Europa
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Die Allgegenwart der NS-Zeit in Massenmedien und Populärkultur ist heute nichts Besonderes mehr. Als jedoch seit Beginn der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik in rascher Folge viele neue Bücher, Filme und Ausstellungen über Adolf Hitler herauskamen, erschien dies vielen als suspekt, wenn nicht gar als gefährlich: Vor dem Hintergrund des sich formierenden Rechtsradikalismus beschwor die »Hitler-Welle« das Gespenst einer »Nazi-Nostalgie« herauf. Warum dieser von heute aus gesehen vielleicht befremdliche Begriff damals nahelag, demonstriert der vorliegende Aufsatz. Er trägt zu einer Historisierung des Nostalgie-Konzepts bei und akzentuiert dessen politische Aufladung. Zugleich benutzt er den Begriff und die Debatte, um die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in den 1970er-Jahren genauer zu ergründen. In der Konzentration auf Hitler und mit der Ausblendung der NS-Verbrechen als Gesellschaftsgeschichte stand die »Hitler-Welle« einerseits in der Kontinuität der 1950er-Jahre. Andererseits wies sie nach vorn, nämlich auf die in der Bundesrepublik 1979 ausgestrahlte US-Serie »Holocaust«, deren Resonanz ohne die vorangegangene »Hitler-Welle« kaum zu verstehen ist, sowie auf den »Historikerstreit« der 1980er-Jahre.
Vom Nutzen und Nachteil der Nostalgie. Das Kulturerbe der Deindustrialisierung im globalen Vergleich
(2021)
Der Aufsatz entwickelt eine Typologie von Deindustrialisierungsregimen in globaler Perspektive und setzt diese in Beziehung zu drei verschiedenen Arten des Erinnerns an Industrialisierung und Deindustrialisierung: antagonistisches, kosmopolitisches und agonales Erinnern. In welcher Weise und in welchem Maße waren und sind nostalgische Formen des Erinnerns in den unterschiedlichen Deindustrialisierungsregimen präsent? Anknüpfend an bisherige Forschungen wird dafür plädiert, Nostalgie nicht bloß als rückwärtsgewandtes, antiquarisches Sentiment zu betrachten, sondern ihr Potential für die Konstruktion von Zukunft zu erkennen. Zugleich wird versucht, die Theorie des agonalen Erinnerns, wie sie von der Historikerin Anna Cento Bull und dem Literaturwissenschaftler Hans Lauge Hansen entwickelt wurde, für die Deindustrialisierungsforschung fruchtbar zu machen. Der Aufsatz ist ein Diskussionsangebot, wie man die Erinnerung an das Industriezeitalter für unterschiedliche Weltregionen verflechtungsgeschichtlich und vergleichend untersuchen kann – sei es in Südwales, im Ruhrgebiet oder im Osten Chinas.
Mein Ziel in diesem Essay ist es, die lokale Perspektive zu nutzen, um über die Begriffe »Ostalgie« und »Nostalgie« hinauszugehen. Der genauere Blick auf lokale Räume und Praktiken bietet die Möglichkeit, Erinnerungen, die gemeinhin als Nostalgie qualifiziert werden, als Teil einer schon länger bestehenden örtlichen Erinnerungskultur zu verstehen. Wie das Beispiel des sächsischen Dorfes Neukirch zeigt – vor und nach 1989/90 –, war eine ambivalente Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes ein Mittel, um die Stärke der Gemeinschaft zu beschwören. Entgegen der in Wissenschaft und Öffentlichkeit präsenten Überzeugung erscheint Nostalgie hier nicht als eine Flucht in die Vergangenheit, sondern als ein aktives Auseinandersetzen mit der Geschichte und ihren Auswirkungen in der Gegenwart.
Einer der kühleren Sommertage im August. Durch eine kleine Passage erreiche ich Steibs Hof, wo früher mit Pelzen gehandelt wurde und heute das N’Ostalgie-Museum Leipzig seine Ausstellung zur »Alltagskultur der DDR« präsentiert. Am Eingangstresen, der zugleich als Bar des integrierten Cafés mit dem Namen »1:33« fungiert, begrüßt mich ein Mann: »Guten Tag. Wollen Sie Ihre Erinnerung auffrischen?« Noch bevor ich mein Ticket bezahlt habe, stellt er mir den »jungen Mann« vor, der all die hier präsentierten Objekte zusammengetragen habe. Das Porträt, auf das er weist, zeigt einen älteren Herrn in der Tür eines knallroten Wartburg 311. »In liebevoller Erinnerung« steht darüber, und unter der Fotografie: »Horst Häger. Geb. 24.11.1937, gest. 12.07.2011. Gründete 1999 das N’Ostalgie-Museum und hat über die Zeit bis 2011 alle ausgestellten Exponate zusammengetragen.« Wie ich erfahre, hat eine Enkelin Hägers das Museum 2016 aus Brandenburg an der Havel nach Leipzig überführt. Mit den Worten »Damit Sie wissen, wer Sie heute Abend ins Bett geleitet« überreicht mir der Mann an der Kasse meine Eintrittskarte, auf der das Sandmännchen abgebildet ist, und entlässt mich in die kleine Ausstellung. An diesem Vormittag bin ich die erste Besucherin, doch noch während ich die Objekte im Eingangsbereich betrachte, kommen weitere Gäste. Wie ich werden sie mit der Frage begrüßt, ob sie ihre Erinnerungen »auffrischen« wollen, was jeweils kurze Irritation auslöst. Fast rechtfertigend klingen die Antworten der beiden Paare: »Wir wollen gern das Museum besuchen« und »Wir würden uns gern umschauen«.
Der „Normalfall Migration“ (Bade/Oltmer 2004) ist in Forschung und Publizistik längst ein Gemeinplatz geworden und dennoch – die Ankunft eines Bruchteils der globalen Fluchtbewegungen stürzte Europa in den letzten Jahren nicht zum ersten Mal in eine politische und legitimatorische Krise. Von nie dagewesener Fluchtmigration war die Rede und vielerorts drohte wieder einmal der Untergang des Abendlands oder zumindest umfassendes Chaos (exemplarisch dokumentierend: Neumann 2015). Angesichts der verbreiteten – und empirisch gerechtfertigten – Etikettierung des 20. Jahrhunderts als „Jahrhundert der Flüchtlinge“ (Opitz 1999) erstaunt diese kurzsichtige Wahrnehmung, ebenso vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Bedeutung, die Migration für die europäische Geschichte nicht nur des 20. Jahrhunderts spielte (Bade 2000; Moch 1992). Flucht- und Gewaltmigration ist vielleicht nicht der migrationshistorische Normalfall, aber ein wiederkehrendes Phänomen (Oltmer 2017). Gleiches gilt für die Debatten um die Aufnahme von „echten“ und die Abwehr von vermeintlich „falschen“ Flüchtlingen. Die Unterscheidung, welche Migrationsformen eher als Flucht und welche eher als freiwillige Bewegung zu sehen seien, ist – und war – stets interessengeleitet. Zugleich ist die Entscheidung zur Migration in aller Regel einer Vielzahl von Motiven unterworfen, die mal eher Zwangs-, mal eher den Charakter freiwilliger Entscheidung haben (Tilly 1978; Lucassen, Lucassen 2005). Hierzu gehören insbesondere auch Folgewanderungen, die nach dem Ausweichen vor direkter Gewalt den weiteren Weg bestimmen.
Es ist mir eine große Freude und Ehre, heute Abend im Potsdamer Einstein Forum über Asyl und Flüchtlinge sprechen zu dürfen. Vor allem aus zwei Gründen freue ich mich besonders. Zum einen, weil Albert Einstein, dessen Namen Ihr Forum trägt, der erste ernannte Professor am Institute for Advanced Study in Princeton war und dort Schutz fand, als er vor der nationalsozialistischen Repression flüchtete. Ich selbst arbeite seit sechs Jahren in dieser Forschungseinrichtung, wo ich die School of Social Science leite. Albert Einstein verbindet mich also im doppelten Sinne mit Ihnen: beruf lich, als Mitgründer derjenigen Institution, an der ich arbeite; aus intellektueller Sicht, da er selbst ein Flüchtling gewesen ist, wie all diejenigen, von denen ich Ihnen erzählen werde.
Die zentrale Forschungsfrage dieses Aufsatzes ist, warum Europäische Staaten im Unterschied zu Staaten in Südostasien, den USA, und Australien die Festlegungen zum Rückführungsverbot aus der Flüchtlingskonvention fortzusetzen versuchten, als Bootsflüchtlinge in den 200er Jahren Zuflucht in ihren Territorien suchten. Zunächst gebe ich einen Überblick, wie Staaten in anderen Weltregionen auf Bootsflüchtlinge, die nach Asyl suchten, seit den 1970er Jahren geantwortet haben und betone ihre Nichtbeachtung der Flüchtlingskonvention. Danach wende ich mich Europa zu und zeige, dass es eine ähnliche Reaktion in den 1990er Jahren gegeben hat. Dies veränderte sich jedoch nach 2000. Dieser Entwicklung widmet sich der übrige Aufsatz, wobei ich den wachsenden Einfluss des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (ECtHR) betone. Da Italien eine besonders große Zahl solcher Asyl suchender Bootsflüchtlinge aufgenommen hat, wird es besonders prominent behandelt.
Mit dem Jahr 2015 ist in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit eine Figur auf die politische Bühne zurückgekehrt, um die es lange Zeit still geworden war: die Figur des Flüchtlings. Dabei war das Problem von Flucht und Vertreibung vor 2015 global betrachtet mitnichten weniger drängend. Allerdings griffen bis zu den Entwicklungen, die hierzulande als »Flüchtlingskrise« thematisiert wurden, die über die Jahre immer weiter ausgebauten Grenzsicherungsmaßnahmen der Europäischen Union, sodass von den weltweit vielen Millionen an Flüchtlingen nur wenige Europa überhaupt erreichten. Seit Jahrzehnten hatte die EU die Kontrollen der Zuwanderungsbewegungen verschärft, sodass die Wege nach Europa immer schwieriger zu bewältigen waren und es bis heute sind – mit dem Resultat, dass das Mittelmeer mittlerweile zur tödlichsten Grenze der Welt geworden ist. Hinzu kommt noch, dass sich die meisten Flüchtlinge weit entfernt vom europäischen Kontinent im globalen Süden auf halten. Sie fliehen aus Kriegs- und Krisengebieten meist in die unmittelbaren Nachbarländer. Zur Weiterwanderung fehlen ihnen oftmals die Mittel.
Denkmäler haben wieder Konjunktur – nicht nur in der Kontroverse um Erinnerungs- und Ehrungszeichen im öffentlichen Raum, die einen kolonialgeschichtlichen oder rassistischen Hintergrund besitzen. In der letzten Zeit wurde zwar heftig darüber gestritten, ob derartige Denkmäler, die im Konflikt oder sogar Widerspruch zum heutigen Wertekonsens stehen, erhalten bleiben, kommentiert oder ergänzt werden, ins Museum wandern oder besser ganz verschwinden sollten. Neben der Debatte über die Entrümpelung der deutschen Denkmallandschaft werden aber auch Vorschläge für eine Neumöblierung des öffentlichen Gedenkraumes gemacht. Alternative oder zusätzliche Denkmäler werden ins Gespräch gebracht, initiiert und auch errichtet, die dem gesellschaftlichen Selbstverständnis der Gegenwart besser entsprechen, es genauer zum Ausdruck bringen und gleichzeitig mitprägen sollen. Dazu gehören nicht zuletzt Denkmäler, die an Migration und Zuwanderung erinnern.
»Du sollst Solidarität mit den um nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.« So lautet das letzte der 1958 von Walter Ulbricht verkündeten »Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik« (auch: »Zehn Gebote für den neuen sozialistischen Menschen«), die von 1963 bis 1976 Teil des SED-Parteiprogramms waren.1 Die sozialistische Variante der christlichen Zehn Gebote findet sich häufig auf der ersten Seite von »Brigadetagebüchern«, die Beschäftigtenkollektive in der DDR und in anderen staatssozialistischen Ländern verfassten. Über die Grenzen der DDR hinaus stellten auch »Freundschaftsbrigaden« der Freien Deutschen Jugend (FDJ) solche Brigadetagebücher zusammen, um ihre Aufenthalte in Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu dokumentieren. Diese Quellen geben einen wertvollen Einblick in die sozialistische Globalisierung und deren Alltagspraktiken.