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Die Zeit scheint endgültig vorbei zu sein, in der sich Historiker mit großer Skepsis dem Internet näherten und, wenn überhaupt, nur ihre Rezensionen dem World Wide Web anvertrauten. Mittlerweile gehört es fast schon zum guten Ton, eigene Projekte im Netz zu etablieren. Die grundlegende Akzeptanz ist da. Gefordert ist nun eine breitere Reflexion darüber, ob und wie sich Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im digitalen Zeitalter verändern.
Beim Umgang von Historikerinnen und Historikern mit dem Netz können wir einen interessanten Wandel beobachten: Grundsatzkritik an der Verwendung des Netzes in geschichtswissenschaftlicher Lehre und Forschung findet sich kaum mehr. Noch vor gut zehn Jahren war das anders. Da waren die Bedenkenträger nicht zu überhören, die das Netz für die (Geistes-)Wissenschaften als unnütz und unnötig einstuften und entschlossen waren, dieses vermeintlich kurze technische Intermezzo auszusitzen – Vertreter vor allem der älteren Generation, die sich schon mit der Einführung des Personal Computers seit den 1980er-Jahren schwertaten. Heute geht es vielmehr um die Frage, in welchen Bereichen und mit welchen Fragestellungen das Netz in den Forschungs- und Lehralltag zu integrieren ist.
Ganz gegensätzlich zum teils immer noch lebendigen Vorurteil vom weltfremden Historiker, der lieber in staubigen Archiven wühle als sich im Netz zu tummeln, waren gerade die Geschichtswissenschaften sehr früh dabei, als in den 1990er-Jahren erste Versuche stattfanden, die Potenziale von Netzpublikation und -kommunikation auch für die Geisteswissenschaften fruchtbar zu machen. Viele der damaligen Initiativen haben sich – nicht zuletzt durch das Engagement Einzelner – bis heute gehalten, sich stetig weiterentwickelt und sind inzwischen Plattformen geworden, die wichtige Rollen im Arbeitsalltag der Wissenschaftler spielen, denken wir etwa an „H-Soz-u-Kult“ oder an die „sehepunkte“.
Der Erfolg der inzwischen nicht mehr ganz so neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie die damit verbundene Vervielfachung von Daten und Informationen bedeutet weiterhin eine Herausforderung für die Wissenschaft. Die Option des synchronen Zugriffs auf eine Vielzahl von Informationen, ihre Rasterung mittels Suchmaschinen und Datenbanken dynamisiert und dezentralisiert herkömmliche Wissensspeicher wie Archive, Bibliotheken oder Enzyklopädien. Dies wirft grundlegende Fragen auf: Wie kann zuverlässiges Wissen im Netz generiert, präsentiert und distribuiert werden? Wer bürgt bei einer Vielzahl dezentraler Informationskanäle für deren Validität und Stabilität?
Die Frau watet durch einen Fluss oder See; das Ufer, rechts oben im Bild, ist nicht mehr weit entfernt. Ihren Rock rafft sie bis zu den Knien hoch, damit er trocken bleibt. Um den Kopf hat sie sich ein helles Tuch gebunden. Im Wasser spiegeln sich Himmel und Bäume. Wer das Foto anschaut, sieht – wie der Fotograf, der von einem erhöhten Standort aus auf den Auslöser seiner Kamera drückte – den Rücken der Frau; vielleicht nimmt er auch ihr schönes Bein wahr.
Es waren nicht zuerst die Zeithistoriker, die das Thema Alter und Altern für die Geschichtswissenschaft erschlossen. Die Pioniere näherten sich dem Gegenstand aus dem 19. Jahrhundert oder griffen noch viel weiter aus. Diese Perspektive der longue durée ist vor allem der Sozialgeschichte eigen: Bezogen auf Alter und Altern flankierte sie die Historische Demographie, um Altersaufbau, Lebenserwartung und Familienstrukturen von Gesellschaften über Jahrhunderte hinweg zu rekonstruieren. Ebenso lässt sich die Entwicklung von Rentensystemen und ihren Vorläufern in der Langzeitperspektive beschreiben. Die Kulturgeschichte folgte diesem Pfad; sie beleuchtete Altersbilder und -diskurse seit der Antike, wobei sie die Ambivalenz positiver und negativer Deutungen als Kontinuität entdeckte. Als dritter Strang der historischen Altersforschung hat sich die Medizingeschichte lange Zeit separat entwickelt.
Es ist erst einige Jahre her, da erinnerte ein überdimensionales, begehbares Prostatamodell Männer an die Wichtigkeit der Krebsvorsorge. Eine „Urolisken“- Skulptur, die in verschiedenen deutschen Städten aufgestellt wurde, hatte dasselbe Ziel. Beide Aktionen zeigen: Alternde Männer werden derzeit in ihrer Körperlichkeit verstärkt sichtbar. Für alternde Frauen könnte man Ähnliches feststellen.1 Dies war längst nicht immer so. Wer die Situation alter Männer mit Prostatakarzinom als Familienväter und -versorger im frühen 20. Jahrhundert nachzuzeichnen versucht, stößt schnell an Grenzen, was mit der schwierigen Quellenlage zu tun hat. Mediziner hatten für diese Patienten wenig Handlungsspielraum, Behandlungsmethoden reduzierten sich oftmals auf Palliation, und für die Öffentlichkeit blieben die Krankheitsverläufe dieser Männer ohnehin meist unsichtbar. Im Gegensatz dazu gibt es im späten 20. und beginnenden 21. Jahrhundert eine öffentliche Zurschaustellung.
In den 1970er-Jahren lief im westdeutschen Fernsehen eine Serie der Augsburger Puppenkiste, deren Held und Titelgeber der kleine König Kalle Wirsch war. Kalle Wirsch, König der Erdmännchen, war, wie sein Name sagte: ein freundliches kleines Männchen, alles andere als unwirsch. Der Name aber irritierte – wer benutzt schon das Wort „wirsch“? Das Wort gibt es tatsächlich, es ist aber kein Gegenbegriff zu „unwirsch“, sondern eine Verballhornung von „wirr“. Zu „unwirsch“ gibt es keinen Gegenbegriff. Der kleine König Kalle Wirsch mag einem bei „Gleichheit und Ungleichheit“ in den Sinn kommen. Denn viel wird gesprochen von Ungleichheit, und dies vor allem im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit. Aber Gleichheit? Nur ganz wenige Autoren haben über deren Geschichte nachgedacht. Einer davon ist der Zürcher Historiker Jörg Fisch. Er fasst, bezogen auf das späte 19. Jahrhundert, Gleichheit vor allem als einen Anspruch, als eine Forderung. Sie ist also etwas, was (noch) nicht ist. „Gleichheit“ blieb als die bürgerliche Forderung nach rechtlicher und politischer Gleichberechtigung stehen und wurde (jedenfalls in Europa) im späten 19. und im 20. Jahrhundert zumindest teilweise eingelöst. Die Forderung nach sozialer Gleichheit jedoch, die aus revolutionären Bewegungen kam, ließ sich nicht einmal als Anspruch durchhalten, wurde als staatsgefährdend identifiziert und erbittert bekämpft. Soziale Gleichheit erhielt das Stigma des Utopismus und behielt lediglich in der Forderung nach Abbau (und nicht Abschaffung) sozialer Ungleichheit eine gewisse Berechtigung.
Globale Daten in lokalen Speichern. Ethnographische infrastrukturelle Zugänge zum World Wide Web
(2015)
Wie in anderen Kultur- und Sozialwissenschaften so ist auch in der Europäischen Ethnologie das Interesse an den materiellen Dimensionen des sozialen und kulturellen Lebens im letzten Jahrzehnt gestiegen. So wurde zum einen im Sinne der bereits vor Jahren im Fach angestoßenen Diskussion die Betrachtung von Dingen als bloßen Repräsentationen und Symbolen gesellschaftlicher Prozesse und Phänomene als unzureichend kritisiert und die Eigenständigkeit von materiellen Objekten sowie die wissens- und realitätsstiftenden Funktionen ihrer Materialität hervorgehoben. Zum anderen erstarkte in der Fachdiskussion das Bewusstsein, dass die Betrachtung von einzelnen Dingen in lokalen Kontexten nicht immer ausreicht, um soziokulturelle Prozesse in der globalisierten Welt zu verstehen und ethnographisch zu greifen. Diese verengte Perspektive muss durch ein breiteres, relationales Verständnis von Materialität und um die Untersuchung komplexer, grenzüberschreitender sozio-materieller Konstellationen ergänzt werden.
Der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) spricht von der größten humanitären Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg (UNHCR 2014) und die Anzahl an Asyl- und Schutzsuchenden in Europa nimmt Ausmaße wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr an. Die Themen Flucht und Flüchtlingsaufnahme werden in Öffentlichkeit und Politik kontrovers diskutiert. Für die Sozialwissenschaften sind die Themen Vertreibung, Zwangsmigration und Flüchtlingsschutz nicht nur hoch aktuell, sondern fundamental mit der Organisation und Gestalt der modernen Staatenwelt verbunden. Aus vielfältigen Gründen sind Menschen gezwungen, auf der Suche nach Unterstützung und politischem Schutz ihre Länder zu verlassen. In der nationalstaatlich organisierten Welt können fundamentale Rechte nur gewährleistet werden, wie Hannah Arendt es bekanntermaßen ausdrückte, sofern man das Recht hat, Rechte zu haben (Arendt 1994: 290-302). Jene, die aus ihren Herkunftsländern fliehen, klagen damit nicht nur gegenüber der restlichen Welt ihre Menschenrechte ein, sie stellen auch grundsätzliche Fragen an die Sozialwissenschaften. Wie gehen in unserer globalen Gesellschaft, aber auch regional, national und lokal, Flucht und Vertreibung einher mit humanitärer Unterstützung, mit dem Anspruch auf Rechte und Schutz für Flüchtlinge? Damit verbunden sind auch Fragen von Sicherheitspolitik, Grenzschutz, Rassismus und ökonomischen Interessen, um nur einige Themen zu benennen. Flüchtlinge existieren tatsächlich und metaphorisch zugleich an der Peripherie und im Zentrum.
In den 1970er-Jahren wurde Resilienz zu einem Begriff für die Fähigkeit eines Systems, flexibel auf Stress zu reagieren. Statt nach einer Störung dem linearen Ideal der Erholung zu folgen, sollte sich das resiliente System neu organisieren. Die Konzepte Stress und Resilienz stammen aus der Materialforschung des 19. Jahrhunderts; im 20. Jahrhundert wanderten sie in die Psychologie und in die Ökologie. Der Beitrag skizziert die Entstehung des Ideals multistabiler Systeme, die auch unberechenbare, diskontinuierliche Veränderungen bewältigen sollten. Entlang der Geschichte der Bruchmechanik des 19. Jahrhunderts, der Traumaforschung der 1950er-Jahre sowie der Stressökologie der 1970er-Jahre wird gezeigt, wie sich Stress und Resilienz zu Systembegriffen ausweiteten, die so unterschiedliche Größen wie die menschliche Persönlichkeit und die irdische Umwelt erfassten. Diskutiert wird insbesondere die Vorstellung des antizipierten Versagens. Ob Mensch, Technik oder Umwelt – das einkalkulierte Systemversagen wurde zur Bedingung für die Selbstoptimierung des Systems, das aus Krisen und Katastrophen gestärkt hervorgehen sollte. Der Kollaps wurde nicht mehr als ein das moderne Selbstverständnis unterlaufendes Problem gedeutet, sondern als der Motor der Evolution.
Stress ist als Begriff und Problem weit über die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte hinaus relevant; Stressdiskurse können als Sonde für breitere gesellschaftsgeschichtliche Konstellationen dienen. Eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Stress muss daher zum einen dem medizinisch-biologischen Konzept nachgehen, zum anderen dessen gesellschaftliche Funktionalität erfassen. Die Zeitgeschichte wird den Fokus besonders auf die sozioökonomischen Prozesse und die soziale Sinngebung richten. Gleichwohl gibt es ein nicht zu vernachlässigendes methodisches Grundproblem: Wie lässt sich eine Beziehung herstellen zwischen den biochemischen und psychologischen Dimensionen, die mit dem Stressbegriff verknüpft sind, sowie den komplexen sozialen Konfigurationen, die dieser Begriff rationalisieren soll? Was sind die Konstituenten und Selbstbeschreibungsmodi einer Gesellschaft, die sich durch Flexibilisierung und Regulierung gleichermaßen auszeichnet? In welchem Verhältnis stehen zudem die jüngere Entwicklung seit den 1970er-Jahren, in der Stress eine hohe Deutungsmacht erhalten hat, und die Überforderungsdiskurse seit dem Ende des 19. Jahrhunderts?
Was vor einigen Jahren ein Schreckensszenario war, ist längst eingetreten. Für den wissenschaftlichen Nachwuchs gilt schon heute: »Quod non est in google, non est in mundo.« Freilich, eine verkürzte Sicht. Der Aufbau elektronischer Findmittel zur Durchforstung von Archiv-, Bibliotheks- und Museumsbeständen hat in den vergangenen Jahren ein starkes wissenschaftliches Interesse gefunden. Die Gesellschaft vernetzte sich, es entstanden viele nützliche Service-Angebote, neue Begehrlichkeiten wurden geweckt. Heute geht es nicht mehr darum, Inhalte nur zu erschließen, sondern darum, sie online zu vermitteln. In sozialen Medien werden diese Inhalte »getaggt«, »geliked«, empfohlen oder gar kommentiert. Die sammelnden Institutionen stehen damit vor einer gewaltigen Herausforderung – technisch, finanziell und vor allem konzeptionell. Mit dem Aufkommen von Bits und Bytes befindet sich die Kulturtechnik des Sammelns und Präsentierens in einem tiefgreifenden Umbruch. Der digitale Wandel impliziert die Frage, ob Gedächtnisinstitutionen künftig noch derselbe Stellenwert zukommen wird, zukommen muss wie heute: Schaffen entmaterialisierte Kulturgüter eine neue Kulturgesellschaft?
Fotografien haben für die historische Forschung zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dienten sie vormals zumeist der Textillustration, werden sie inzwischen als eigenständige historische Quellen ernstgenommen. Die einschlägigen Publikationen, die sich entweder theoretisch mit der Visual History auseinandersetzen oder aber an konkreten Beispielen sich bildhafter Quellen annehmen, sind kaum mehr zu überblicken. Eine Gemeinsamkeit ist dabei: Nicht mehr nur der Bildinhalt spielt für die Geschichtswissenschaft eine Rolle; gefragt wird auch nach dem Entstehungskontext, der Überlieferung und der Rezeption der Bilder. Damit gerät zugleich die bisher übliche Aufbewahrungspraxis der Fotografien im Archiv in den Fokus: Die meist thematische Ordnung der Materialien lässt häufig keine Rückschlüsse auf diese neuen Fragen zu.
Kommerzielle Bildanbieter entledigen sich zunehmend ihrer analogen Fotoarchive. Dabei geht es nicht selten um Millionen von Fotografien. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wie es bei solchen Anbietern um die Wertschätzung ihres analogen Fotoerbes steht. Die Antwort scheint entsprechend einfach zu sein: Solche Bestände werden gering geschätzt. Die Fotoarchive werden abgegeben oder gar vernichtet, weil sie für ihre Besitzer mehr Verlust als Profit einbringen. In manchen Fällen übernehmen öffentliche Gedächtnisinstitutionen wie Archive, Museen und Bibliotheken die Bestände und widmen sie von Gebrauchs- zu historischen Fotoarchiven um. Dies hat im Zusammenspiel mit der allgemeinen Digitalisierung der Fotografie das Bewusstsein für die Historizität alter Pressefotografien und damit für ihren kulturellen sowie wissenschaftlichen Wert geschärft. Die einst massenhaft für den Verkauf hergestellten Gebrauchsbilder gelten heute als zeithistorische Dokumente. In der medialen Öffentlichkeit wird vollmundig vom »visuellen« oder vom »fotografischen« Gedächtnis eines ganzen Landes geschrieben.
The introduction to this issue on historical surveillance studies argues for an integrated understanding of surveillance that focuses on the interconnectedness of the state, economy and sciences within the context of different forms of technological revolution. It suggests reading contemporary diagnoses of ‘total surveillance’ from a long-term historical perspective beginning in the seventeenth century. In this light, surveillance is not limited to intelligence history or state control. Rather, it produces patterns of order and data that can be deployed for political processes like urban planning, welfare policy, crime prevention, or the persecution of political opponents. Furthermore, surveillance is also part of the economy, encompassing market and consumption research, advertising, and workplace monitoring. Research into the political and the economic aspects of surveillance should be combined. After defining the term ‘surveillance’ and differentiating between security and surveillance studies, the article provides an overview of different empirical studies in this new historiographical field. It concludes with short summaries of the articles collected in this issue.
Die Digitalgeschichte ist in der deutschen Geschichtswissenschaft angekommen. Unter Digitalgeschichte verstehen wir eine neue historische Perspektive auf die fundamentale Umwälzung klassischer historischer Kategorien wie beispielsweise Raum, Zeit, Identität, Arbeit oder Nationalstaat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Informations- und Kommunikationstechnologien. Digitalgeschichte beschränkt sich nicht nur auf die Computergeschichte als Geschichte eines spezifischen Artefaktes, sondern umfasst alle auf binärdigitaler Codierung basierenden, elektronischen Technologien, beispielsweise auch Kommunikationsnetzwerke oder Mensch-Maschine-Hybride. Sie ist das deutsche Pendant zur englischen history of computing, hingegen mit dezidiertem Schwerpunkt auf die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart.
This paper conceptualizes the history of the future in the twentieth century. The present future is always multi-faceted: produced by diverse actors, it concerns different aspects of the world, and is articulated in many ways. We suggest a divergence from the Koselleckian notion of a unified horizon of expectation. Rather than concentrating on the contents of visions of the future, we focus on the processes by which the future is generated. Distinguishing between futures of expectation, creation, risk, and conservation, we offer both a systematic account and a heuristic to analyze the pluralization of the future in the twentieth century.
Vertreter_innen der Akteur-Netzwerk-Theorie oder der Cyborg-Anthropologie kritisieren gegenwärtig die Privilegierung des Menschen als autonomem Akteur und handlungsmächtigem Gestalter seiner Umwelt. Dadurch wird die Frage nach der Rolle und Bedeutung von Dingen für gesellschaftliche Dynamiken neu aufgeworfen. Galten sie bisher meist als passive Objekte menschlicher Agency, erscheinen sie nun zunehmend als Koproduzenten von Handlungsmacht. In diesem Sinn spricht Bruno Latour von menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten.
Nachdem das Interesse an Dingen und damit an Materieller Kultur im Forschungsalltag mancher Disziplinen lange Zeit eher gering war, erlebt die Auseinandersetzung mit Dingen seit etlichen Jahren auch in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft eine Renaissance. Das gilt nicht nur für Fächer, die sich schon seit jeher mit Materieller Kultur beschäftigen – etwa die archäologischen Wissenschaften, die Ethnologie und die Volkskunde/Europäische Ethnologie –, sondern zunehmend auch für solche Wissenschaften, deren genuiner Forschungsgegenstand keine materiellen Hinterlassenschaften sind, wie die Geschichtswissenschaft, die Philosophie, die Germanistik und verschiedene sozialwissenschaftliche Fächer. Zu denjenigen Fächern, die die Dinge für sich entdeckt haben, gehört seit wenigen Jahren auch die Zeitgeschichtsforschung. Auf den ersten Blick mag das zunehmende Interesse verwundern, verfügt die Zeitgeschichte doch über andere Quellenarten (Schriftdokumente, audiovisuelle Quellen, mündliche Zeugnisse), die deutlich mehr Aussagekraft als gegenständliche Objekte zu haben scheinen. Den Dingen wird von der Zeitgeschichtsforschung heute offenbar ein Erkenntniswert zugemessen – befördert unter anderem auch durch die Studien Bruno Latours und seine Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) –, der ihnen zuvor abgesprochen bzw. nicht zuerkannt worden war.