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Vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Erosionen in Ost- und Mitteleuropa seit 1989 und insbesondere der deutschen Wiedervereinigung versäumte es die deutsche Kommunismusforschung lange, den Blick auch gen Westen zu richten. In den letzten Jahren ist allerdings ein Wandel des Forschungsinteresses zu verzeichnen, wie es Nikolas Dörr anhand der Phase des „Eurokommunismus“ in Westeuropa schildert. Den definitorischen Problemen, eine exakte wissenschaftliche Begriffsbestimmung zu leisten, geht der Autor ebenso nach wie Periodisierungs- und Fragen der historischen Semantik.
Disability History
(2014)
Obwohl andere Kategorien sozialer Ungleichheit wie Klassenzugehörigkeit, Geschlecht und „Ethnizität” bereits intensive wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren haben, ist „Disability History” trotz der offensichtlichen Relevanz ihres Gegenstands erst seit wenigen Jahren ein expandierendes und dynamisches Forschungsfeld. Gabriele Lingelbach und Sebastian Schlund legen in ihrem Beitrag, ausgehend von der Genese des Forschungsansatzes Disability History und der Präsentation der in verschiedenen Zeiträumen und wissenschaftlichen Diskussionen dominanten Modelle von „Behinderung”, den Fokus auf die Geschichte von Menschen mit Behinderung in beiden deutschen Staaten zwischen 1945 und 1990.
Die Vergangenheit ist allgegenwärtig. Wir können sie scheinbar mit all unseren Sinnen wahrnehmen: So hören wir etwa im Radio Kommentare zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, sehen im Fernsehen im Prinzip täglich Sendungen mit historischem Inhalt und lesen in Zeitungen über neueste archäologische Funde.
Die „Dritte Welt“ hat es nur als abstraktes wirkmächtiges zeitgenössisches Ordnungsmuster der Welt gegeben. Der Begriff wurde von imaginären und tatsächlichen Entwicklungen in den Ländern Asiens und Afrikas sowie zum Teil auch Lateinamerikas geprägt. Jürgen Dinkel zeigt die entsprechende Aufladung des schillernden Begriffs ebenso wie das jeweils politische und wirtschaftliche Agieren dieser an sich sehr unterschiedlichen Länder auf, um mit der Historisierung von Geschichte und Semantiken der Dritten Welt zu beginnen.
Der Erste Weltkrieg ist auch ein Krieg der Bilder, genauer: ein Krieg, in dem erstmals das Medium der Fotografie massenhaft eingesetzt wurde. Schon der „begeisterte“ Abmarsch der deutschen Truppen Anfang August 1914[1] wurde in unzähligen Aufnahmen dokumentiert. Dabei war die Bildberichterstattung stark der Zensur unterworfen. Alle Kriegsparteien hatten zu Beginn oder während des Kriegs eigene Presse- oder Propagandabüros eingerichtet. Die Kriegsberichte und die Fotografien wurden extrem für propagandistische Zwecke eingesetzt; viele Bilder von der angeblichen Front waren zudem gefälscht bzw. in der Heimat nachgestellt worden. Der Krieg war also auch zu einem Medienkrieg geworden. Andererseits blieben die Kriegsaufnahmen nicht mehr auf Bildjournalisten, Fotografen und Propagandaabteilungen beschränkt. Einige Soldaten besaßen inzwischen Kleinbildkameras und dokumentierten ihre Kriegserlebnisse mit eigenen Fotoapparaten.
Visual History (Version 3.0)
(2014)
In Erweiterung der Historischen Bildforschung markiert Visual History ein in jüngster Zeit vor allem innerhalb der Neuesten Geschichte und der Zeitgeschichte sich etablierendes Forschungsfeld, das Bilder in einem weiten Sinne sowohl als Quellen als auch als eigenständige Gegenstände der historiografischen Forschung betrachtet und sich gleichermaßen mit der Visualität von Geschichte wie mit der Historizität des Visuellen befasst.
Schwitzende Werkarbeiter in der DDR, Menschen im Porträt, Bilder als kombinierte Triaden, die ihnen einen neuen Sinn geben – die aktuelle Werkschau des Berliner Fotografen Ludwig Rauch erzählt im Cottbusser Dieselkraftwerk Geschichte und Geschichten. Es geht um die DDR, um Menschen und ihre Biografien: sichtbar gemacht in Porträts und Serien. Das Altern, der Tod und vor allem das Leben sind Motive in Rauchs Werkschau, die er unter dem Titel Noch ein Leben zusammenfasst. Auf drei Etagen begegnen die Ausstellungsbesucher unterschiedlichsten Arbeiten, die auf teilweise überraschende Weise zusammengehören.
„Volksgemeinschaft”
(2014)
„Volksgemeinschaft”, wie sie vom NS-Regime propagiert worden ist, hat es als soziale Wirklichkeit nicht gegeben. Nicht in der Feststellung eines sozialen Ist-Zustandes, sondern vielmehr in der Verheißung, in der Mobilisierung lag die politische Kraft. Michael Wildt plädiert in seinem Beitrag dafür, den Begriff der „Volksgemeinschaft“ praxeologisch zu verstehen und nach den Praktiken ihrer Herstellung zu fragen. In dieser analytischen Perspektive bildet „Volksgemeinschaft” keine festgefügte soziale Formation, sondern wäre vielmehr als soziale Praxis zu untersuchen.
Die Zeitgeschichte ist ein Kind des „Zeitalters der Extreme“. Über die aktuellen Probleme einer zeitlichen und definitorischen Einordnung des Begriffs der Zeitgeschichte schreibt Gabriele Metzler und weist dabei gleichzeitig auf die andauernde Hochkonjunktur zeithistorischer Themen in den Medien und der Öffentlichkeit hin. Die Autorin plädiert für eine unbedingt nötige Neupositionierung der Disziplin. Denn die Zeitgeschichte sieht sich angesichts technischer Neuerungen, der Verfügbarkeit neuer Ressourcen für die Forschung sowie von gewandelten trans- und interdisziplinären Verflechtungen mit neuen Herausforderungen konfrontiert.
Diktaturenvergleich
(2014)
Komparative Verfahren gehören inzwischen auch in der Geschichtswissenschaft zum selbstverständlichen methodischen Handwerkszeug. Detlef Schmiechen-Ackermann zeichnet in seinem Beitrag frühe Etappen der Diktaturforschung und des Vergleichs im internationalen Maßstab nach und fragt, warum vergleichende Betrachtungen von Diktaturen in öffentlichen Debatten in der Vergangenheit so umstritten waren. Daran schließen sich Überlegungen zur Methodik und zu den unterschiedlichen Varianten des „Diktaturenvergleichs“ an sowie ein knapper Ausblick auf die sich wandelnden Perspektiven vergleichender Diktaturforschung im 21. Jahrhundert.
Eine Grundfrage der von Péter Korniss erstellten fotografischen Arbeiten war stets die nach den Möglichkeiten der transgenerationalen Weitervermittlung von Werten innerhalb einer Gemeinschaft. Geht die „alte Welt“, gehen die ländlichen Traditionen in unserer modernen Zeit unwiederbringlich verloren? Werden die Bräuche vom Neuen überlagert? Oder gibt es Spuren des Vergangenen, die erfolgreich mit in die Zukunft übernommen werden können? Bei der Beschäftigung mit Korniss‘ fotografischem Werk fällt auf, dass er im Zuge seiner Arbeit eine Bindung, teilweise sogar Freundschaften, zu den fotografierten Menschen aufbaute und dass er sie über längere Zeiträume hinweg begleitete.
Am 21. Juni 1900 geboren, wächst Willy Stiewe in Berlin auf und studiert nach dem Abitur für kurze Zeit Jura. Ab 1921 ist er in der Redaktion der eben vom Hackebeil-Verlag gegründeten Halbwochenzeitschrift „Große Berliner Illustrierte“ tätig, die 1924 in „Hackebeil’s Illustrierte“ umbenannt wird. Neben dieser Arbeit gibt er 1922 zunächst ein Liederbuch heraus, dem 1924 unter dem Titel Der Krieg nach dem Kriege: Eine Bilderchronik aus Revolution und Inflation ein erstes zeitgeschichtliches Fotobuch folgt.
Bildredakteure
(2014)
Die Frage, wie kollektive Bildgedächtnisse entstehen, ist eng verknüpft mit der Frage nach dem ästhetischen und informativen Gehalt derjenigen Bilder, aus denen sich diese Bildgedächtnisse speisen. Häufig repräsentieren sie historisch einschneidende Ereignisse oder Momente: Dies gilt für die oben genannten Bilder ebenso wie für Robert Capas Aufnahmen vom D-Day in der Normandie, das Bild des sogenannten Tank Man in Peking 1989 oder Bilder vom Einschlag der Flugzeuge in das World Trade Center im September 2001. Andere ikonische Bilder zeigen historische Personen in einer Weise, die deren „Wesen“ besonders gut zum Ausdruck bringt (oder zu bringen scheint). Zu dieser Gruppe von Bildern zählen das millionenfach reproduzierte Porträt von Ernesto „Che“ Guevara, ein Schnappschuss von Albert Einstein mit herausgestreckter Zunge oder das Bild von Marilyn Monroe mit fliegendem Rock auf einem U-Bahnschacht. Alle diese Bilder haben ästhetische Qualitäten, die ihre massenhafte Reproduktion und die daraus resultierende Ikonisierung plausibel erscheinen lassen.
Rolf Gillhausen wird am 31. Mai 1922 in Köln geboren, absolviert nach der Schulzeit eine Schlosserlehre und beginnt ein Studium an der Kölner Ingenieur-Fachschule, um später die Maschinenfabrik eines Onkels übernehmen zu können. Doch Kriegsteilnahme und -gefangenschaft verhindern dies, und so sieht sich Rolf Gillhausen in der Nachkriegszeit nach passenden Jobs um. In Heidelberg findet er Arbeit als Organisator von Festivitäten für die U.S. Army und lernt dabei den Fotografen Fred Ihrt kennen, der ihn in die Bedienung einer auf dem Schwarzmarkt eingetauschten Leica einweist.
Das Eintauchen in die besondere Welt der „Family of Man“ beginnt für den Besucher bereits bei der Anreise: Erscheint der großformatige Hinweis am Abzweig der Schnellstraße noch als gewöhnliches Hinweisschild, führt die weitere Fahrt über immer verschlungenere Kurven schließlich zu einer Anhöhe, die einen beeindruckenden Blick über das im Tal liegende Städtchen Clervaux eröffnet. Dominant auf der gegenüberliegenden Seite erstreckt sich leicht erhöht das schneeweiße Schloss, das im Juli 2013 nach längerer Renovierung die Wiedereröffnung der permanenten Ausstellung „The Family of Man“ feierte.
Atomisierung, Entmündigung, Zwangsorganisation. Arbeitsrecht und Arbeitsverfassung im Dritten Reich
(2013)
Die Arbeitsverfassung des Dritten Reiches zielte in ihrem Kern auf die "vollkommene Atomisierung der deutschen Arbeiterklasse", so der sozialdemokratische Politikwissenschaftler Franz Leopold Neumann 1942 in seinem berühmten "Behemoth". Und in den Deutschland-Berichten der SOPADE hieß es bereits 1935: "Das Wesen der faschistischen Massenbeherrschung ist Zwangsorganisation auf der einen, Atomisierung auf der anderen Seite." Atomisierung und eine zugleich repressive wie sozialpaternalistische Integration der Arbeitnehmerschaft in eine rassistisch definierte "deutsche Volks- und Leistungsgemeinschaft" - in diese Formel lassen sich auch die Grundintentionen fassen, nach denen das NS-Regime die neue Arbeitsverfassung und ebenso das Arbeitsrecht zu strukturieren versuchte. Was aber heißt dies konkret? Wie erfolgreich waren das Hitler-Regime und die nationalsozialistischen Arbeitsrechtler bei der Verwirklichung dieser Ziele? Zu diskutieren ist in diesem Zusammenhang außerdem, ob (und inwieweit) sich die Arbeitsmarktkonstellationen, (sonstige) Tarifverhältnisse und innerbetriebliche Sozialbeziehungen auf Dauer überhaupt autoritär-zentralistisch regulieren lassen.
Am 6. Dezember wird Timothy Snyder der Hannah-Arendt-Preis im Bremer Rathaus verliehen. Sein Buch „Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin“, das 2010 in den USA und 2011 in deutscher Übersetzung erschien, hat die Geschichtsschreibung nachhaltig verändert.
Erstmals hat ein Historiker explizit die Massenmorde des nationalsozialistischen und stalinistischen Regimes in Beziehung gesetzt und jene ostmitteleuropäische Region von Zentralpolen, der Ukraine und den baltischen Staaten bis Weißrussland in den Mittelpunkt gestellt, in der von 1917 bis 1947/48 etwa 14 Millionen Menschen starben, keine Soldaten, sondern wehrlose Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder – die „Bloodlands“.
Vor einigen Jahren nannte Peter Longerich das Protokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 "eines der wichtigsten überlieferten Dokumente zur Planung und Organisation des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden durch das NS-Regime".
Dieser Einschätzung, der sich die überwiegende Zahl der Fachkollegen wohl vorbehaltlos anschließen kann, fügte Longerich aber noch einen wichtigen Aspekt hinzu. »Durch dieses Dokument«, so Longerich im darauf folgenden Satz, "ist die Konferenz am Großen Wannsee als Synonym für den kaltblütigen, verwaltungsmäßig und arbeitsteilig organisierten Massenmord der NS-Zeit in der Erinnerung". (...)
Es ist ein Jahrhundertbuch. 1901 mit über 800 Seiten erstmals veröffentlicht – bei späteren Auflagen waren es meist über 1.000 –, erreichte das Buch 1913 die erste Million. 1929 folgte eine „Neue Dritte Millionen-Ausgabe“, die zu dieser Zeit allerdings eher eine Absicht anzeigte als die tatsächlich erreichte Auflage. Denn 1969, nach mehreren Neuauflagen, Volks- und Buchgemeinschaftsausgaben meldete das Süddeutsche Verlags-Institut Julius Meyer, in dem „Die Frau als Hausärztin“ seit 1901 erschienen war, eine Gesamtauflage von „nur“ 3.365.000 Exemplaren. Die letzten Auflagen publizierte 1979, 1985 und 1993 der inzwischen von Random House aufgekaufte und eingestellte Falken Verlag.
Historians have analyzed films, novels, records, theater plays etc. primarily in reference to their meaning and reception. This article makes a case for moving the focus to the actors, structures and processes that shape symbolic objects before these are consumed. To this end, we present a framework established in US sociology to study the fabrication, distribution and evaluation of symbolic content. We discuss the production of culture perspective as an approach that appears to be particularly useful for historical research and, by reviewing selected works from the sociological literature, demonstrate how this perspective can be applied to phenomena like popular music and literary fiction. We focus on genres as bundles of conventions as one lens through which historians may analyze the creation, reproduction, evaluation and consumption of culture.
Obwohl in der deutschen Zeitgeschichte über den Zugang zu politisch sensiblen Akten seit einigen Jahren diskutiert, mit Archiven und Behörden verhandelt oder gar öffentlich gestritten wird, sind die Vorgeschichten, Wege und Umwege dieser Konflikte noch so gut wie unerforscht. Abgesehen von Astrid M. Eckerts weiterhin einschlägiger Studie zum „Kampf um die Akten“ des NS-Staats nach 1945 hat sich die zeithistorische Forschung selten für die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren interessiert, von denen der Gebrauch staatlichen Schriftguts durch Historiker, Journalisten und Juristen abhing. Wer sich über den Wandel der Nutzungsbedingungen, der Rechtslage und der gesellschaftlichen Nachfrage nach Akten informieren möchte, kann bislang nur auf wenige Spezialstudien zurückgreifen.
Als im Laufe der 1980er-Jahre überall in Südamerika Militärdiktaturen von demokratischen Regierungen abgelöst wurden, schürte das Erwartungen, endlich Genaueres über die unmittelbar zurückliegende Zeit der Repression zu erfahren. Vor allem während der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre waren die Regime mit großer Brutalität gegen die eigene Zivilbevölkerung vorgegangen. Schon damals hatten Menschenrechtsorganisationen Aufklärung gefordert; nun fragten sie mit neuer Vehemenz nach: Wo waren die Kommilitonen, Arbeitskollegen, Verwandten oder gar die eigenen Kinder geblieben, die am helllichten Tag in Autos gezerrt oder klammheimlich aus der Wohnung geholt worden waren? Wie viele Menschenleben hatten die staatlichen Repressionsmaßnahmen gefordert? Wer hatte sich an ihnen beteiligt? Im Kampf um Akten, die Aufschluss hätten geben können, standen sich nach wie vor die alten Lager gegenüber: auf der einen Seite die konservativen Eliten, die bereits unter den Militärdiktaturen gedient hatten und die in vielen Fällen ihre politische Laufbahn in den sich neu formierenden Parteien des rechten Spektrums fortsetzen konnten. Sie wollten die zurückliegende Epoche als berechtigten Kampf gegen die kommunistische Gefahr gedeutet sehen. An einer Freigabe von Akten aus der Zeit der Repression, die dieser Deutung zuwiderliefen, hatten sie kein Interesse. Auf der anderen Seite befanden sich ehemalige Dissidenten, Opferverbände, Menschenrechtsorganisationen und Publizisten. Sie suchten nach Beweisen, die die These von der Notwendigkeit der Repression widerlegten und mit deren Hilfe sich Forderungen nach Wiedergutmachungszahlungen und strafrechtlicher Ahndung der Verbrechen untermauern ließen.
After a seven-year period of military dictatorship and following the reestablishment of parliamentary democracy in 1974, historical studies have been a continuously developing field in Greece. Similarly as in Spain and Portugal at much the same time, archives became accessible for academic historians. The general public’s expectations about the establishment of historical ‘truth’ concerning the recent past were pressing.1 It is against this backdrop that we propose to review the changing conditions of historical research and especially the challenges involved in gaining access to primary sources, in particular those related to ‘national matters’. We will try to show the ways in which the particularities of the Greek case have to do with the history of civil rights in the country in the twentieth century, both during the interwar years and – more dramatically – during the Cold War period.
Diesen Spielfilm umgab nicht nur hierzulande lange ein hartnäckiges Missverständnis. Er feiere, so hieß es, eine glitzernde Scheinwelt, in der narzisstische Mitmacher konsumierten statt kritisierten. Er repräsentiere den neukonservativen Wertehimme der „Lord-Extra-Generation angepaßter Jungen und Mädchen“.1 Andere sahen eher Resignation und Flucht vor bedrückenden Gegenwartsproblemen. 1978, auf dem Höhepunkt der so genannten Disco-Welle, waren sich westdeutsche Beobachter aber darin einig, das massenhafte Tanzen zu elektronisch reproduzierter Musik als Anpassung und Entpolitisierung der jungen Generation deuten zu dürfen. Auch nachdem die Welle und die mit ihr verbundene Kulturkritik abgeflaut waren, blieb „Saturday Night Fever“ als belangloses „Sozialaufsteigerfilmchen“ gespeichert. Poststrukturalistisch gewendet lässt sich der Streifen als Auftakt zu einer Reihe international erfolgreicher Tanzfilme wie „Fame“ (1980), „Flashdance“ (1983) oder „Footlose“ (1984) verstehen, die in den neoliberalen 1980er-Jahren dem Publikum ein unternehmerisches Verhältnis zum eigenen Körper nahebrachten.
In France, the culture of secrecy continues to dominate access policies. The acceptance of or resistance to this culture by various social actors, including government officials, civil servants such as archivists, historians, independent scholars, and journalists, partly explains the historical tension between advocates of a more restrictive or liberal policy of access to government records deemed ‘sensitive’. Unlike the American case with its long-established right to access, in France, access to information is just starting to be considered a citizen’s right. Initial reactions to the first version of my book (1994) sparked a rather violent debate. In the controversy, most of the archivists and some influential historians either denied or justified the difficulty of accessing so-called ‘sensitive archives’. Indeed, thanks to the ‘invisibility’ of this question until then, a book dedicated to the ‘Vichy Syndrome’, which had been published some years before, did not even mention this problem as evidence of France’s difficulties in facing the past.
The supposedly commercial products of the culture industry are increasingly facing sales difficulties because growing numbers of self-assertive consumers are downloading products at will, thus no longer following the given rules of the market. Not only multinational record companies, but also representatives of ‘high’ culture are adamant in their criticism of the current ‘culture for free’ tendency. The latter can hardly be characterized as profit-oriented – nor would they describe themselves that way – but they contend that bootleg copies are a threat to their livelihood, and that the culture of piracy paves the way for harebrained mass products. The discussion encompasses copyright laws and the ways consumers are appropriating cultural products as well as the question whether or not these tendencies will fundamentally change the production of culture. Such debates are charged with cultural criticism, but in essence of economic nature. In addition, the cultural sector is faced with the accusation of waning societal relevance. In the arts and features sections of newspapers and magazines, journalists and essayists bemoan that pop culture is no longer ‘the voice and mirror of political and social change, like twenty or thirty years ago’. Although popular culture may have evolved from its original return and distribution strategies as well as its constitutive (at least for some) connection to youth and protest movements, a medially conveyed, market-driven culture that is accessible to a wide audience remains a characteristic feature of modern societies and their self-perceptions.
Zur Durchsetzung einer Apologie. Hermann Lübbes Vortrag zum 50. Jahrestag des 30. Januar 1933
(2013)
Soll nun schon an das Jubiläum von Vorträgen erinnert werden, ließe sich fragen. In diesem Fall durchaus, denn gerade der Vortrag des Philosophen und Politikwissenschaftlers Hermann Lübbe anlässlich des 50. Jahrestags der nationalsozialistischen „Machtergreifung“, den er am 15. Januar 1983 im Berliner Reichstagsgebäude hielt, hat in der zeitgeschichtlichen Zunft eine ganz ungewöhnliche Karriere aufzuweisen. Hier, so der weit verbreitete Eindruck, hatte es ein kühl und nüchtern argumentierender konservativer Intellektueller den linken Moralisierern, die den angeblich defizitären Umgang mit der NS-Vergangenheit zur Diskreditierung der bundesdeutschen Gesellschaft funktionalisierten, einmal so richtig gegeben. Der thesenförmige Vortrag, sehr bald und an verschiedenen Orten veröffentlicht, gilt mitunter geradezu als kanonischer Text.
Spätestens seit die französischen Revolutionäre die Verwaltungsakten der Krone 1794 zu öffentlichem Eigentum erklärten, ist die Frage nach der Freigabe und Nutzung staatlichen Schriftguts ein Politikum. Welche Informationen welchem Personenkreis zu welchem Zeitpunkt und Zweck zugänglich sind, war und ist umstritten – ganz gleich, ob die Akten noch in Gebrauch sind oder bereits archiviert wurden. Die Entscheidung darüber, welche Daten vernichtet oder archiviert, veröffentlicht oder verheimlicht werden sollen, ist dabei nur zum Teil die Folge jener historiographischen Bedürfnisse, technisch-kulturellen Entwicklungen und juristischen Vorgaben, die momentan im Zentrum deutscher Debatten um das Recht auf Aktenzugang stehen. Viel häufiger war die Freigabe von Akten beziehungsweise der Ausbau von Datenschutzbestimmungen das Ergebnis machtpolitischer Aushandlungsprozesse, bei denen gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und internationale Konfliktlagen den Ausschlag gaben – manchmal in aller Öffentlichkeit, nicht selten aber auch hinter verschlossenen Türen. Die hier versammelten Beiträge über die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Griechenland und Südamerika sollen dazu anregen, derartige Auseinandersetzungen international vergleichend zu historisieren und dabei auch nach Transferprozessen zu fragen.
Klaus Nathaus and C. Clayton Childress convincingly argue that cultural and symbolic objects are produced before they are consumed and that therefore cultural historians should take a closer look at the social and economic conditions of cultural production. Instead of taking it for granted that mass reception inversely indicates the existence of a demand already ‘being there’, historians should dig into the production processes influenced (among others) by individual taste, material interest, and arbitrary decisions – or, as Nathaus, Childress and the often cited Richard A. Peterson would call it – contingency. While most of Nathaus and Childress’s examples stem from the field of music, I will in my response apply the cultural production concept to a non-musical field, namely documentary photography in the first half of the twentieth century. Further, I will raise some questions that still seem to be unanswered. Given that the causal relation between production and consumption by and large equals the chicken and egg problem, what sense does it make to shift attention from reception to production – especially when dealing with modifications of objects, commodities, or genres rather than inventions in the sense of ‘there was nothing like this before’? I will suggest to extend the concept beyond the study of ‘classical’ cultural objects – like novels or records – and to include commodities like food, clothes, or cars. Finally, I will raise the question of how to apply the production of culture perspective to socialist economies after 1945, which to my knowledge has not been tried yet.
Die Lebensgeschichte des SED-Chefs Erich Honecker (1912–1994) gilt gemeinhin als reizlos. Näheres biographisches Interesse hat bislang vor allem die Frage erweckt, weshalb ein so „mittelmäßiger“ Parteifunktionär sich über 18 Jahre lang in der DDR an der Macht halten konnte. Der Beitrag versucht zu zeigen, dass ein klassischer individualbiographischer Zugang dem Phänomen des „blassen Diktators“ Honecker nicht gerecht wird. Erst in einer milieu- und generationsgeschichtlichen Perspektive wird die biographische Bindungskraft des Herrschaftsstils fassbar, den Honecker als Repräsentant der jüngsten Kohorte der ostdeutschen Gründergeneration entwickelte. Die für ihn charakteristische Verbindung von Starrheit und Elastizität trieb zunächst den Übergang der kommunistischen Herrschaft in ihre auf bloße Machtsicherung bedachte Veralltäglichungsphase voran; später beschleunigte sie den Untergang dieses Systems.
Der Schlaf scheint auf den ersten Blick eine „anthropologische Konstante“ zu sein. Eine Historisierung der Regeln und Praktiken des Schlafs im 20. Jahrhundert kann jedoch zeigen, wie eng Vorstellungen vom „richtigen“ Schlafen an die Machtstrukturen der Gesellschaft geknüpft waren. Dieser Artikel geht der Frage nach, auf welche Weise Arbeitgeber, Sozialplaner, Ärzte und Psychologen auf den Schlaf und damit auf den Körper, die Arbeitskraft und die Zeit des Individuums zuzugreifen versuchten. Anhand von fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen und Diskussionen, aber auch von populären Ratgebertexten wird in einem ersten Schritt untersucht, wie und warum der Rhythmus des Schlafs seit Ende der 1920er-Jahre zu einem stark beachteten Thema wurde. In einem zweiten Schritt geht es um die Veränderungen, die der Zweite Weltkrieg im Umgang mit dem Schlaf bewirkte. In einem dritten Schritt wird der entscheidende Bruch in der Mitte der 1950er-Jahre untersucht, der das schlafende und arbeitende Individuum zum Gegenstand einer modernen Schlafforschung und neuer Schlafregeln machte.
Angela Davis war eine der intellektuellen Leitfiguren der afroamerikanischen Bewegungen für Freiheit und Gleichheit in den USA. Als sie von 1970 bis 1972 inhaftiert war, gab es in der DDR eine breite Solidaritätskampagne, initiiert von der SED-Führung und mobilisiert durch die Massenorganisationen. Diese Kampagne verweist auf eine transnationale Dimension in der Geschichte der DDR; Davis wurde als „unsere Genossin“ vereinnahmt. Der Beitrag zeigt, welche Bedeutung die Kampagne im Rahmen der internationalen Anerkennungsbestrebungen der DDR hatte, welchen Stellenwert sie aber auch innenpolitisch gewann. Nach ihrer Freilassung besuchte Davis 1972 und 1973 die DDR und wurde als sozialistische Heldin präsentiert. Dies ist nicht allein als Ausdruck propagandistischer Steuerung zu verstehen, sondern zugleich als Teil einer genuinen Alltagskultur des Kalten Kriegs in der DDR.
Zu diesem Heft
(2013)
In this issue
(2013)
Impfungen sind ein Traum der Moderne: Sie versprechen den Schutz ganzer Gesellschaften. In den beiden deutschen Staaten wurde dieser Schutz mit unterschiedlichen Methoden vorangetrieben – das Mobilisieren von Ängsten, Appelle an die Sorge um das Gemeinwohl oder die Durchsetzung von Impfpflichten sollten die Gesundheit des Einzelnen und den „Herdenschutz“ der Gesellschaft sichern. Der Aufsatz erkundet die deutsch-deutsche Geschichte des Impfens von den 1950er-Jahren bis 1989/90. Im Fokus stehen Aushandlungen von Risiko- und Sicherheitsvorstellungen, Versuche eines „Emotion Management“ sowie Debatten über das Verhältnis zwischen staatlicher Interventionsmacht und staatsbürgerlicher „Mündigkeit“. Anhand der Konflikte zwischen der Bundesrepublik und der DDR wird zudem gezeigt, dass der Wettlauf um die bessere Immunisierung ein Kampf um die bessere soziale Ordnung war. Andererseits wird belegt, dass es auf dem Gebiet der Impfpolitik gerade in den 1980er-Jahren eine wachsende Tendenz zur deutsch-deutschen und internationalen Kooperation gab.
Eine Geschichte der genetischen Beratung in der Bundesrepublik ist noch nicht geschrieben. Dies ist erstaunlich, lassen sich in der Verbindung von Beratungspraxis und Behinderung, Konzepten und Kritik an der Humangenetik doch grundsätzliche Fragen zum Wandel von Normalitätsvorstellungen, Geschlechterrollen und Gesellschaftsbildern verfolgen. Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht ein brisantes Thema: Sterilisationsempfehlungen für geistig behinderte Frauen und Mädchen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren ausgestellt wurden. Am Beispiel einer Hamburger humangenetischen Beratungsstelle betrachtet der Aufsatz das damalige Verhältnis von Genetik, Behinderung, Geschlecht und Vorsorgekonzepten. Die Kritik an der Sterilisationspraxis bildet einen weiteren Schwerpunkt des Beitrags. In den frühen 1980er-Jahren trugen Gegner und Befürworter geschichtspolitisch aufgeladene Kontroversen aus, die neue Blicke auf Behinderung hervorbrachten, zugleich aber auch Ambivalenzen gesellschaftlicher Liberalisierungsprozesse erkennen lassen.
Der Aufsatz entwirft eine Zeitgeschichte der Vorsorge, die sich für den hygienepolitischen Übergang von Praktiken der Intervention und Krisenbewältigung zu Praktiken der Prävention interessiert. Am Beispiel der Pestvorsorge in der Sowjetunion wird erstens ein Prozess der Institutionalisierung, Professionalisierung und Verwissenschaftlichung dargestellt. Zweitens werden die Eigenheiten des sowjetischen Falls herausgearbeitet. Die dortige Pestbekämpfung war bis in die 1930er-Jahre von Interventionen geprägt, die aus einem Repertoire repressiver, im Kontext der Zwangskollektivierung etablierter Maßnahmen schöpften. Der Umgang mit der Pest war nicht mit Aufklärung verknüpft, sondern mit Geheimhaltung. Die Einrichtung eines Netzwerks wissenschaftlicher Forschungsstätten führte zu einem Wandel im Umgang mit der Seuche. Dies war eingebettet in parallele Diskurse über administrative Grenzen und geographisches Wissen. Der Aufsatz stützt sich auf Quellen aus Staats- und Partei-Archiven in der Russischen Föderation und der Republik Aserbaidschan.
Der Vorsorgegedanke gehört, im Gesundheitswesen und darüber hinaus, zu den grundlegenden Kulturtechniken der Moderne. Die neuere Medizinsoziologie hat die Entwicklung der Gesundheitsprävention als Teil eines institutionellen Umbruchs von einem Gesundheitswesen alten Typs (Old Public Health) zu einem System neuen Typs (New Public Health) interpretiert. Demzufolge ging die Gesundheitspolitik alten Stils primär von staatlichen Einrichtungen aus und versuchte spezifische Krankheiten bei entsprechenden Risikogruppen zu bekämpfen. Dagegen betonen Ansätze des New Public Health das Leitbild einer umfassenden, auf die Gesamtbevölkerung zielenden Gesundheitsförderung, machen aber zugleich das Individuum verstärkt für die Vorsorge verantwortlich. Mit dem neuen Präventionsregime verbinden sich gleichwohl erhöhte normative Ansprüche und ausgeweitete staatliche Regulierungen. Sie manifestieren sich etwa in Tabaksteuern und Rauchverboten oder in Forderungen nach neuen Impfzwängen (Gebärmutterhalskrebs), obligatorischen Vorsorgeuntersuchungen (Brustkrebs) oder fiskalischen Auflagen wie den in Dänemark oder Ungarn eingeführten Zucker- und Fettsteuern.
Das Jahr 2012 bot der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln (BZgA) Grund zum Feiern: Einer ihrer einflussreichsten „Mitarbeiter“ konnte auf 25 Dienstjahre zurückblicken. Rund drei Viertel aller Bundesbürger waren dem Jubilar, der sich seit 1987 traditionell in den Farben Weiß, Rot und Schwarz kleidet, im Vorjahr auf der Straße, im Kino oder im Internet begegnet. Zwar hatte er sich im Laufe der Jahre hier und da etwas verändern müssen – gleichwohl wurde er durch seinen Arbeitgeber niemals ersetzt. Die Rede ist vom Slogan „GIB AIDS KEINE CHANCE“, dem Markenzeichen der zentralen BZgA-Aidspräventionskampagne.
Es waren nicht zuerst die Zeithistoriker, die das Thema Alter und Altern für die Geschichtswissenschaft erschlossen. Die Pioniere näherten sich dem Gegenstand aus dem 19. Jahrhundert oder griffen noch viel weiter aus. Diese Perspektive der longue durée ist vor allem der Sozialgeschichte eigen: Bezogen auf Alter und Altern flankierte sie die Historische Demographie, um Altersaufbau, Lebenserwartung und Familienstrukturen von Gesellschaften über Jahrhunderte hinweg zu rekonstruieren. Ebenso lässt sich die Entwicklung von Rentensystemen und ihren Vorläufern in der Langzeitperspektive beschreiben. Die Kulturgeschichte folgte diesem Pfad; sie beleuchtete Altersbilder und -diskurse seit der Antike, wobei sie die Ambivalenz positiver und negativer Deutungen als Kontinuität entdeckte. Als dritter Strang der historischen Altersforschung hat sich die Medizingeschichte lange Zeit separat entwickelt.
Safer Sex und Solidarität. Die Sammlung internationaler Aidsplakate im Deutschen Hygiene-Museum
(2013)
Plakate sind für die Kommunikation im Vorbeigehen gedacht und wenden sich an ein Massenpublikum. Für die Bildsprache und den Text des Plakats erfordert dies eine Reduktion auf das Wesentliche. Wird diese Technik des Reduzierens erfolgreich angewendet, verdichten Plakate bestimmte Leitideen ihrer Entstehungszeit – und genau das macht sie als Quellen für die Geschichtswissenschaft interessant. In den bedeutenden europäischen Plakatsammlungen liegt das Augenmerk meist auf Ausstellungs- und Filmplakaten, auf Wahl- und Propagandaplakaten sowie auf Werbeplakaten für Markenprodukte des 19. und 20. Jahrhunderts. Einen anderen Schwerpunkt legt die Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden (DHMD)1 mit rund 12.000 Plakaten. Dieser Bestand dokumentiert die deutsche Geschichte von „Gesundheit und Prävention“ sowie einzelne Kapitel der entsprechenden internationalen Geschichte vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
What is striking about recent research on residential care is not only its national bias and its tendency to neglect regional variations in ‘texture’, but also its preoccupation with contemporary issues and its lack of historical context. The notion of contingency, that is, the idea that things might have evolved differently, often seems to be missing. Moreover, most of the literature appears to be one-dimensional, downplaying the diversity, complexity and ambiguity of real developments. It often lacks an awareness of the power of precedents in shaping society’s attitudes to residential care and the practical responses to this problem. This is particularly important because, as this article tries to demonstrate, the present situation of residential care reflects the cumulative impact of traditions and cultural norms, of past decisions and commitments.
Es ist erst einige Jahre her, da erinnerte ein überdimensionales, begehbares Prostatamodell Männer an die Wichtigkeit der Krebsvorsorge. Eine „Urolisken“- Skulptur, die in verschiedenen deutschen Städten aufgestellt wurde, hatte dasselbe Ziel. Beide Aktionen zeigen: Alternde Männer werden derzeit in ihrer Körperlichkeit verstärkt sichtbar. Für alternde Frauen könnte man Ähnliches feststellen.1 Dies war längst nicht immer so. Wer die Situation alter Männer mit Prostatakarzinom als Familienväter und -versorger im frühen 20. Jahrhundert nachzuzeichnen versucht, stößt schnell an Grenzen, was mit der schwierigen Quellenlage zu tun hat. Mediziner hatten für diese Patienten wenig Handlungsspielraum, Behandlungsmethoden reduzierten sich oftmals auf Palliation, und für die Öffentlichkeit blieben die Krankheitsverläufe dieser Männer ohnehin meist unsichtbar. Im Gegensatz dazu gibt es im späten 20. und beginnenden 21. Jahrhundert eine öffentliche Zurschaustellung.
Wie lässt sich soziale Ungleichheit in staatssozialistischen Gesellschaften konzeptionell fassen? Der Beitrag stützt sich auf neuere Ungleichheitskonzepte der Soziologie und führt die Debatte um das Verhältnis von Sozial- und Geschichtswissenschaften fort – im Hinblick auf aktuelle Fragen einer Gesellschaftsgeschichte der kommunistischen Diktaturen. Diskutiert werden die gewollten und ungewollten Verteilungen sozialer Vor- und Nachteile, die innergesellschaftlichen Diskurse über „Privilegien“ und „arbeiterlichen Egalitarismus“ sowie die sozialen Dynamiken im Vorfeld der Systemtransformationen Ende der 1980er-Jahre. Besonders am Beispiel der DDR zeigt der Aufsatz die „intersektionale“ Verteilung von Armut und Reichtum nach Einkommen, bürokratischen Mechanismen und Effekten des „grauen“ Marktes. Eine weiterführende These lautet: Es gab einen engen Zusammenhang zwischen der sozialen Differenzierung im späten Staatssozialismus vor 1989/90 und der „Verungleichung“ danach.
Der Aufsatz geht der Frage nach, welche Formen von Armut es in der DDR in den Jahrzehnten nach dem Mauerbau gab und wie über sie kommuniziert wurde. Sozialhistorisch rekonstruiert wird die Unterversorgung zweier ausgewählter Armuts-Gruppen: Rentner und kinderreiche Familien. Auf der Basis von Akten, zeitgenössischen wissenschaftlichen Arbeiten und Medienberichten wird zudem betrachtet, welche Images von „Armut“ zirkulierten. Zwar galt Armut im Selbstverständnis des SED-Staats als überwunden. Dennoch war offenkundig, dass es soziale Ungleichheiten, ja Notlagen auch in der DDR gab, und diese fanden in der damaligen Sozialforschung ein breites Interesse. Die Einkommens- und Wohnverhältnisse von Rentnern, besonders von Rentnerinnen, waren häufig prekär, so dass viele von ihnen eine zusätzliche Arbeit aufnehmen mussten – was mit dem Bild des „rüstigen“ Alten beschönigt wurde. Bei Kinderreichen wurde differenziert zwischen den „würdigen“, „wohlorganisierten“ und den „liederlichen“, „dissozialen“ Familien. So ging es im Hinblick auf beide Gruppen nicht allein darum, ihre Armut zu lindern. Das vorrangige Ziel war vielmehr, sie mit positiven Images zu versehen und abweichendes Verhalten zu sanktionieren.
Im sozialistischen Polen war soziale Ungleichheit kaum ein Thema öffentlicher Debatten. Nach 1989 hingegen wurde sie zu einer Streitfrage, denn die Transformation erzeugte neue Formen von Armut und Reichtum bzw. machte auch ältere Formen stärker sichtbar. Hatten die Polen das politische Establishment der Volksrepublik abgewählt, weil die Regierung ihr Gleichheitsversprechen nicht hatte halten können, oder weil sie sich als unfähig erwiesen hatte, den Niedergang der Wirtschaft aufzuhalten? Meinungsumfragen, die von den 1960er-Jahren bis in die späten 1980er-Jahre durchgeführt wurden, geben darauf einige Antworten; sie werden im vorliegenden Beitrag erstmals systematisch herangezogen und quellenkritisch eingeordnet. Bis Mitte der 1980er-Jahre unterstützte ein großer Teil der Bevölkerung soziale Gleichheit und kritisierte soziale Unterschiede. Das änderte sich fundamental, als die soziale, politische und private Frustration der Bürger zusammenfiel mit einem tiefen wirtschaftlichen Niedergang. Nun wurde das bisherige System als Hindernis auf dem Weg zu radikalen marktwirtschaftlichen Reformen betrachtet. Dass mit solchen Reformen wachsende Ungleichheit verbunden sein würde, war den Befragten durchaus bewusst.
As a striking phenomenon of Soviet consumption, Beriozka stores appeared in the late 1950s and existed until the end of the 1980s. This chain of stores was a state trade organization selling goods that were otherwise in short supply (cars, fashionable clothes, household appliances, etc.) for special ‘checks’ used as equivalents of foreign currency by special groups of Soviet citizens. Similar stores existed in other socialist countries. The article shows that these stores on the one hand became an element of the existing system of state-granted entitlements. The customers were Soviet citizens who earned money abroad as well as people who did not go abroad but received remittances from foreign sources. On the other hand, the development of the black market (barely persecuted by the state) made it possible to purchase Beriozka checks for roubles; so it granted access to sought-after goods (among them even goods from the West) to a wide range of consumers. Paradoxically, Beriozka was criticized and much frequented at the same time.
Welches Maß an Gleichheit muss eine sozialistische Gesellschaft garantieren, und wie viel Ungleichheit benötigt sie, um nicht in Stagnation zu versinken? Solche Fragen beschäftigten die sowjetischen Bürger nicht erst seit der perestrojka, aber in dieser Phase wurde der von der Kommunistischen Partei vorgegebene Diskursrahmen erweitert und schließlich gesprengt. Die Privilegien der Nomenklatura boten das Feld, auf dem über Ungleichheit und Verteilungsgerechtigkeit gestritten wurde. Briefe von Bürgern an die Deputierten des Obersten Sowjets aus den Jahren 1989/90, die in diesem Aufsatz erstmals näher erschlossen werden, geben Einblick in unterschiedliche Positionen. Deutlich wird, dass nicht die Prinzipien der Verteilung als ungerecht galten (Leistungen für Staat und Gesellschaft als primäres Kriterium), aber ihre Ergebnisse. Ausgehend von Fragen sozialer Gerechtigkeit erweiterte sich die Debatte um Fragen politischer Gerechtigkeit; sie mündete in eine grundlegende Kritik an der Parteiherrschaft und beschleunigte den Zusammenbruch der bisherigen Ordnung.
Soziale Ungleichheit hat viele Gesichter und stellt sich in verschiedenen Gesellschaftsformationen jeweils unterschiedlich dar.1 China ist ein besonders interessanter Fall, weil dort eine Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft unter der Ägide der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) abläuft. Sozialistisches Erbe und kapitalistische Gegenwart gehen also eine ungewöhnliche Verbindung ein. Vor diesem Hintergrund soll der vorliegende Beitrag zeigen, dass die heutigen sozialen Ungleichheiten in China nicht allein das Produkt der Hinwendung zum Kapitalismus sind. Gemäß der Humankapitaltheorie müsste in einer marktbasierten Gesellschaft die individuelle Bildung den größten Beitrag zur Erklärung bestehender Einkommensungleichheit liefern. In der Praxis sind aber auch in kapitalistischen Gesellschaften die Startvoraussetzungen der Einzelnen nicht gleich: Sie hängen stark von der sozioökonomischen Stellung der Eltern ab, sprich von deren ökonomischem und kulturellem Kapital. Über die Weitergabe des Status von einer Generation zur nächsten bilden sich typischerweise soziale Schichten heraus, die je nach Gesellschaft mehr oder weniger Durchlässigkeit aufweisen. In China kommt noch ein dritter Faktor hinzu: Die im Staatssozialismus angelegten sozialen Differenzierungen bilden die Basis für heutige soziale Ungleichgewichte. „Politisches Kapital“ spielt nach wie vor eine wichtige Rolle – Verbindungen zur Herrschaftselite und die Stellung im offiziellen politischen Diskurs besitzen entscheidenden Einfluss auf die Schichtungsergebnisse.
Der untergegangene Staatssozialismus war eine Gesellschaft der Gleichen. Mit ihrer Gleichheit war es aber so eine Sache. Wie es in Orwells „Farm der Tiere“ heißt: „Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher.“ Trotz dieses Einwandes erscheint manchem die Unterscheidung zwischen vergangener Gleichheit und heutiger Ungleichheit plausibel, weil es seit 1989/90 eine rasante soziale Ausdifferenzierung gab. Sie hat den Staatssozialismus nachträglich in ein milderes Licht getaucht. Der vorliegende Essay wird sich mit dem sozialen Wandel und der Entstehung der gegenwärtigen Ungleichheit in Osteuropa beschäftigen – die einigen als gerecht, anderen aber als ungerecht erscheint. Um genauer verstehen zu können, was die Ungleichheit für die Politik und den Alltag in diesen Gesellschaften bedeutet, soll gefragt werden: Wie stand es mit Gleichheit und Ungleichheit im Spätsozialismus? Welche Art von sozialer Ungleichheit bildete sich nach 1989 heraus, und welche Aufgaben für deren politikwissenschaftliche und zeitgeschichtliche Analyse lassen sich identifizieren?