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Seit den frühen 1970er-Jahren entstanden in vielen westeuropäischen Ländern »Dritte-Welt-Läden«. Sie waren bis in die späten 1980er-Jahre die wichtigste Verkaufsform des »Alternativen Handels«. Der Aufsatz interpretiert diese Läden als konsumkritische Konsumorte, in denen zeitgenössische Utopien eines gerechten, postkolonialen Welthandels symbolisch realisiert werden sollten. Der Aufsatz ordnet den »Alternativen Handel« zunächst in die ideengeschichtlichen Kontexte der 1960er- und 1970er-Jahre ein; anschließend wird die konkrete Verkaufspraxis, Inszenierung und Gestaltung der Läden analysiert. Mit Hilfe von Beispielen aus der Bundesrepublik Deutschland und aus Großbritannien werden zudem die Unterschiede in der Verwirklichung des Handelsmodells herausgearbeitet. Der »Alternative Handel« steht für ein neues Verhältnis von Konsum, Moral und politischem Protest in der Zeit »nach dem Boom«. Allerdings führt von den »Dritte-Welt-Läden« der 1970er- und 1980er-Jahre keine gerade Linie zu den heutigen Milliardenumsätzen mit »Fairtrade«-Produkten. Diese Marktexpansion ist eher eine Geschichte der Diskontinuität.
Wirft man einen Blick in die Aids-Plakatsammlung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden oder in die Bestände zu diesem Thema im Deutschen Plakat Museum im Museum Folkwang in Essen, so findet man etwa dies: Eine Trans-Person mit rotgeschminkten Lippen und farbenprächtig schattierten Augenlidern blickt ernst und fordernd in die Kamera. »DON’T STOP PASSION, STOP AIDS«, steht in Versalien über dem Porträt geschrieben, das eine Plakatkampagne ziert, die vom Ministerium für Gesundheit in Luxemburg 1996 in Auftrag gegeben wurde. »Strength comes from being safe«, ist auf einem anderen Plakat von 1994 aus Neuseeland zu lesen, auf dem sich zwei junge Maori sinnlich in weißen Laken räkeln. Wieder ein anderes Plakat, das 1986 von der Gesundheitsaufklärungsorganisation HERO in Baltimore herausgegeben wurde, zeigt zwei muskulöse Männer in Unterhemden, deren Körperhaltung zwischen Posing und Striptease changiert. »You won’t believe what we like to wear in bed«, ist darauf zu lesen. Die Botschaft dieser drei Plakate ist angesichts der Slogans, des konkreten Imperativs im Plakattext (»Use Condoms«) oder des logoähnlich platzierten Kondoms am unteren rechten Plakatrand unmissverständlich: »Benutzt Kondome, sie schützen vor Aids«. Damit können die Plakate als Beispiele für eine Präventionsstrategie gelesen werden, die in vielen Ländern seit Mitte der 1980er-Jahre dominierte. Das Ziel lautete, über Infektionswege aufzuklären und für ein Verhalten zu werben, das vor Ansteckung schützen sollte. Dieser Konsens, auch »liberale AIDS-Politik« genannt, setzte verstärkt auf Eigenverantwortlichkeit; der Fokus lag vor allem auf Botschaften wie safer sex und safer use.
Politische Medizin. Ideologie und Gesundheitsökonomie im SED-Staat der 1950er- und 1960er-Jahre
(2020)
Mitte der 1950er-Jahre feierte ein bundesdeutscher Film auch in DDR-Kinos Premiere: »Weil Du arm bist, mußt Du früher sterben« thematisierte im Gewand eines Sozialdramas die Mängel des Gesundheitssystems der Bonner Republik. Schon die Präsentation eines »Westfilms« an sich war keineswegs selbstverständlich. Darüber hinaus durfte der Streifen mit Bernhard Wicki in der Hauptrolle in der DDR gezeigt werden, obgleich als Drehbuch-Autor Ernst von Salomon verantwortlich zeichnete. Das Werk des Schriftstellers, der 1922 das Attentat auf Walter Rathenau mit vorbereitet hatte, stand eigentlich weitgehend auf dem politischen Index der DDR. Doch passte die radikale Kritik am bundesdeutschen Gesundheitswesen den Partei-Verantwortlichen hervorragend in ihr propagandistisches Konzept: Der Film sei geeignet, so das »Neue Deutschland«, »die Legende, die um den ›goldenen Westen‹ gewoben wird, zu zerstören und uns bewußt zu machen, wieviel Licht in unserem Arbeiter-und-Bauern-Staat bereits ist, wo dort noch tiefe Dunkelheit herrscht«.
Für eine Klanggeschichte des 20. Jahrhunderts gibt es innerhalb der Geschichtswissenschaft bisher noch kein ausgefeiltes theoretisches und methodisches Arsenal. Um ein solches zu entwickeln, lohnt sich daher ein Blick in diejenigen Nachbardisziplinen, die in der Analyse von Klängen und auditiver Wahrnehmung geübter sind. Dazu zählt in erster Linie die Musikwissenschaft, die es stets mit gestalteten Klängen (oder gestalteter Stille) zu tun hat und sich schon länger auch mit musikalischen Aufführungspraktiken und Aneignungsformen beschäftigt. Daneben entwickelte vor allen Dingen die Medienwissenschaft in der Auseinandersetzung mit akustischen und audiovisuellen Medien eigene Herangehensweisen an Klangphänomene, wobei besonders die Film Studies und die Radio Studies federführend waren. Schließlich beschäftigt sich auch die Soziologie seit Georg Simmel und Theodor W. Adorno – der nicht nur Soziologe und Philosoph war, sondern auch Musikwissenschaftler und Komponist – im Rahmen einer allgemeinen Soziologie der Sinne mit der gesellschaftlichen Funktion und Prägung des Hörens.
Masculinity has been and continues to be of fundamental importance to Islamist movements, including the relatively distinct Turkish variety. The article offers a broad analysis of various aspects of Islamist masculinity in Turkey. It begins by examining how, from the 1950s onwards, Islamic intellectuals there conceived of a new political subjectivity based on an ideal masculinity. After a discussion of Islamist masculinity drawing on novels, manuals and other sources, the article demonstrates how everyday social practices (such as clothing and beards, or an interest in poetry) established further facets of Islamist masculinity. Turkish Islamism organised itself in the Milli Görüş movement beginning in the 1970s and rose to become a mass movement in the 1980s. Against this background, a new masculinity could be construed as a way out of the self-perceived inferiority to the West. In social practice, this masculinity was transformed by increasingly rigid rules of behaviour and the establishment of a distinct habitus of pathos and discipline, which is then analysed in conclusion.
Männlichkeit war und ist von grundlegender Bedeutung für islamistische Bewegungen, so auch für die relativ eigenständige türkische Variante. Der Aufsatz bietet eine breite Analyse verschiedener Aspekte islamistischer Männlichkeit in der Türkei. Zunächst wird untersucht, wie islamische Intellektuelle dort ab den 1950er-Jahren basierend auf einer idealen Männlichkeit eine neue politische Subjektivität konzipierten. Nach einer Auseinandersetzung mit islamistischer Männlichkeit im Diskurs anhand von Quellen wie Romanen und Ratgebern wird dargelegt, wie alltägliche gesellschaftliche Praktiken (etwa Kleidung oder Bärte, aber auch das Interesse an Poesie) weitere Facetten islamistischer Männlichkeit etablierten. Der türkische Islamismus organisierte sich seit den 1970er-Jahren in der Bewegung Milli Görüş und stieg in den 1980er-Jahren zur Massenbewegung auf. Vor diesem Hintergrund konnte eine neue Männlichkeit als Ausweg aus der selbstdiagnostizierten Unterlegenheit zum Westen konstruiert werden. In der sozialen Praxis wandelte sich diese Männlichkeit durch immer rigidere Verhaltensregeln und die Etablierung eines eigenständigen Habitus aus Pathos und Disziplin, der abschließend analysiert wird.
Der Artikel betrachtet die späten 1960er- und die 1970er-Jahre als eine Umbruchszeit, in der in West- wie in Osteuropa fundamental neue Gesellschaftsentwürfe formuliert wurden. Ausgehend von 1968 als transnationalem Protestjahr wird gefragt, inwieweit sich die an Bedeutung zunehmenden Oppositionsbewegungen im östlichen Teil Europas von den neuen sozialen Bewegungen in Westeuropa unterschieden. Dabei werden die Geschlechterbeziehungen in den staatssozialistischen Gesellschaften ins Zentrum der Analyse gerückt, und es wird herausgearbeitet, inwieweit die Formung der Geschlechterverhältnisse durch staatliche wie oppositionelle Politik neue Gesellschaftsentwürfe beeinflusste. Die Konservierung traditioneller Geschlechterverhältnisse war sowohl für die Regime als auch für die oppositionellen Bewegungen funktional. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass im östlichen Europa - im Gegensatz zu Westeuropa und den USA - aus den gesamtgesellschaftlichen Protestbewegungen keine einflussreiche Frauenbewegung hervorging.
„Computerspiele einschließlich anderer interaktiver Unterhaltungsmedien (Video-/Konsolen-, Online- und Handyspiele) haben in den letzten Jahren kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Sie sind in Deutschland wirtschaftlich, technologisch, kulturell und gesellschaftlich zu einem wichtigen Einflussfaktor geworden. [...] Computerspiele transportieren gesellschaftliche Abbilder und thematisieren eigene kulturelle Inhalte. Sie werden damit zu einem bedeutenden Bestandteil des kulturellen Lebens unseres Landes und sind prägend für unsere Gesellschaft.“1 Wie der Beschluss des Deutschen Bundestags zur Einrichtung des Deutschen Computerspielpreises zeigt, der seit 2009 jährlich vergeben wird, werden Computerspiele mittlerweile auch von offizieller Seite als ebenso bedeutsam wahrgenommen wie andere, bereits etablierte Kulturgüter. Diese Entwicklung entspricht in ihrer Grundtendenz derjenigen anderer Medien wie Film oder Comic, deren kulturelle Bedeutung ebenfalls erst einige Zeit nach ihrer Erfindung gesellschaftlich anerkannt und staatlich gefördert wurde.
Im Dezember 2020 gab der schwedische Möbelhersteller IKEA bekannt, die weltweite Distribution seines gedruckten Warenkatalogs nach 70 Jahren einzustellen. Im deutschsprachigen Feuilleton wurde diese Nachricht zum Ereignis: »Auch das noch: Den IKEA-Katalog gibt’s nur noch digital«, stellte Jens Jessen in der »ZEIT« leicht ironisch fest. Angesichts der Unsicherheiten, die von der globalen Covid-19-Pandemie ausgingen, schien im nun umso wichtiger gewordenen Bereich des Wohnens eine weitere Konstante des Alltagslebens wegzubrechen. Der ausbleibende Katalog veranlasste einige Kommentator*innen zu sehr persönlichen Formen der Anteilnahme und Abschiedsbekundung. Mitunter ließen diese, nostalgisch gefärbt, das eigene Erwachsenwerden Revue passieren – schließlich waren die IKEA-Kataloge in den Industriestaaten weltweit ein Teil davon. So erscheint der Möbelkatalog als Medium zum Träumen, als warenästhetischer Coming-of-Age-Roman, der Jugendliche im Akt des Durchblätterns von Erwachsenenleben und Unabhängigkeit fantasieren lässt; als Schwelle in eine selbstständige, bessere Zukunft: »Du warst das Fenster, das reale Einrichtungshaus die Tür.« Das IKEA-Du, das in den Katalogen und Einrichtungshäusern propagiert wird – die Bundesrepublik hat es dankend umarmt und vielfach verflucht.
Oral History
(2023)
Seit gut vierzig Jahren bereichert die Oral History die geschichtstheoretischen und methodischen Debatten der deutschsprachigen Zeitgeschichte. Zwar ist die anfängliche Skepsis gegenüber der Oral History längst einer breiten Akzeptanz und (teils unreflektierten) Anwendung gewichen. Doch was diese Methode und Forschungsperspektive genau ist und welchen historiografischen (Quellen-)Wert sie hat, ist noch nicht abschließend geklärt. Unser Beitrag zu dieser Diskussion fragt danach, welche Entwicklung die Oral History genommen hat, welche internationalen und -disziplinären Einflüsse bedeutsam sind, welche theoretischen und praktischen Konzepte ihr zugrunde liegen und was ihre Zukunft prägt.
Zwei Männer sitzen beim Frühstück. Einer trägt Hausjacke mit Monogramm, der andere einen dunklen Zweireiher. Man diskutiert Weltpolitik und wird sich nicht einig: Gustav Stresemann (Werner Wölbern) und Regierungsrat Wendt (Benno Fürmann). Am Ende der Szene liegt Stresemann am Boden und Wendt schaut tatenlos zu, wie dessen Atem endgültig aussetzt. Während die historische Person Gustav Stresemann zu den wichtigsten deutschen Politiker*innen des 20. Jahrhunderts gehört, ist Regierungsrat Wendt eine fiktive Figur, die die Filmemacher Tom Tykwer, Achim von Borries und Henk Handloegten als Antagonisten ihrer Serie Babylon Berlin erschaffen haben. Wahrheit und Fiktion gehen in der Serie Hand in Hand. Während die Ausstattung bis ins kleinste Detail stimmt, werden historische Ereignisse an dramaturgische Anforderungen angepasst, um ins Geschichtsbild einer sterbenden Demokratie zu passen.
Der vorliegende Beitrag untersucht das Spannungsverhältnis zwischen dem historischen Abbild im engeren und dem Geschichtsbild im weiteren Sinne. Hierfür untersuchen wir erstens die „Oberflächengenauigkeit“(Friedrich Knilli) auf der Abbildungsebene, bei der der Schauwert der historischen Inszenierung der historischen Authentisierung der Serie dient und die Authentizitätserwartung des Publikums befriedigt. Zweitens diskutieren wir, wie beim Geschichtsbild von Babylon Berlin Abstriche von der historischen Genauigkeit gemacht werden und wie hierbei Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit aufeinandertreffen. Drittens untersuchen wir die Produktion von Geschichtsbildern im innerdiegetischen Bildgebrauch der Serie, in der die Produktion von Bildern ständig thematisiert wird. Uns geht es also um Bilder als Teil der Filmhandlung und somit um das Bild im Bild einer Serie, die unser Geschichtsbild von der Weimarer Republik nachhaltig prägt.