1960er
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Im Sommer 1968 wurde der nigerianische Bürgerkrieg durch die Veröffentlichung von Fotos hungernder ‚Biafrakinder‘ zu einem internationalen Medienereignis. Dieser „Bildakt“ bezog einen Teil seiner Wirkungsmacht daraus, dass viele Zeitgenossen die aktuellen Bilder mit Fotografien assoziierten, die während der Befreiung der Konzentrationslager 1945 entstanden waren. Gestützt auf Medienberichte, Publikationen von Aktivisten und Archivmaterial stellt der Aufsatz die Grundzüge der internationalen politischen Kommunikation über Biafra dar und analysiert die Bezüge zur beginnenden kulturellen Erinnerung an den Holocaust. Die Einschreibung Biafras in die Ikonographie des Holocaust ließ eine neuartige Rhetorik des Holocaust-Vergleichs entstehen, durch die sowohl der nigerianische Bürgerkrieg wie auch die Verbrechen des Nationalsozialismus als Genozid sichtbar wurden. Diese Rhetorik erzeugte zwar für kurze Zeit viel Aufmerksamkeit, ging jedoch an der komplexen Realität des Konflikts vorbei. Als sich herausstellte, dass Biafra kein ‚neuer Holocaust‘ war, verloren die Bilder und die dazugehörige Rhetorik des Vergleichs ihre Wirkungsmacht.
Am Beispiel Willy Brandts und seiner Beziehungen zu den USA wird deutsche und amerikanische Außenpolitik als transnationale Mediengeschichte interpretiert. Wie wirkte sich das besondere Verhältnis zu den USA auf den medialen und politischen Stil der Bundesrepublik aus? Dies wird erstens anhand der publizistischen Vermittlung von Brandts Reisen in die USA und der daraus resultierenden Imagebildung untersucht. Zweitens wird nach amerikanischen Einflüssen auf Brandts Inszenierungspraktiken und die damit verbundene Medienberichterstattung gefragt; dabei steht John F. Kennedy als Vorbild im Zentrum. Der Untersuchungsschwerpunkt liegt auf der Zeit von 1958 bis 1961.
Warum wurde eine West-Berliner Großsiedlung weit über die Grenzen der Stadt hinaus zum viel zitierten Beispiel einer fehlgeschlagenen Stadtplanung und sozialer Probleme? In den Jahren um 1970 erschien eine beeindruckende Zahl an Zeitungsartikeln, Filmen und wissenschaftlichen Studien, die sich mit dem Märkischen Viertel befassten – einer Großsiedlung, die von 1963 bis 1974 am nördlichen Stadtrand West-Berlins entstand. Der Aufsatz folgt der diskursiven Herstellung des Viertels als urbaner Problemzone. Er zeigt, wie darin eine Desillusionierung über die urbane Moderne zum Ausdruck kam, die eng verknüpft war mit der Sorge um eine neue Schicht von desintegrierten Randständigen. Durch ihre Forschungs-, Sozial- und Medienarbeit wirkten in erster Linie Angehörige eines linksalternativen Milieus, das in West-Berlin besonders aktiv war, auf die mediale Darstellung des Viertels ein. In ihrem Bemühen, gesellschaftliche Missstände aufzudecken, trugen sie unfreiwillig zu der nachhaltigen Abwertung des Quartiers bei. Dessen Image war verbunden mit der Suche nach alternativen Beschreibungen der »Ränder« der Gesellschaft angesichts einer sich auflösenden traditionellen »Arbeiterklasse«.
Wann und wie wandelten sich in der DDR-Gesellschaft langfristig politische Einstellungen und Wertorientierungen, wie sie dann 1989 in der Herbstrevolution sichtbar wurden? Anknüpfend an Konrad H. Jarauschs These von der »Umkehr« als fundamentalem Demokratisierungsprozess im geteilten Nachkriegsdeutschland untersucht der Beitrag die Möglichkeiten und Grenzen der Stellvertreterbefragungen, die das westdeutsche Meinungsforschungsunternehmen Infratest im Auftrag der Bundesregierung von 1968 bis 1989 durchgeführt hat. Befragt wurden westdeutsche Besucher der DDR über die Ansichten eines von ihnen definierten Gesprächspartners im ostdeutschen Staat, den sie besucht und mit dem sie ausführlich gesprochen hatten. Dieser Serie zufolge stand eine breite und wachsende »schweigende Mehrheit« der DDR-Einwohner dem System distanziert gegenüber, war aber weder im westlichen noch im östlichen Sinne besonders ideologisch präformiert. Sie maß die DDR vor allem an ihren praktischen Leistungen im Hinblick auf Lebensstandard und Perspektiven. Das Interesse an Politik sank ab Mitte der 1970er-Jahre, stieg dann aber wieder an und orientierte sich zunehmend an westlichen Politikformen.
Für Alexander Kluge gibt es keine abgeschlossenen Werke: „Bücher halten nicht still. Sie sind auch nie ‚beendet‘“. So ist es auch im Fall der „Schlachtbeschreibung“ nicht bei der Erstausgabe von 1964 geblieben. Kluge versteht seine Bücher als „work in progress“, als „Baustellen“ und als Produkte einer Sammlertätigkeit, die nicht beendet werden kann. Ein Buch wie die „Schlachtbeschreibung“ ist in diesem Sinne lediglich ein kleiner Teil eines stetig wachsenden und sich immer wieder aufs Neue verändernden multimedialen Netzwerks, das nicht nur literarische Texte umfasst, sondern auch philosophische Arbeiten, Kinofilme und Fernsehmagazine. Bis heute sind nicht weniger als sieben zum Teil sehr stark voneinander abweichende – gekürzte, erweiterte, neu arrangierte und um Abbildungen ergänzte – Ausgaben des Stalingrad-Buchs erschienen. Die vorerst letzte (gedruckte) Überarbeitung stammt aus dem Jahr 2000, als Kluge sein erzählerisches Gesamtwerk, ergänzt durch neu entstandene Texte, unter dem Titel „Chronik der Gefühle“ in einer umfangreichen zweibändigen Ausgabe versammelte. Darin findet sich die „Schlachtbeschreibung“ – als ein Kapitel unter vielen – in einen neuen Zusammenhang gestellt.
In der langen Geschichte technomorpher Modellierungen des Politischen markiert „The Nerves of Government“ einen Paradigmenwechsel. Hatte Thomas Hobbes rund 300 Jahre zuvor das moderne politische Denken mit einer geometrisch-mechanischen Staatsphilosophie begründet, so durfte Karl W. Deutschs umfassende Modellstudie als erster ernstzunehmender Versuch gelten, die in den 1940er-Jahren angestoßene informationstechnische Revolution in ein politisches Vokabular zu übersetzen. Tatsächlich konnte (und wollte) das Ensemble von Begrifflichkeiten, das auf diese Weise Einzug in die politische Rationalität des 20. Jahrhunderts hielt, seine Wurzeln im Feld der Nachrichten- und Regelungstechnik nicht verbergen. Vielmehr bestand Deutschs Grundannahme gerade darin, „daß Regierungsapparate und politische Parteien nichts anderes als Netzwerke zur Entscheidung und Steuerung sind, daß sie auf Kommunikationsprozessen beruhen und daß in gewisser Hinsicht ihre Ähnlichkeit mit der Technologie der Nachrichtenübertragung groß genug ist, um unser Interesse zu erregen“ (S. 211).
Der Aufsatz untersucht die Rolle und die Grenzen der Stimmungsberichte des Ministeriums für Staatssicherheit an die SED-Führung als „Öffentlichkeitsersatz“ in der staatssozialistischen Diktatur. Im Zentrum stehen dabei die 1960er- und 1970er-Jahre als relativ stabile Jahrzehnte des DDR-Systems. Trotz aller ideologisch bedingten Verzerrungen zeigen die Berichte eine subkutane Orientierung am westdeutschen System und relativ leicht mobilisierbare Hoffnungen auf eine Abkehr von Grenzregime und Reiseverboten. Gleichwohl erschöpften sich die Werthaltungen nicht in einer Selbstwahrnehmung als „verhinderte“ Bundesbürger. Der Diskurs über Versorgungsprobleme und die materielle Lage enthielt neben dem Westvergleich auch Bezugnahmen auf den offiziellen Egalitarismus und ein sehr genaues Bewusstsein für dessen Grenzen in der DDR-Gesellschaft; Kaderprivilegien und ungleich verteiltes Westgeld sorgten vielfach für Unmut. Die Staats- und Parteiführung nahm die MfS-Berichte letztlich nur selektiv wahr – langfristig zu ihrem eigenen Schaden.
Blick durchs Ökoskop. Rachel Carsons Klassiker und die Anfänge des modernen Umweltbewusstseins
(2012)
Kaum ein anderes amerikanisches Buch hat in aller Welt so hohe Wellen geschlagen wie „Silent Spring“. Einem Tsunami vergleichbar, der sich von seinem unterirdischen Ursprung über lange Perioden und große Entfernungen hinweg ausbreitet, hat Rachel Carsons Buch tradierte Sichtweisen auf die Natur erschüttert, unerhörte Zerstörungen sichtbar gemacht und den Ausblick auf eine gefährdete Welt zurückgelassen. Eine „Flutwelle von Briefen“ fegte unmittelbar nach der Veröffentlichung des ersten Kapitels im „New Yorker“ im Juni 1962 über die USA hinweg. Carson sah in den anhaltenden Reaktionen auf ihr Buch dessen eigentliche Bedeutung. Vieles spricht dafür, dass „Silent Spring“ einer der Auslöser für die ‚ökologische Revolution‘ der 1960er-Jahre war. Woher kam diese Sprengkraft? Und welche Bedeutung hat Carsons Klassiker heute – ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen?
Eine aufschlussreiche Debatte um die Frage nach der Beeinträchtigung der deutschen Sprache durch die NS-Zeit fand 1963 in Walter Höllerers zwei Jahre zuvor gegründeter Zeitschrift »Sprache im technischen Zeitalter« statt. Hier wurden drei Beiträge aus dem englischsprachigen Ausland dokumentiert, von denen George Steiners Essay »Das hohle Wunder« besonders heftige Antworten provozierte. Unser Aufsatz rekapituliert Steiners sprachkritische Intervention im Rahmen des damaligen literarischen Resonanzraums und untersucht zunächst Auffälligkeiten der unautorisierten ersten Übersetzung von Steiners Text. Im Zentrum steht dann die Kritik der um Repliken gebetenen Autorinnen und Autoren, unter denen mit Hilde Spiel, Marcel Reich-Ranicki, François Bondy und Hans Weigel mehrere jüdische Persönlichkeiten waren. Wir diskutieren, warum diese dem Befund Steiners widersprachen und ihr Vertrauen in die deutsche Sprache bekundeten. Der Aufsatz schließt mit Wolfgang Hildesheimer, dessen Blick auf das Deutsche als Tätersprache durch seine Arbeit als Übersetzer bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen geprägt war.