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»The Wisdom of the Body«: Das klingt nicht erst heute mehr nach Esoterik als nach dem wichtigen physiologischen Hauptwerk, als das es Walter Bradford Cannon 1932 für ein breites Publikum verfasste. Solche Überraschungen hören nicht beim Titel auf. Gleich der erste Satz der Einleitung lautet zum Beispiel: »Our bodies are made of extraordinarily unstable material.« Und das erste Kapitel trägt den Titel »The Fluid Matrix of the Body«. War Cannon ein postmoderner Theoretiker dynamisch-fluider Körperlichkeit avant la lettre? Soweit wird man nicht gehen können, aber tatsächlich hat das Buch heute in Zeiten von Stress, Resilienz und einem wiedererstarkten Systemdenken in der Biologie an Aktualität und Überzeugungskraft zurückgewonnen. Was Cannon hier auf dem Höhepunkt seiner Karriere vorgelegt hatte, war mehreres in einem: die Summa seiner Forschungen, das Lehrbuch einer neuen integrierten Theorie des Organismus – für die er den Neologismus »Homöostase« prägte –, ein populäres Werk über die Fortschritte physiologischer Forschungen seiner Zeit und schließlich das Plädoyer eines fest in den Naturwissenschaften verankerten Humanisten für eine bessere Weltordnung. Denn auf der Basis seiner Theorie der Homöostase wollte er schließlich auch den Staat reformieren – zu einem perfekten Vorsorgestaat nach biologischem Vorbild, inklusive systematischer Vorratsplanung mitsamt Reservearbeitsplätzen für Krisenzeiten. Mit etwas Zögern, aber dafür umso nachdrücklicher hatte er deshalb dem Buch einen Epilog hinzugefügt: »Relations of Biological and Social Homeostasis«.
Geographische Informationssysteme (GIS) wurden bereits seit den 1960er-Jahren mit der beginnenden Computerisierung der Geographie entwickelt. Ihr Konzept folgt der Idee, Daten bzw. Informationen in ihren Raumbezügen zu organisieren und analysierbar zu machen. Mit der Weiterentwicklung und wachsenden Leistungsfähigkeit digitaler Infrastrukturen sind inzwischen komplexe Datenmodelle, flexiblere Datenformate, neue Formen der Visualisierung sowie umfassende geostatistische Analysen möglich geworden. Zudem sind kartographische Visualisierungen nicht mehr nur statisch, sondern in einem GIS können überdies Veränderungen der Daten im Zeitverlauf dargestellt und untersucht werden. Der Einsatz von GIS ist aus Forschung, Wirtschaft, Verwaltung und medialer Kommunikation kaum noch wegzudenken. Die Produkte der Arbeit mit GIS umgeben uns vielerorts, oft ohne dass wir uns der dahinterliegenden Architekturen und Annahmen bewusst sind. Aktuelle Debatten über die Sammlung zeit- und geocodierter Daten, etwa über Mobiltelefone, um Personengruppen – Konsument*innen, Migrant*innen, Geflüchtete, Bürger*innen – retrospektiv, in Echtzeit oder mit prädiktiven Modellen auf der Grundlage biometrischer und/oder sozialer Daten zu tracken, haben mit Recht Fragen zum Datenschutz und zu ethischen Implikationen dieser Technologien aufgeworfen. Anwendungen GIS-basierter Technologien, etwa bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, dem Tracking von Verbreitungs- und Infektionswegen, der Entwicklung von Krisenreaktionsstrategien oder der medialen Kommunikation der Situation scheinen uns zugleich die beträchtlichen Potentiale der raum-/zeitsensiblen Datenanalyse – in Echtzeit – zu vermitteln. Deutlich wird, dass die ethischen, methodischen und epistemologischen Effekte der Verbreitung digitaler Werkzeuge zur Durchdringung wachsender und zunehmend komplexer Datenbestände einer mehrdimensionalen Reflexion bedürfen, die augenblicklich nur mühsam mit der Expansion der technischen Möglichkeiten Schritt hält.
Die moderne Versicherungswirtschaft entstand als Reaktion auf die vielfältigen neuen Risiken, die sich mit der Industrialisierung entwickelten. Die verstärkte Risikoabsicherung war verbunden mit einem Denken in Wahrscheinlichkeiten und deren rechnerischer Bestimmung. Ende des 19. Jahrhunderts war die Versicherungsindustrie bereits voll entwickelt, und der Staat erklärte das Versicherungsprinzip zur Leittechnik der Risikovorsorge. Heute stößt die Versicherungswirtschaft aufgrund der global wirksamen ökologischen, ökonomischen und terroristischen Risiken jedoch an ihre finanziellen Grenzen; sie kann mit der raschen Expansion der Risiken kaum noch Schritt halten. Der Aufsatz skizziert die Anfänge von Versicherungen sowie die Durchsetzung des Versicherungsprinzips vor allem im Laufe des 19. Jahrhunderts. Er gibt einige Hinweise zur weiteren Entwicklung von Versicherungen im 20. Jahrhundert und lenkt den Blick schließlich auf die neuartigen Probleme, denen sich Versicherungen in der „Weltrisikogesellschaft“ des beginnenden 21. Jahrhunderts ausgesetzt sehen.
Anfang 2014 konnte der rund 50.000 Aufnahmen umfassende Nachlass des Fotografen Wolfgang G. Schröter (1928–2012) zusammen mit zahlreichen Arbeitsabzügen, Belegexemplaren, der Handbibliothek und biographischen Dokumenten von der Deutschen Fotothek für das »Archiv der Fotografen« übernommen werden. Schröter gehörte zu den paradigmatischen Ausnahmefotografen der frühen DDR. Unter Nutzung der Methoden von Wissenschafts- und experimenteller Fotografie entwickelte er eine eigene Bildsprache, die avantgardistische internationale Fotografie-Entwicklungen aufgriff, ohne diese zu imitieren. Schröters frühe farbfotografische Experimente wurden 1977 im Zuge der Nobilitierung der Fotografie als künstlerisches Medium in der Hallenser Ausstellung »Medium Fotografie« gewürdigt. Bis heute werden seine Aufnahmen in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt.
»Free to Choose«. Die Popularisierung des Neoliberalismus in Milton Friedmans Fernsehserie (1980/90)
(2015)
In einem engen, stickigen Kellerraum irgendwo in Rochester, New York, klingeln die Telefone, es ist viel zu tun. Von überallher laufen Aufträge ein, denn die Firma P.H. Brennan Hand Delivery, die hier ihren Sitz hat, prosperiert. Pat Brennan, eine kleine, schmächtige Frau, die entschlossen in die Kamera blickt, ist die Gründerin der kleinen Firma. Die Kamera zeigt, wie sie als Zustellerin, mit Briefen beladen, zu Fuß durch Rochester läuft. Hinter ihr droht das große, einschüchternde Gebäude des United States Post Office. Ganz ähnliche Hochhäuser waren in dieser Serie schon früher zu sehen: In ihrer schieren Massivität visualisieren sie sehr genau das, was Milton Friedman, der die Geschichte aus dem Off kommentiert, big government nennt. Big government nämlich zerstört wenig später Pat Brennans prosperierendes Kleinunternehmen. In den USA des Jahres 1978 ist die Post ein gesetzlich gesichertes Staatsmonopol. Brennan Hand Delivery muss deshalb schließen, nach einem auch gerichtlich ausgetragenen Kampf gegen die Regierung. Die letzte Kameraeinstellung zeigt den Kellerraum, der die Firma beherbergte, still, leer und verlassen. Diesen Kampf gegen Goliath hat David verloren.
Die Website dokumentiert ein überaus ambitioniertes und in dieser Form konkurrenzloses Projekt gleichen Namens, das von sechs Museen bzw. Forschungseinrichtungen aus ebenso vielen Ländern betrieben wird. Es verzeichnet Erinnerungsorte in Europa, die die Geschichte des Ersten und Zweiten Weltkrieges sowie des Spanischen Bürgerkrieges zum Gegenstand haben bzw. von diesen historischen Ereignissen selbst nachhaltig beeinflusst und geprägt wurden. Das Projekt wurde laut Auskunft eines deutschen Mitarbeiters in nur einem Jahr auf die Beine gestellt - diese Information findet sich jedoch nicht in dem überaus knappen Einführungstext. Daraus ergibt sich bereits ein zentraler Kritikpunkt: Wenn der Besucher der Website etwas mehr Informationen zum Projekt und zur Zielgruppe erhielte, ließen sich etliche Fragen und Unzufriedenheiten vermeiden. Eine Website sollte ohne zusätzliche Informationen verständlich und nutzbar sein.
Europa ist ein »Kontinent der Nostalgie«. So jedenfalls betitelte der Publizist Markus Somm im November 2018 einen Artikel in der »Basler Zeitung«. »Die Europäer verzweifeln an der Gegenwart. Früher war alles besser«, lautete der Untertitel. Den Aufhänger lieferte eine repräsentative Umfrage der Bertelsmann Stiftung unter mehr als 10.800 EU-Bürger*innen über ihr Verhältnis zur Vergangenheit und die daraus resultierenden Einstellungen zu gegenwärtigen Problemlagen. Ungeachtet dessen, dass die Fragen der Bertelsmann-Studie als suggestiv und die Ergebnisdeutungen als vereinfachend kritisiert werden können, ist bemerkenswert, welchen Widerhall diese »Nostalgie-Studie« in der deutschsprachigen Presselandschaft fand. Dabei war es nicht nur das Statement »Früher war alles besser«, das zahlreiche Tageszeitungen wiederholten, sondern auch der Verweis auf die politische Wirkungsmacht des Gefühls der Nostalgie. Die Autorinnen der Studie selbst behaupteten, Nostalgie sei »ein mächtiges Mittel der Politik«. Ob die Politik dieses Gefühl instrumentalisiert oder Nostalgie in spezifischen Kontexten per se politisch aufgeladen ist, ließen sie allerdings unbeantwortet.
Zeit seines Lebens hat sich Stanisław Lem (1921–2006) dagegen verwehrt, Science-Fiction-Autor genannt zu werden. Natürlich war er selbst an dieser Etikettierung nicht ganz schuldlos, denn wer einen Großteil seiner literarischen Sujets in außerirdische Welten verlagert, von denen »Robotermärchen« und »Sterntagebücher« künden, dem mag es leicht passieren, dass er im Regal des Buchladens neben Perry Rhodan landet. Doch hat Lem nicht allein futuristische Szenerien entworfen. Sein erster Roman »Das Hospital der Verklärung« war ein überaus realistisches Werk, noch dazu mit dem Blick in einen historischen Abgrund: Beschrieben wird die Konfrontation eines jungen polnischen Arztes mit dem Patientenmord an den Bewohner*innen einer Nervenheilanstalt während des Zweiten Weltkrieges durch die deutschen Besatzungstruppen. Dieser Erstling ist hinter den Spiralnebeln der späteren Bestseller des Autors lange Zeit weitgehend verborgen geblieben. Doch ist die Darstellung nicht allein aufgrund ihrer literarischen Qualität bedeutsam, sondern stellt, 1948 geschrieben, eine der ersten intellektuellen Reflexionen des nationalsozialistischen Krankenmordes dar. Vor allem trägt der Text zur Erhellung einer wesentlichen biographischen Dimension von Stanisław Lem bei: seiner eigenen und familiären Erfahrung von Gewaltherrschaft und Besatzungszeit.
Politische Medizin. Ideologie und Gesundheitsökonomie im SED-Staat der 1950er- und 1960er-Jahre
(2020)
Mitte der 1950er-Jahre feierte ein bundesdeutscher Film auch in DDR-Kinos Premiere: »Weil Du arm bist, mußt Du früher sterben« thematisierte im Gewand eines Sozialdramas die Mängel des Gesundheitssystems der Bonner Republik. Schon die Präsentation eines »Westfilms« an sich war keineswegs selbstverständlich. Darüber hinaus durfte der Streifen mit Bernhard Wicki in der Hauptrolle in der DDR gezeigt werden, obgleich als Drehbuch-Autor Ernst von Salomon verantwortlich zeichnete. Das Werk des Schriftstellers, der 1922 das Attentat auf Walter Rathenau mit vorbereitet hatte, stand eigentlich weitgehend auf dem politischen Index der DDR. Doch passte die radikale Kritik am bundesdeutschen Gesundheitswesen den Partei-Verantwortlichen hervorragend in ihr propagandistisches Konzept: Der Film sei geeignet, so das »Neue Deutschland«, »die Legende, die um den ›goldenen Westen‹ gewoben wird, zu zerstören und uns bewußt zu machen, wieviel Licht in unserem Arbeiter-und-Bauern-Staat bereits ist, wo dort noch tiefe Dunkelheit herrscht«.
Die Geschichte des modernen Fußballs ist auch eine Geschichte regelmäßiger Gewaltausbrüche unter Zuschauern und Fans. Diese Tendenz verstärkte sich in den 1970er- und 1980er-Jahren, wobei nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch die DDR zum Schauplatz drastischer Gewaltereignisse wurde. Der Beitrag zeichnet nach, wie sich die Methoden und Standards der Gewaltprävention im Fußball während der vergangenen Jahrzehnte verändert haben. Untersucht wird vor allem das spannungsreiche Handlungsdreieck aus Sozialpädagogik, Sicherheitsstrategien der Polizei und gesellschaftlichem Engagement des Deutschen Fußballbundes (DFB). Erst im Angesicht der merklichen Radikalisierung der Fan-Gewalt nach dem Mauerfall fanden diese unterschiedlichen Akteure zu einer stabilen und konstruktiven Zusammenarbeit. Zugleich gewann die gesellschaftliche Rolle des Fußballsports an Gewicht. Das Fan-Milieu gilt mittlerweile als sensibler Indikator politisch-sozialer Spannungen. Zudem erweiterte der DFB seine rein sportpolitische Funktion und beansprucht heute die Rolle eines wichtigen gesellschaftspolitischen Akteurs.
Der Aufsatz entwirft eine Zeitgeschichte der Vorsorge, die sich für den hygienepolitischen Übergang von Praktiken der Intervention und Krisenbewältigung zu Praktiken der Prävention interessiert. Am Beispiel der Pestvorsorge in der Sowjetunion wird erstens ein Prozess der Institutionalisierung, Professionalisierung und Verwissenschaftlichung dargestellt. Zweitens werden die Eigenheiten des sowjetischen Falls herausgearbeitet. Die dortige Pestbekämpfung war bis in die 1930er-Jahre von Interventionen geprägt, die aus einem Repertoire repressiver, im Kontext der Zwangskollektivierung etablierter Maßnahmen schöpften. Der Umgang mit der Pest war nicht mit Aufklärung verknüpft, sondern mit Geheimhaltung. Die Einrichtung eines Netzwerks wissenschaftlicher Forschungsstätten führte zu einem Wandel im Umgang mit der Seuche. Dies war eingebettet in parallele Diskurse über administrative Grenzen und geographisches Wissen. Der Aufsatz stützt sich auf Quellen aus Staats- und Partei-Archiven in der Russischen Föderation und der Republik Aserbaidschan.
»Apartheid tötet – boykottiert Südafrika!«. Plakate der westdeutschen Anti-Apartheid-Bewegung
(2016)
In ganz Nord- und Mitteleuropa bildeten sich in den 1960er- und 1970er-Jahren Anti-Apartheid-Bewegungen, die durch Aktionen in ihren Heimatländern den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika unterstützen wollten. In der Bundesrepublik Deutschland wurde am 21. April 1974 im niedersächsischen Othfresen (südlich von Salzgitter) der Verein »Anti-Apartheid-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin« (AAB) gegründet. Zu diesem ersten Treffen eingeladen hatten der Mainzer Arbeitskreis Südliches Afrika (MAKSA) – ein 1971 entstandener Zusammenschluss evangelischer Kirchenmitarbeiter, die selbst einige Jahre in Südafrika tätig gewesen waren und meist wegen ihrer Haltung zur Apartheid das Land hatten verlassen müssen –, die Arbeitsgruppe »Freiheit für Nelson Mandela«, die aus dem MAKSA 1973 unter der Federführung des Stuttgarter Pfarrers Karl Schmidt hervorgegangen war, sowie der Pfarrer Hans-Ludwig Althaus. Sie wollten über die Situation in Südafrika informieren und Protest gegen die Apartheid mobilisieren. Sie kritisierten insbesondere die Zusammenarbeit der Bundesregierung und westdeutscher Unternehmen mit dem Apartheid-Regime. Der Begriff Anti-Apartheid-Bewegung hat aber eine doppelte Bedeutung: Neben dem Namen des Vereins bezeichnet er zugleich allgemein die gesellschaftliche Bewegung derer, die sich gegen die Apartheid in Südafrika engagierten. Diverse Gruppen waren daran beteiligt; im Laufe der Jahre erstellten sie eine Fülle von Plakaten. Dieser Beitrag soll einen Einblick in die verschiedenen Gestaltungsformen der Anti-Apartheid-Plakate in der Bundesrepublik geben.
Migration, Flucht und Asyl sind zentrale Themen der gegenwärtigen öffentlichen Debatte in Deutschland und Europa. Angesichts der tagesaktuellen Krisenbewältigung gerät die historische Tiefendimension von Migrationsbewegungen dabei oftmals aus dem Blick. Waren Ostasien und Europa am Ende des Zweiten Weltkriegs die Regionen, von denen die größten Flüchtlingsbewegungen ausgingen, so wurden sie seit Mitte der 1970er Jahre von der sogenannten Dritten Welt, insbesondere Afrika und Asien, abgelöst. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan 1979 und der daran anschließende, bis 1989 andauernde Krieg lösten den weltweit größten Massenexodus einer einzelnen Bevölkerungsgruppe nach 1945 aus. Mit dem iranisch-irakischen Krieg stieg die Zahl der Flüchtlinge ein weiteres Mal signifikant an. Der Nahe und Mittlere Osten entwickelte sich somit in den 1980er Jahren zu einer der bis heute größten Flüchtlingsregionen weltweit
Stellen wir uns historisch Forschende der Zukunft vor, für die Fragen einer geschlechtersensiblen Sprache keine Rolle mehr spielen werden. Das Problem wird für sie seit langem obsolet geworden sein (so, wie sich im 20. Jahrhundert kaum jemand mehr fragen musste, wie man einen Hochadligen anzusprechen hatte, und im 21. Jahrhundert den Jüngeren die Anrede »Fräulein« für unverheiratete Frauen jedes Alters fremd geworden war). Stellen wir uns weiter vor, dass die historisch Forschenden sich in einem zukünftigen Jahr X für jene Menschen interessieren, die im frühen 21. Jahrhundert an Universitäten im deutschsprachigen Raum lernten. In schriftlichen Hinterlassenschaften dieser Zeit werden sie einer Vielzahl von Möglichkeiten begegnen, die Lernenden als Gruppe anzusprechen und deren Zusammensetzung mit Blick auf das Geschlecht sprachlich und typographisch zu erfassen: Student(inn)en, Student/innen, StudentInnen, Studentinnen und Studenten (oder vice versa), Studierende, Student_innen, Student*innen, Student:innen. Offensichtlich, diese Vermutung würden die Forschenden wohl anstellen, war in den Jahren um 2020 in Bezug auf die Bezeichnung geschlechtlicher Differenzen etwas in Bewegung geraten, ohne dass sich den Nachgeborenen die mit den Wörtern und Zeichen verbundenen Bedeutungen unmittelbar erschlössen. Gut möglich, dass sie zunächst ein leichter Schwindel erfassen wird, bevor sie sich an ihre sozial-, kultur- oder wissensgeschichtlichen Untersuchungen machen.
“The Power of Images”, and in particular their emotional effect, is a common topos in historiography and other disciplines. Nevertheless it is not clear what the topos stands for. By exploring emotional responses to pictures, this article proposes a preliminary methodology for future case studies. Where do historians find their material when searching for emotional effects? In what ways do historians
actively produce the images they then analyse? This article debates these questions using photographs dating from the First World War to the War in Iraq in 2003.
Das ägyptische Körperkultur-Magazin »al-Abṭāl« (»Die Champions« oder »Die Helden«; beide Übersetzungen sind möglich) berichtete im Februar 1933 über eine öffentliche athletische Leistungsschau in Kairo. Angesichts der beeindruckenden Performance ägyptischer Männer und ihrer trainierten Körper feierte es eine »sportliche arabische Renaissance« (an-nahḍa ar-riyāḍiyya). Diese Leistungsschau zu Ehren des Besuchs Viktor Emanuels III., des Königs von Italien, war nur denkbar in einem politischen und gesellschaftlichen Kontext, in dem der männliche Körper zur Projektionsfläche ägyptischer Selbstbehauptung gegenüber dem britischen Kolonialismus auserkoren wurde. Der Historiker Wilson Chacko Jacob hat in seinem Buch »Working Out Egypt« dargelegt, wie sich die Bemühungen einer aufstrebenden Mittelschicht, ein »unverwechselbares modernes und ägyptisches Selbst vom kolonialen Blick (colonial gaze) zu befreien«, in Diskursen über Geschlecht und Sexualität äußerten, bei welchen einer performativen, auf den athletischen Körper bezogenen Männlichkeit ein zentraler Stellenwert zukam. Eine solche Fokussierung auf den virilen männlichen Körper hatte bereits zur Jahrhundertwende eine globale Dimension erreicht. Dies war eng mit den kolonialen Hierarchien und dem Prozess der Nationsbildung verknüpft, wie Sebastian Conrad feststellt. Beide Aspekte sind auch für den ägyptischen Fall in der Zwischenkriegszeit von Bedeutung, wo vergleichbare Prozesse nicht zuletzt als Reaktion auf den Orientalismus zu sehen sind, hier verstanden als eine diskursive Strategie zur Beherrschung des Orients, der das koloniale Ausgreifen Europas auf die islamische Welt und damit die Region immer auch geschlechtlich codierte. Edward Said hatte dies bereits in seiner heute klassischen Studie »Orientalism« von 1978 konstatiert. Zwar ist die Polemik Saids seit ihrem Erscheinen vielfach kritisiert worden; seiner grundsätzlichen Beobachtung aber, der Orientalismus konstruiere einen feminisierten und als passiv verstandenen Orient, dem das maskuline kolonisierende Subjekt gegenüberstehe, wird weitgehend zugestimmt.
Die Frau watet durch einen Fluss oder See; das Ufer, rechts oben im Bild, ist nicht mehr weit entfernt. Ihren Rock rafft sie bis zu den Knien hoch, damit er trocken bleibt. Um den Kopf hat sie sich ein helles Tuch gebunden. Im Wasser spiegeln sich Himmel und Bäume. Wer das Foto anschaut, sieht – wie der Fotograf, der von einem erhöhten Standort aus auf den Auslöser seiner Kamera drückte – den Rücken der Frau; vielleicht nimmt er auch ihr schönes Bein wahr.
Vor zehn Jahren konnte man des Lobes voll sein: Viele Facetten des „Großen Krieges“ wurden beleuchtet und auch verschiedene Formen des Gedenkens berücksichtigt. Zahlreiche gut erklärte Exponate waren zu sehen, und ein ebenso umfassender wie interessanter Katalog rundete die Ausstellung ab, die das Deutsche Historische Museum (DHM) 1994 unter dem Titel „Die letzten Tage der Menschheit - Bilder des Ersten Weltkrieges“ im Berliner Alten Museum präsentierte. Auch die Ausstellung „Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914-1918“, 1998 ausgerichtet vom Osnabrücker Museum Industriekultur, verdiente höchstes Lob für die Ausstellungskonzeption, die gut präsentierten und erläuterten Exponate sowie den vorzüglichen Katalog.
Die Restitution von Wohneigentum stellte ein großes Konfliktfeld im deutschen Einigungsprozess dar, das zugleich durch eine lange Vorgeschichte geprägt war. Eigentumsideen und -notationsformen aus dem 19. Jahrhundert sowie Praktiken aus der DDR spielten nach 1990 in die Entscheidungen der Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen hinein; sie prägten Erfahrungen und Bewertungen des 1990 eingeführten Prinzips »Rückgabe vor Entschädigung«. Das zugrundeliegende Vermögensgesetz wurde in den 1990er-Jahren modifiziert und berücksichtigte vermehrt DDR-Praktiken. Trotzdem dominieren in den öffentlichen Darstellungen Verlusterzählungen, vor allem aufgrund der langen Zeit der Unsicherheit bis zur endgültigen Entscheidung. Das für den ersten Teil des Aufsatzes gewählte Beispiel Kleinmachnow, das unmittelbar an das frühere West-Berlin angrenzte, stand in den 1990er-Jahren besonders im Medieninteresse. Unklar blieb aber, welche Aussagekraft es für Ostdeutschland hat. Im zweiten Teil wird deshalb nach dem Typischen dieses Falles gefragt. Zugleich wird dafür auf die besonderen Quellen der Transformationsgeschichte eingegangen: Die Sozialwissenschaften produzierten seit 1990 eine Vielzahl qualitativer und quantitativer Daten, die nun auch der Geschichtswissenschaft als Quellen zur Verfügung stehen. Vor einer Sekundäranalyse müssen sie aber wissensgeschichtlich eingeordnet werden: Die Sozialwissenschaften beobachteten den Transformationsprozess nicht nur, sondern gestalteten ihn mit. Vorgeschlagen wird hier ein integratives Verfahren, um quantitative und qualitative Ergebnisse für die Geschichtswissenschaft zu verbinden und somit zu einem besseren Verständnis der komplexen Transformationsgeschichte zu gelangen.