sondern vor allem länger gesund zu erleben. Dies stellt nicht nur gesellschaftliche Institutionen, sondern auch das Individuum vor neue Herausforderungen. Alter(n) zeichnet sich durch eine nie gekannte Wahlfreiheit aus und sollte deshalb sinnvoll geplant und gelebt werden. Es entstehen neue Märkte und eine Vielfalt von Freizeitaktivitäten für ältere Menschen. Damit geht einher, dass das klassische dreiteilige Modell der Lebensphasen aufgebrochen ist. Statt der Kindheit und der Erwerbsphase einfach den Ruhestand und das Alter entgegenzusetzen, wird das Alter oft selbst noch einmal unterteilt, so dass seit einiger Zeit mindestens vier Lebensalter unterschieden werden.
As a striking phenomenon of Soviet consumption, Beriozka stores appeared in the late 1950s and existed until the end of the 1980s. This chain of stores was a state trade organization selling goods that were otherwise in short supply (cars, fashionable clothes, household appliances, etc.) for special ‘checks’ used as equivalents of foreign currency by special groups of Soviet citizens. Similar stores existed in other socialist countries. The article shows that these stores on the one hand became an element of the existing system of state-granted entitlements. The customers were Soviet citizens who earned money abroad as well as people who did not go abroad but received remittances from foreign sources. On the other hand, the development of the black market (barely persecuted by the state) made it possible to purchase Beriozka checks for roubles; so it granted access to sought-after goods (among them even goods from the West) to a wide range of consumers. Paradoxically, Beriozka was criticized and much frequented at the same time.
Der ostdeutsche Fotograf Christian Borchert (1942–2000) verstand sich als „Chronist seiner Zeit“. Seine Serie „Familienporträts“ wurde schon vor 1989 in der DDR und in der Bundesrepublik im Kontext bildender Kunst gezeigt – trotz oder sogar wegen der sachlichen, dokumentarischen Perspektive auf die DDR-Gesellschaft. Mittlerweile ist Borchert unverrückbar in den kunsthistorischen Kanon eingegangen, und seine Bilder fehlen auf kaum einer Ausstellung zur Fotokunst in der DDR. Besonders 2009 fand anlässlich der 20-jährigen Jubiläen des Mauerfalls und der „friedlichen Revolution“ eine Fülle von Ausstellungseröffnungen zur DDR-Fotografie statt. Sozialdokumentarische Bilder konnten – als vermeintlich ideologiefreie „Wirklichkeitsbilder“ rezipiert – problemlos im Kunstkontext untergebracht und zugleich als aussagekräftige Quellen der Vergangenheit präsentiert werden. Der Interessenschwerpunkt lag dabei auf der „inoffiziellen“ Fotografie aus der DDR. Diese Tendenz hält bis heute an, und so ließ auch die 2012 eröffnete Ausstellung „Geschlossene Gesellschaft“ in der Berlinischen Galerie, wo einige der „Familienporträts“ vertreten waren, die „offiziellen Bildwelten“, den Bereich der angewandten Fotografie und der Amateurfotografie außen vor. Zwar bildete die sozialdokumentarische, erzählerische Fotografie, die sich ab den 1970er-Jahren als Autorenfotografie emanzipiert hatte, in der DDR tatsächlich den Kern der künstlerischen Fotografie, doch haben sich deren Spezifika grundlegend aus der sozialistischen Fotografieästhetik entwickelt. Dass zwischen „non-konform“ und „offiziell“ nicht klar zu trennen ist, lässt sich mit Christian Borcherts Familienbildern sehr gut belegen.
Es ist erst einige Jahre her, da erinnerte ein überdimensionales, begehbares Prostatamodell Männer an die Wichtigkeit der Krebsvorsorge. Eine „Urolisken“- Skulptur, die in verschiedenen deutschen Städten aufgestellt wurde, hatte dasselbe Ziel. Beide Aktionen zeigen: Alternde Männer werden derzeit in ihrer Körperlichkeit verstärkt sichtbar. Für alternde Frauen könnte man Ähnliches feststellen.1 Dies war längst nicht immer so. Wer die Situation alter Männer mit Prostatakarzinom als Familienväter und -versorger im frühen 20. Jahrhundert nachzuzeichnen versucht, stößt schnell an Grenzen, was mit der schwierigen Quellenlage zu tun hat. Mediziner hatten für diese Patienten wenig Handlungsspielraum, Behandlungsmethoden reduzierten sich oftmals auf Palliation, und für die Öffentlichkeit blieben die Krankheitsverläufe dieser Männer ohnehin meist unsichtbar. Im Gegensatz dazu gibt es im späten 20. und beginnenden 21. Jahrhundert eine öffentliche Zurschaustellung.
Verlagstext Böhlau, siehe: http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-21014-4.html: Ruth Fischer (1895–1961) war 1924/25 weltweit die erste Frau an der Spitze einer Massenpartei: der Kommunistischen Partei Deutschlands. Wie niemand sonst stand sie für die Angleichung der KPD an das autoritäre sowjetische Parteimodell. Später wurde sie – von Hitler und Stalin verfolgt – zur leidenschaftlichen Antikommunistin, die in den USA sogar gegen ihre Brüder Gerhart und Hanns Eisler sowie gegen Bertolt Brecht aussagte. Zuletzt suchte sie wieder Anschluss an eine undogmatische Linke.
Ruth Fischers bewegtes Leben wird in dieser Biographie auf der Grundlage bisher unerschlossener Archivquellen, darunter FBI-Akten, erstmals ausführlich dargestellt. Das Buch zeigt exemplarisch, wie Kommunismus und Antikommunismus sich im Kalten Krieg in einer Person verschränken konnten.
Zu diesem Heft
(2013)
In this issue
(2013)
Tamás Féner, der 75-jährige Fotograf und Träger des Kossuth-Preises, der höchsten ungarischen Auszeichnung in den Bereichen Kunst und Kultur, ist eine wirkliche Herausforderung. Wenn er erzählt, kommt man auch als Muttersprachler kaum hinterher. Féner verschluckt meist die letzten Silben der Wörter, die Geschwindigkeit seiner Sprache zwingt die Zuhörenden zur Konzentration. Er beginnt einen Satz, und noch bevor er diesen beendet, nuanciert er sogleich seine Aussage mit einem neu begonnenen Gedanken. Die Leidenschaft gegenüber der Fotografie, ihrer Entstehung, Präsentation, Geschichte und Theorie ist in seinen Antworten deutlich zu spüren. Die jiddischen Begriffe, die er in seine Erzählung mit einflechtet, der aufscheinende jüdische schwarze Humor, die Witze aus der Zeit des Sozialismus und die Zitate aus der Weltliteratur – gelegentlich in deutscher, mal in ungarischer Sprache – machen die Gespräche mit ihm zu einem dichten Geflecht. Das folgende Gespräch mit Féner über das neue Robert Capa Zentrum für zeitgenössische Fotografie, den ersten Fotowettbewerb des Zentrums und die großen ungarischen Fotografen ist ein Versuch, dieses dichte Geflecht zu entwirren.
Auf den ersten Blick ist die Kombination der Werbebanner am imposanten Eingang des Ungarischen Nationalmuseums recht überraschend. Die Plakate machen auf die drei aktuellen Ausstellungen des Museums, die jeweils einen “Helden“ in den Mittelpunkt stellen, aufmerksam: Siebenbürgen-Fürst Gábor Bethlen, Nationaldichter Sándor Petőfi sowie Kriegsfotograf Robert Capa.Die Verbindung zwischen Capa und Budapest, seinem Lebenswerk und seiner Geburtsstadt scheint hergestellt. Aber Capa als der ungarische Nationalheld, als Teil des nationalen Erbes? Glücklicherweise gibt die Ausstellung keine oberflächliche und simple Antwort auf diese Frage. Im Gegenteil: Die Schau, konzipiert durch Èva Fisli, konzentriert sich vielmehr auf einzelne Kategorien, die die Figur “Robert Capa“ und sein Lebenswerk ausmachen. Ganz andere Schwerpunkte, als etwa die Nationalität, stehen dabei im Fokus.
Der Fotohistoriker und Museologe, Károly Kincses, widmet sich seit über dreißig Jahren der Erforschung der ungarischen Fotografie. Er ist Mitbegründer des Ungarischen Fotomuseums in Kecskemét sowie des Mai Manó-Hauses in Budapest, übernahm vielfältige Aufgaben als Universitätsdozent und Leiter von Fotoworkshops, als Autor sowie Kurator. Kincses berichtet im Interview, wie er die aktuelle Situation des Landes, den tobenden “Kulturkampf“, der auch die Fotografie erreicht, einschätzt. Eine offene Moment- wie auch Bestandsaufnahme aus Ungarn am 6. Dezember 2013.
Es waren nicht zuerst die Zeithistoriker, die das Thema Alter und Altern für die Geschichtswissenschaft erschlossen. Die Pioniere näherten sich dem Gegenstand aus dem 19. Jahrhundert oder griffen noch viel weiter aus. Diese Perspektive der longue durée ist vor allem der Sozialgeschichte eigen: Bezogen auf Alter und Altern flankierte sie die Historische Demographie, um Altersaufbau, Lebenserwartung und Familienstrukturen von Gesellschaften über Jahrhunderte hinweg zu rekonstruieren. Ebenso lässt sich die Entwicklung von Rentensystemen und ihren Vorläufern in der Langzeitperspektive beschreiben. Die Kulturgeschichte folgte diesem Pfad; sie beleuchtete Altersbilder und -diskurse seit der Antike, wobei sie die Ambivalenz positiver und negativer Deutungen als Kontinuität entdeckte. Als dritter Strang der historischen Altersforschung hat sich die Medizingeschichte lange Zeit separat entwickelt.
Transitional Justice
(2013)
Der Begriff Transitional Justice etablierte sich am Ende der 1990er-Jahre in Politik und Politikberatung sowie in der sozial- und rechtswissenschaftlichen Forschung. Er steht für den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit Verbrechen, die während eines Bürgerkriegs oder vor einem politischen Umbruch begangen wurden. Anne K. Krüger widmet sich in ihrem Beitrag dem Verhältnis der Transitional Justice-Forschung zu deutschen Debatten über die „Vergangenheitsaufarbeitung”, zeichnet die unterschiedlichen Forschungsrichtungen in diesem oftmals praxisbezogenen Feld nach und skizziert schließlich Anschlusspunkte für die Zeitgeschichtsschreibung.
Der Beitrag befasst sich mit dem „Peckham-Experiment“, einem Forschungsprojekt, das in den 1930er- und 1940er-Jahren im „Pioneer Health Centre“ (PHC) durchgeführt wurde, einem Freizeit- und Gesundheitszentrum im Londoner Stadtteil Peckham. Im Fokus der Fallstudie steht die Genese neuen präventionsmedizinischen Wissens und neuer vorsorgebezogener Praktiken. Die beteiligten Experten versuchten, das „natürliche“ Potential von Individuen und die sozialen Beziehungen zwischen Familien zu nutzen, um ein gesundheitsförderliches Verhalten zu stimulieren. Das „Peckham-Experiment“ wird im Kontext der britischen wohlfahrtspolitischen Debatten und der biologisch-medizinischen Theorien seiner Gründungszeit analysiert. Gezeigt wird aber auch, dass der neue, stark auf Selbstverantwortung gerichtete Ansatz des PHC sich zudem aus den spezifischen Herausforderungen der „Laborsituation“ ergab, die im Laufe des Experiments zur Revision interventionistischer Vorannahmen führten. Allerdings waren andere Wissenschaftler skeptisch gegenüber den in Peckham gewonnenen Erkenntnissen. Zudem ließ sich das PHC nicht in den neuen „National Health Service“ integrieren. Beides bewirkte 1950 letztlich die Schließung des Centres.
Welches Maß an Gleichheit muss eine sozialistische Gesellschaft garantieren, und wie viel Ungleichheit benötigt sie, um nicht in Stagnation zu versinken? Solche Fragen beschäftigten die sowjetischen Bürger nicht erst seit der perestrojka, aber in dieser Phase wurde der von der Kommunistischen Partei vorgegebene Diskursrahmen erweitert und schließlich gesprengt. Die Privilegien der Nomenklatura boten das Feld, auf dem über Ungleichheit und Verteilungsgerechtigkeit gestritten wurde. Briefe von Bürgern an die Deputierten des Obersten Sowjets aus den Jahren 1989/90, die in diesem Aufsatz erstmals näher erschlossen werden, geben Einblick in unterschiedliche Positionen. Deutlich wird, dass nicht die Prinzipien der Verteilung als ungerecht galten (Leistungen für Staat und Gesellschaft als primäres Kriterium), aber ihre Ergebnisse. Ausgehend von Fragen sozialer Gerechtigkeit erweiterte sich die Debatte um Fragen politischer Gerechtigkeit; sie mündete in eine grundlegende Kritik an der Parteiherrschaft und beschleunigte den Zusammenbruch der bisherigen Ordnung.
Kulturgeschichte
(2013)
Auf die neuen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen seit den 1990er-Jahren reagiert die Kulturgeschichte nicht nur mit einer umfassenden Ausweitung ihrer Themen, sondern auch mit einer Perspektivierung, die auf Sinngebungsformen und Bedeutungsnetze zielt, mit denen Gesellschaften der Vergangenheit ihre Wirklichkeiten ausgestattet haben. Achim Landwehr gibt in seinem Beitrag einen kurzen Überblick über die Geschichte der Kulturgeschichte, geht auf die zeitgenössischen Herausforderungen ein und benennt exemplarisch Themenbereiche, für die eine kulturhistorische Befragung zukünftig lohnend erscheint.
Der Vorsorgegedanke gehört, im Gesundheitswesen und darüber hinaus, zu den grundlegenden Kulturtechniken der Moderne. Die neuere Medizinsoziologie hat die Entwicklung der Gesundheitsprävention als Teil eines institutionellen Umbruchs von einem Gesundheitswesen alten Typs (Old Public Health) zu einem System neuen Typs (New Public Health) interpretiert. Demzufolge ging die Gesundheitspolitik alten Stils primär von staatlichen Einrichtungen aus und versuchte spezifische Krankheiten bei entsprechenden Risikogruppen zu bekämpfen. Dagegen betonen Ansätze des New Public Health das Leitbild einer umfassenden, auf die Gesamtbevölkerung zielenden Gesundheitsförderung, machen aber zugleich das Individuum verstärkt für die Vorsorge verantwortlich. Mit dem neuen Präventionsregime verbinden sich gleichwohl erhöhte normative Ansprüche und ausgeweitete staatliche Regulierungen. Sie manifestieren sich etwa in Tabaksteuern und Rauchverboten oder in Forderungen nach neuen Impfzwängen (Gebärmutterhalskrebs), obligatorischen Vorsorgeuntersuchungen (Brustkrebs) oder fiskalischen Auflagen wie den in Dänemark oder Ungarn eingeführten Zucker- und Fettsteuern.
Angela Davis war eine der intellektuellen Leitfiguren der afroamerikanischen Bewegungen für Freiheit und Gleichheit in den USA. Als sie von 1970 bis 1972 inhaftiert war, gab es in der DDR eine breite Solidaritätskampagne, initiiert von der SED-Führung und mobilisiert durch die Massenorganisationen. Diese Kampagne verweist auf eine transnationale Dimension in der Geschichte der DDR; Davis wurde als „unsere Genossin“ vereinnahmt. Der Beitrag zeigt, welche Bedeutung die Kampagne im Rahmen der internationalen Anerkennungsbestrebungen der DDR hatte, welchen Stellenwert sie aber auch innenpolitisch gewann. Nach ihrer Freilassung besuchte Davis 1972 und 1973 die DDR und wurde als sozialistische Heldin präsentiert. Dies ist nicht allein als Ausdruck propagandistischer Steuerung zu verstehen, sondern zugleich als Teil einer genuinen Alltagskultur des Kalten Kriegs in der DDR.
Der Aufsatz geht der Frage nach, welche Formen von Armut es in der DDR in den Jahrzehnten nach dem Mauerbau gab und wie über sie kommuniziert wurde. Sozialhistorisch rekonstruiert wird die Unterversorgung zweier ausgewählter Armuts-Gruppen: Rentner und kinderreiche Familien. Auf der Basis von Akten, zeitgenössischen wissenschaftlichen Arbeiten und Medienberichten wird zudem betrachtet, welche Images von „Armut“ zirkulierten. Zwar galt Armut im Selbstverständnis des SED-Staats als überwunden. Dennoch war offenkundig, dass es soziale Ungleichheiten, ja Notlagen auch in der DDR gab, und diese fanden in der damaligen Sozialforschung ein breites Interesse. Die Einkommens- und Wohnverhältnisse von Rentnern, besonders von Rentnerinnen, waren häufig prekär, so dass viele von ihnen eine zusätzliche Arbeit aufnehmen mussten – was mit dem Bild des „rüstigen“ Alten beschönigt wurde. Bei Kinderreichen wurde differenziert zwischen den „würdigen“, „wohlorganisierten“ und den „liederlichen“, „dissozialen“ Familien. So ging es im Hinblick auf beide Gruppen nicht allein darum, ihre Armut zu lindern. Das vorrangige Ziel war vielmehr, sie mit positiven Images zu versehen und abweichendes Verhalten zu sanktionieren.
Vor einigen Jahren nannte Peter Longerich das Protokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 "eines der wichtigsten überlieferten Dokumente zur Planung und Organisation des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden durch das NS-Regime".
Dieser Einschätzung, der sich die überwiegende Zahl der Fachkollegen wohl vorbehaltlos anschließen kann, fügte Longerich aber noch einen wichtigen Aspekt hinzu. »Durch dieses Dokument«, so Longerich im darauf folgenden Satz, "ist die Konferenz am Großen Wannsee als Synonym für den kaltblütigen, verwaltungsmäßig und arbeitsteilig organisierten Massenmord der NS-Zeit in der Erinnerung". (...)
In den 1970er-Jahren lief im westdeutschen Fernsehen eine Serie der Augsburger Puppenkiste, deren Held und Titelgeber der kleine König Kalle Wirsch war. Kalle Wirsch, König der Erdmännchen, war, wie sein Name sagte: ein freundliches kleines Männchen, alles andere als unwirsch. Der Name aber irritierte – wer benutzt schon das Wort „wirsch“? Das Wort gibt es tatsächlich, es ist aber kein Gegenbegriff zu „unwirsch“, sondern eine Verballhornung von „wirr“. Zu „unwirsch“ gibt es keinen Gegenbegriff. Der kleine König Kalle Wirsch mag einem bei „Gleichheit und Ungleichheit“ in den Sinn kommen. Denn viel wird gesprochen von Ungleichheit, und dies vor allem im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit. Aber Gleichheit? Nur ganz wenige Autoren haben über deren Geschichte nachgedacht. Einer davon ist der Zürcher Historiker Jörg Fisch. Er fasst, bezogen auf das späte 19. Jahrhundert, Gleichheit vor allem als einen Anspruch, als eine Forderung. Sie ist also etwas, was (noch) nicht ist. „Gleichheit“ blieb als die bürgerliche Forderung nach rechtlicher und politischer Gleichberechtigung stehen und wurde (jedenfalls in Europa) im späten 19. und im 20. Jahrhundert zumindest teilweise eingelöst. Die Forderung nach sozialer Gleichheit jedoch, die aus revolutionären Bewegungen kam, ließ sich nicht einmal als Anspruch durchhalten, wurde als staatsgefährdend identifiziert und erbittert bekämpft. Soziale Gleichheit erhielt das Stigma des Utopismus und behielt lediglich in der Forderung nach Abbau (und nicht Abschaffung) sozialer Ungleichheit eine gewisse Berechtigung.
The supposedly commercial products of the culture industry are increasingly facing sales difficulties because growing numbers of self-assertive consumers are downloading products at will, thus no longer following the given rules of the market. Not only multinational record companies, but also representatives of ‘high’ culture are adamant in their criticism of the current ‘culture for free’ tendency. The latter can hardly be characterized as profit-oriented – nor would they describe themselves that way – but they contend that bootleg copies are a threat to their livelihood, and that the culture of piracy paves the way for harebrained mass products. The discussion encompasses copyright laws and the ways consumers are appropriating cultural products as well as the question whether or not these tendencies will fundamentally change the production of culture. Such debates are charged with cultural criticism, but in essence of economic nature. In addition, the cultural sector is faced with the accusation of waning societal relevance. In the arts and features sections of newspapers and magazines, journalists and essayists bemoan that pop culture is no longer ‘the voice and mirror of political and social change, like twenty or thirty years ago’. Although popular culture may have evolved from its original return and distribution strategies as well as its constitutive (at least for some) connection to youth and protest movements, a medially conveyed, market-driven culture that is accessible to a wide audience remains a characteristic feature of modern societies and their self-perceptions.
„Masse"
(2013)
Die Masse ist ein Gespenst der europäischen Geschichte – und dennoch, so zeigt es Stefanie Middendorf in ihrem Beitrag auf, als zeithistorischer Forschungsgegenstand relativ unentdeckt geblieben. In ihrem Beitrag gibt Middendorf einen Aufriss zur Geschichte der Masse, erläutert deren verschiedene Interpretationsansätze und plädiert dafür, sich der Geschichte des Massenbegriffs, seinen erfahrungs- und wahrnehmungsbedingten Aufladungen sowie seinem analytischen Wert
vermehrt aus historiografischer Sicht zu widmen.
Sowohl in den Kulturwissenschaften als auch in der Theologie hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr die Einsicht durchgesetzt, dass sich die historische Entwicklung von »Religion« und »Kirche« in der Bundesrepublik Deutschland nicht allein an den statistischen Daten zur formellen Kirchenbindung wie »Mitgliedschaft«, »Gottesdienstbesuch« oder »Abendmahlbeteiligung« ablesen lässt. Die ausschließlich aus der quantitativ datenanalytischen Außensicht gewonnene Perspektive bringt nur sehr unscharfe Parameter für die Erforschung moderner Religionsausübung zutage.
Grenzerfahrungen. Mobilitätsbegeisterung für Auto, Flugzeug und Boot im frühen 20. Jahrhundert
(2013)
Zwischen 1880 und dem Ersten weltkrieg kam es zu einer Revolution der Mobilität: Kleine, individuelle Geräte wie Fahrräder, Segeljollen oder Paddelboote, aber auch Rollschuhe, und später Automobile und Fluggeräte wurden erfunden und fanden begeisterte Nutzer. Mit den neuen Mobilitätsmaschinen entstand auch ein neuer technischer Stil, eine neue Art des Konstruierens und Fertigens. Während Technik bis dahin schwer und solide erschien und eher schwerfällig wirkte, kam es nun zu einem grazileren und leichteren Technikstil. Typisch dafür war das Fahrrad: Aus leichten Rohren, gepressten Blechteilen, drahtspeichen und Kugellagern entstand eine Maschine, die das Zehnfache ihres eigenen Gewichts trug und dabei das Geschwindigkeitspotential des Radfahrers vervielfachen konnte. Auch die frühen Flugmaschinen entsprachen dem, gebaut aus ungewöhnlichen Materialien wie Bambus, Aluminiumblechen oder Klavierdrähten, transparent und trotzdem kraftvoll, Maschinen, die den alten Menschheitstraum des Fliegens mit neuer Technik verwirklichten.
»Volksgemeinschaft« hat Hochkonjunktur. Der Historikertag 2008 widmete ihr eigens eine Sektion. Weithin über die Grenzen der Fachwissenschaft hinaus beachtete, internationale Konferenzen nehmen sich ihrer an. So organisierte das Deutsche Historische Institut London 2010 eine Tagung, deren Referenten- und Teilnehmerliste die renommiertesten Vertreter der Zeitgeschichtsschreibung aufführte. Jüngst widmete sich auch die 4. Internationale Konferenz zur Holocaustforschung, ausgerichtet von der Bundeszentrale für politische Bildung, der »Volksgemeinschaft«. Schon seit längerem ziert der Begriff die Titelseiten zahlreicher populär wie fachwissenschaftlicher Bücher, findet er sich in den Titeln zahlloser Zeitschriftenbeiträge wieder und ist – teils in An- und Abführungszeichen gesetzt, teils nicht – fester idiomatischer Bestandteil der gegenwärtig vorherrschenden zeithistorischen »Meistererzählung« von der nationalsozialistischen Herrschaft.
Historians have analyzed films, novels, records, theater plays etc. primarily in reference to their meaning and reception. This article makes a case for moving the focus to the actors, structures and processes that shape symbolic objects before these are consumed. To this end, we present a framework established in US sociology to study the fabrication, distribution and evaluation of symbolic content. We discuss the production of culture perspective as an approach that appears to be particularly useful for historical research and, by reviewing selected works from the sociological literature, demonstrate how this perspective can be applied to phenomena like popular music and literary fiction. We focus on genres as bundles of conventions as one lens through which historians may analyze the creation, reproduction, evaluation and consumption of culture.
Die Wiedergutmachung für historisches Unrecht stellt für die Geschichtswissenschaft ein vergleichsweise junges Forschungsfeld dar. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Schlüsselproblem erkannt, wurde die Wiedergutmachung in diesem Kontext auch zu einem Schlüsselbegriff der politischen und rechtlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Benno Nietzel arbeitet in seinem Beitrag spezifisch geschichtswissenschaftliche Themenfelder und Fragestellungen heraus und zeigt darüber hinaus die Interdisziplinarität und die Internationalität der Forschungen zur Wiedergutmachung auf. Nietzel plädiert dafür, zukünftig die oftmals verstreuten und unzusammenhängenden internationalen Untersuchungen zur Wiedergutmachung in Beziehung zu setzen und sie als Teil eines übergreifenden Diskussionszusammenhanges zu begreifen.