1945-
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Wahrnehmungen, Gebrauchsweisen und sozioökonomische Folgen der Computernutzung bis zum Aufkommen des PCs.
Die Verbreitung des Computers zählt zu den wichtigsten Veränderungen der jüngeren Zeitgeschichte. Bereits seit Mitte der 1950er Jahre setzten zunächst große Unternehmen und Behörden, dann auch das Militär und Sicherheitsdienste zunehmend Computer ein. Die Zeitgenossen diskutierten intensiv die Auswirkungen der Computernutzung und bewerteten sie als einen tiefgreifenden Umbruch. Dennoch hat sich die Zeitgeschichtsforschung bislang kaum mit dem Beginn des digitalen Zeitalters beschäftigt.
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes untersuchen die Verbindungen zwischen technischem und gesellschaftlichem Wandel als einen evolutionären Prozess, der selten gradlinig verlief. Klassische Themen der Zeitgeschichtsforschung, wie die Geschichte der Inneren Sicherheit, des Wohlfahrtsstaats und des Bankenwesens, der Arbeitswelt, der Verwaltung, aber auch von Protest- und Subkulturen werden auf diese Weise neu betrachtet. Dabei wird aufgezeigt, inwieweit Computer die Kontroll-, Betriebs- und Machtgefüge veränderten. Die Bundesrepublik steht im Vordergrund, jedoch mit vielfältigen Seitenblicken auf grenzübergreifende Verflechtungen.
Vernetzte Bankenwelt. Computerisierung in der Kreditwirtschaft der Bundesrepublik und der DDR
(2018)
»If you can’t beat ’em, join ’em«. Computerschach und der Wandel der Mensch-Maschinen-Verhältnisse
(2018)
Im 20. Jahrhundert lässt sich die Geschichte der Menschenrechte in Phasen der Einigkeit zwischen einzelnen Staaten und jenen der Kontroverse erzählen. So gab es Zeiten der Übereinstimmung, in denen sich die Interessen von Staaten und Zivilgesellschaften überschnitten, was die Einführung und Durchsetzung universeller Normen möglich machte, etwa 1945, 1966, 1977 und 1990. Dazwischen gab es aber auch immer wieder Momente, in denen die internationale Gemeinschaft in eben diesen Normen eine Bedrohung sah. Die UNO-Menschenrechtspakte spiegeln diese wechselvolle Geschichte und zeigen, wie die Menschenrechte und das System zum Schutz dieser durch globale Konflikte und transnationale Aushandlungsprozesse geprägt wurden.
Jenseits der Binaritäten von zwei Geschlechtern, zwei Gendern und zwei möglichen Strukturen des Begehrens versteht dieser Beitrag Queerness als ein Netz, in dem alle Aspekte des Begehrens und der Sexualität, einschließlich der Hegemonie der Heteronormativität, miteinander in Beziehung stehen und fließend ineinander verwoben sind. Ich verwende ‚Queer‘ hier als ein analytisches Konzept, um auf nicht-heteronormative Strukturen des Begehrens und der Sexualität zu verweisen, ohne mich auf die Kategorien der Vergangenheit festzulegen. Mit anderen Worten: Ich versuche, der Fluidität, die queere Theorien betonen, treu zu bleiben. Queer wird hier nicht nur gedacht als ein Oberbegriff für alle Formen gleichgeschlechtlichen Begehrens und geschlechtlicher Nonkonformität. Vielmehr verwende ich queer um Identitätszwängen zu entrinnen, und so in den Archiven auch Stimmen zu finden, die sich nicht unter den je zeitgenössischen Begriffen subsumieren lassen.
Queere Geschichtsschreibung steckt auch 2022 im deutschsprachigen Raum immer noch in den Anfängen. Die Erforschung lesbischer* Geschichte wurde sehr lange hauptsächlich von Aktivist*innen geleistet, die in politischen Projekten oder finanziert durch kleinere Aufträge nach Spuren lesbischen* Lebens suchten und Stimmen von Zeitzeug*innen aufzeichneten. In der universitären Welt ist lesbische* Geschichtsschreibung bisher allenfalls punktuell zu finden. Folgende Ausführungen zur Situation frauenliebender Frauen* in psychiatrischen Kliniken nach 1945 werden mehr Fragen als Forschungsbefunde enthalten, da sich unsere Forschungen noch in den Anfängen befinden.
Da das Recht und damit auch der Strafvollzug dem Aufbau des Sozialismus dienten, ist anzunehmen, dass diese sozialistische Moral auch in den Gefängnissen vermittelt werden sollte. Wie wurde also in den DDR-Haftanstalten mit gleichgeschlechtlicher Sexualität und nicht-normativen Verkörperungen von Geschlecht umgegangen? Dieser Frage geht der Beitrag am Beispiel des Ost-Berliner Frauengefängnisses nach.
Im Jahr 2020 soll nach aktuellem Zeitplan das Humboldt Forum eröffnen – sollten bis dahin alle technischen Probleme gelöst sein. Damit würde nach über sechs Jahren Bauzeit das rekonstruierte Berliner Schloss der Öffentlichkeit übergeben. Mit der (teilweise) wiederhergestellten Hohenzollernresidenz kehrte dann nicht nur eines der markantesten Bauwerke in die historische Stadtmitte zurück. Im 30. Jahr der deutschen Einheit erhielte Berlin endlich jenes lang ersehnte Symbol, das die „neue“ Bundesrepublik und ihre Hauptstadt für alle Welt sichtbar an preußische Traditionen rückbinden soll: die der Aufklärung, der Toleranz und des Humanismus. Mit diesem Brückenschlag zum „anderen“ – besseren – Preußen hätte die Suche nach einer vom 20. Jahrhundert möglichst unbelasteten, Identität stiftenden Meistererzählung im Zeitalter „post-murum“ ihr (vorläufiges) Ende gefunden.
Nostalgische Alltagserinnerungen an die DDR standen seit den frühen1990er Jahren unter dem Verdacht der Verharmlosung der SED-Diktatur. Obwohl diese sehr einseitige Sichtweise durch die Forschung mittlerweile weitgehend entkräftet ist und ein differenzierteres Bild von Erinnerung Einzug gehalten hat, fällt noch immer eine gewisse Exotisierung ostdeutscher Erinnerungspraktiken auf. Weitet man den Blick jedoch auf nostalgische Erinnerungen in westlichen Ländern, werden trotz einiger Unterschiede Parallelen sichtbar, die auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse in Ost und West verweisen und Erklärungsmuster für ostdeutsche Alltagserinnerungen in einem anderen Licht erscheinen lassen.
*Der Beitrag ist in gekürzter Form auch im Begleitkatalog zu der Sonderausstellung "1870/71. Reichsgründung in Versailles" der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh erschienen (Die DDR und die Reichsgründung, in: Ulrich Lappenküper/Maik Ohnezeit (Hrsg.), 1870/71. Reichsgründung in Versailles, Friedrichsruh 2021, S. 200-205).
Psychiatriegeschichte als Horrordrama. Die Netflix-Serie „Ratched“ und die Grenzen des Wahnsinns
(2021)
Im Jahr 1948 an der Küste Kaliforniens. Die selbst ernannte Krankenschwester Mildred Ratched erschleicht sich einen Posten im Lucia State Hospital, einer psychiatrischen Anstalt, in die ihr Bruder Edmund Tolleson in Kürze eingeliefert werden soll. Ihre Mission: Aus Schuldgefühlen will sie Edmund, der mehrere Priester massakriert hat und über dessen Schuldfähigkeit der visionäre Leiter der Anstalt entscheiden soll, vor der Todesstrafe retten und geht dabei im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen. Was auf den ersten Blick als bloße Familiengeschichte anmutet, entpuppt sich auf den zweiten Blick als komplex erzählte Gesellschaftsgeschichte. Die im September 2020 in Deutschland ausgestrahlte Serie „Ratched“, von Evan Romansky und Ryan Murphy konzipiert und von Netflix produziert, ist mehr als die Geschichte eines lang getrennten Geschwisterpaares, das von traumatischen Kindheitserfahrungen heimgesucht wird. Als „Horrordrama“ setzt sie sich am Beispiel ihrer monströsen Hauptfiguren und der Psychiatrie als zentralem Handlungsort in acht Folgen mit den Normen der US-amerikanischen Nachkriegsgesellschaft auseinander und interessiert sich für deren Konzeptionen von Krankheit, Gesundheit und Geschlecht. Auf diese Weise verdichten sich in dem von „Ratched“ aufgespannten gesellschaftsgeschichtlichen Panorama psychiatrie- und geschlechtergeschichtliche Perspektiven.
Ernst Friedrich Schumachers vor 50 Jahren erschienenes Buch »Small is Beautiful« wurde in den 1970er-Jahren schnell zu einem Standardwerk der Technikkritik und der Debatten um alternative Wirtschaftsformen im globalen Zusammenhang. Vor allem im expandierenden Feld der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Bürgerinitiativen wurde Schumacher zu einem wichtigen Stichwortgeber. Bis heute wird das Buch als Referenz für alternative Konzepte von Wirtschaft und Gesellschaft angeführt – vom »Green New Deal« über die »Donut-Ökonomie« bis zur »Postwachstumsgesellschaft«. Gerade im Kontext der ökologischen Krisen der Gegenwart und der kritischen Sicht auf Wachstumsziele als Selbstzweck ist Schumachers Plädoyer für eine »Rückkehr zum menschlichen Maß« hoch aktuell. Von den Traditionen des ökonomischen Denkens des 20. Jahrhunderts geprägt, scheint sein Buch in besonderem Maße geeignet, Anknüpfungspunkte für das Wirtschaften »in einer endlichen Welt« zu liefern. Aber es sind auch andere, stärker historisierende Lesarten möglich.
Im Dezember 2020 gab der schwedische Möbelhersteller IKEA bekannt, die weltweite Distribution seines gedruckten Warenkatalogs nach 70 Jahren einzustellen. Im deutschsprachigen Feuilleton wurde diese Nachricht zum Ereignis: »Auch das noch: Den IKEA-Katalog gibt’s nur noch digital«, stellte Jens Jessen in der »ZEIT« leicht ironisch fest. Angesichts der Unsicherheiten, die von der globalen Covid-19-Pandemie ausgingen, schien im nun umso wichtiger gewordenen Bereich des Wohnens eine weitere Konstante des Alltagslebens wegzubrechen. Der ausbleibende Katalog veranlasste einige Kommentator*innen zu sehr persönlichen Formen der Anteilnahme und Abschiedsbekundung. Mitunter ließen diese, nostalgisch gefärbt, das eigene Erwachsenwerden Revue passieren – schließlich waren die IKEA-Kataloge in den Industriestaaten weltweit ein Teil davon. So erscheint der Möbelkatalog als Medium zum Träumen, als warenästhetischer Coming-of-Age-Roman, der Jugendliche im Akt des Durchblätterns von Erwachsenenleben und Unabhängigkeit fantasieren lässt; als Schwelle in eine selbstständige, bessere Zukunft: »Du warst das Fenster, das reale Einrichtungshaus die Tür.« Das IKEA-Du, das in den Katalogen und Einrichtungshäusern propagiert wird – die Bundesrepublik hat es dankend umarmt und vielfach verflucht.
Eine »Völkerwanderung«? Die Flucht aus Rumänien und die Flüchtlingspolitik in Österreich um 1990
(2023)
Als sich 1989 der »Eiserne Vorhang« in Europa öffnete, waren im »Westen« die Ängste vor einem ungeregelten Zuzug aus dem sich auflösenden »Ostblock« groß. Dass die Einreise von rumänischen Staatsbürger:innen Anfang der 1990er-Jahre tatsächlich zunahm, wurde als Beleg für die Befürchtungen gesehen. Die Frage nach dem Umgang mit Flüchtlingen aus Rumänien prägte die Auseinandersetzung über Flucht und Migration in Europa jedoch bereits seit Mitte der 1980er-Jahre – auch innerhalb des sozialistischen »Blocks«. Wegen der prekären Wirtschaftslage und der repressiven Politik des Ceaușescu-Regimes versuchten immer mehr Menschen Rumänien zu verlassen. Ihre erste Station war meist Ungarn, das als Reaktion auf die Fluchtbewegung 1989 der Genfer Flüchtlingskonvention beitrat und die Arbeit des UNHCR im eigenen Land zuließ, wovon im Sommer 1989 auch Bürger:innen aus der DDR profitierten, die über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik gelangen wollten. Die internationale Hilfe knüpfte an die Erwartung an, dass durch eine bessere Versorgung in Ungarn der Migrationsdruck auf den »Westen« reduziert werden könne. Diese Hoffnung teilte auch Österreich, wo fremdenfeindliche Stimmungen gegenüber Rumän:innen die Asyl- und Flüchtlingspolitik für die kommenden Jahrzehnte prägten.
When the ›Iron Curtain‹ opened in Europe in 1989, there were fears in the ›West‹ of an unregulated influx of people from the dissolving ›Eastern Bloc‹. The increased number of Romanian citizens arriving in the early 1990s was seen as proof of a major ›exodus‹. However, the question of how to deal with refugees from Romania had already been shaping the debate on refugees and migration in Europe since the mid-1980s – even within the socialist ›bloc‹. The precarious economic situation and the repressive politics of the Ceaușescu regime meant that more and more people were trying to leave Romania. Their first stop was usually Hungary, which, in response to the flow of refugees, acceded to the Geneva Refugee Convention in 1989 and allowed the UNHCR to work in the country, a development that also supported citizens from the GDR trying to reach the FRG via Hungary and Austria in the summer of 1989. International aid was linked to the expectation that better care in Hungary would reduce the migratory pressure on the ›West‹. This hope was shared by Austria, where xenophobic sentiments toward Romanians shaped asylum and refugee policies for decades to come.
Das Schweigen deuten. Stimm- und Wahlenthaltung als Streitgegenstand in der Schweiz (1960–1990)
(2023)
Wie gehen demokratische Gesellschaften mit einer sinkenden Stimm- und Wahlbeteiligung um? Seit den 1960er-Jahren führte dieses Phänomen in der schweizerischen Öffentlichkeit zur Diagnose eines demokratischen »Unbehagens« oder gar einer »Krankheit«. Während Nichtwähler:innen selbst in dieser Diskussion selten zur Wort kamen, drückten Politiker, Wissenschaftler und Journalisten (überwiegend Männer) mitunter Nostalgie für eine idealisierte, unmedialisierte Dorfpolitik aus. Die Einführung des Frauenstimmrechts im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre destabilisierte solche Ideale weiter, indem sie das androzentrische Staatsbürgerschaftsmodell des »Bürgersoldaten« in Frage stellte. Obschon nichtkonventionelle Partizipationsformen in dieser Zeit zunahmen, wurde die Stimm- und Wahlenthaltung zum »öffentlichen Problem«, über welches Politiker debattierten und zu dem sie wissenschaftliche Studien beauftragten. Die sich teilweise im Kreis drehende Diskussion führte zu einer Kritik der vertikalen Verhältnisse zwischen Repräsentierten und Repräsentanten – in einer demokratischen Kultur, die sich lange als horizontal stilisiert hatte. Ähnlich wie in der aktuellen, international regen Debatte über Bedrohungen der Demokratie standen die Deutungen der Stimm- und Wahlenthaltung als freie Projektionsfläche für Krisendiagnosen dabei in einem Gegensatz zur Komplexität des Phänomens als »polyphonem Schweigen«.
How do democratic societies deal with declining electoral turnout? This phenomenon led to diagnoses of a democratic ›unease‹ or even a ›sickness‹ in the Swiss public sphere from the 1960s onwards. While non-voters themselves rarely participated in this discussion, politicians, academics and journalists (most of them men) expressed nostalgia for an idealised, non-mediatised, rural form of politics. The gradual introduction of female suffrage in the 1960s and 1970s further destabilised such ideals, questioning as it did the model of the ›citizen-soldier‹. Although non-conventional forms of participation increased during the same time period, non-voting became a ›social problem‹, debated by politicians and the subject of commissioned academic studies. The discussion often went round in circles, and gave way to a critique of the vertical relations between represented and representatives – in a democratic culture which had long prided itself on being horizontal. Much like the current lively international debate on threats to democracy, the interpretations of non-voting and abstention as a canvas for the projection of crisis diagnoses stood in contradiction to the complexity of this ›polyphonic silence‹.
Eine oft übersehene Dimension der Auseinandersetzung bundesdeutscher Sicherheitsakteure mit dem international vernetzten Linksterrorismus ab den 1970er-Jahren ist die sogenannte Polizeihilfe für Staaten des Globalen Südens. Bundesdeutsches Know-how und Polizeitechnik made in Germany sollten die Polizeibehörden in Partnerländern modernisieren und so die internationale Anti-Terror-Zusammenarbeit verbessern. Der Aufsatz untersucht die Dynamiken solcher Kooperationen in Lateinamerika und stützt sich dabei vor allem auf Akten der beteiligten Bundesministerien. Westdeutsche Behörden stuften die Region aufgrund ihrer politischen Instabilität als möglichen Rückzugsort terroristischer Gruppen ein. Anders als oft dargestellt, folgten die Programme jedoch kaum einer außen- oder sicherheitspolitischen Gesamtstrategie. Vielmehr entwickelten sich die prestigeträchtigen Polizeihilfen zu einer symbolischen »Währung« für die Aushandlungsprozesse zwischen den Akteuren einer zunehmend transnationalisierten »Inneren Sicherheit«. Partnerschaften zwischen den Sicherheitsinstitutionen von demokratischen Staaten wie der Bundesrepublik und Militärdiktaturen wie Brasilien, Chile oder Peru waren dabei die Regel.
Police assistance programmes for Global South countries were a key component of West Germany’s efforts to counter international left-wing terrorism during the 1970s and 1980s. Security technology ›made in Germany‹ and West German policing expertise were considered important foreign policy tools to support the modernisation of partner countries’ police institutions and for strengthening international cooperation in the domain of counterterrorism. Focusing on West German police assistance programmes for Latin America, and primarily based on files of the West German federal ministries involved, we demonstrate that, far from simply reflecting broader security or foreign policy goals, the practical unfolding of these programmes was driven by constant negotiation processes between the various actors. This, in turn, transformed police assistance programmes into a veritable symbolic currency whose accumulation decisively pushed the transnationalisation of West Germany’s internal security. Partnerships between the security institutions of democratic states such as West Germany and military dictatorships such as Brazil, Chile and Peru were standard practice.
Am 1. Oktober 1973 nahmen die Hochschulen (seit 1985 Universitäten) der Bundeswehr in Hamburg und München ihren Lehrbetrieb auf. Hervorgegangen aus jahrelangen Diskussionen über Bildung und Ausbildung in der Bundeswehr, sollten sie allen Offizieren ein vollwertiges wissenschaftliches Studium bieten, um sie für ihre militärischen Führungsaufgaben sowie für den zivilen Arbeitsmarkt nach ihrer Dienstzeit zu qualifizieren. Neben der Attraktivität der soldatischen Laufbahn kamen zwei weitere Argumente hinzu: zum einen die militärische Effektivität unter den Vorzeichen der wissenschaftlich-technischen Systemkonkurrenz im Kalten Krieg, zum anderen die integrative Funktion akademischer Bildung für Soldaten als »Staatsbürger in Uniform«. Erst das Ineinandergreifen dieser drei Argumentationsstränge ermöglichte die Gründung der Hochschulen, gegen die Kritik von konservativen Militärs und aus der Studentenbewegung. Der Aufsatz ordnet die verschiedenen Motivationen für die Akademisierung der Offizierslaufbahn seit den frühen 1960er-Jahren historisch ein und erklärt die Spannungen der Gründungsgeschichte im Kontext der allgemeinen Hochschulexpansion.
On 1 October 1973, the Hochschulen (since 1985 Universitäten) der Bundeswehr (universities of the German armed forces) in Hamburg and Munich took up their academic activities. Emerging after years of debate on education and training in the armed forces, they introduced academic degrees for all future officers, preparing them for active duty as well as for subsequent civilian jobs. Besides making military careers more attractive, the two institutions were supposed to raise military effectivity within the science and technology contest of the Cold War, but also to ensure that soldiers were embedded in society as Staatsbürger in Uniform (citizens in uniforms). It was only the combination of these three arguments that allowed the universities to withstand the protests both from conservative officers and from among the ranks of the 1968 student movement. This article contextualises the various motives for introducing academic degrees in the Bundeswehr within the general expansion of higher education from the early 1960s onwards, and it explains the opposing interests involved.
Radio Luxembourg war in der europäischen Rundfunklandschaft der Nachkriegszeit eine Ausnahme: Die privatkommerzielle Radiostation sendete werbefinanzierte Unterhaltungsprogramme in die benachbarten Staaten und erreichte damit ein Millionenpublikum. Die Autorin Anna Jehle zeigt anhand verschiedener Untersuchungsfelder - der Unternehmens- und Programmgeschichte, der Zielgruppen, der Marketingaktivitäten und des Werbezeitenverkaufs -, wie eng die Entwicklung der Konsumgesellschaft im Frankreich der sogenannten trente glorieuses mit der Verbreitung und Nutzung des Radios verbunden war. Mit seinem ganz auf Massenkonsum ausgerichteten Rundfunkkonzept war Radio Luxembourg nicht nur integraler Bestandteil, sondern auch Katalysator und Agent der Konsummoderne. Dies hatte weitreichende Auswirkungen für das französische Rundfunksystem, das sich unter dem Einfluss Radio Luxembourgs kommerzialisierte, und zwar bereits lange vor der Deregulierung des Rundfunks in den 1980er Jahren.
In beiden deutschen Teilstaaten gehörten die Rentenversicherungen zu den ersten Nutzern von Computern. Bereits seit Mitte der 1950er Jahre berechneten diese die Altersruhegelder im Westen, zehn Jahre später auch in der DDR. Die digitale Datenverarbeitung versprach große Rationalisierungs- und Beschleunigungseffekte. Gleichwohl führten die verschiedenen Staats- und Versicherungsformen zu einer unterschiedlichen Nutzung von Computern.
Die Studie von Thomas Kasper zeigt, unter welchen Bedingungen sich die elektronische Datenverarbeitung in der Sozialverwaltung durchsetzen konnte. Sie verdeutlicht, welchen bisher unbekannten Einfluss sie auf sozialpolitische Entscheidungen sowie auf die Arbeitsverhältnisse und den Datenschutz in beiden deutschen Teilstaaten hatte. Nach der Wiedervereinigung ließ nur die gemeinsame Nutzung der vorhandenen digitalen Strukturen die Zusammenführung beider Sozialsysteme gelingen.
Von den Nürnberger Wirtschaftsprozessen bis zu den Verhandlungen um Zwangsarbeiterentschädigungen - deutsche Konzerne haben stets versucht, das öffentliche Bild von ihrer NS-Vergangenheit selbst zu prägen. Sebastian Brünger untersucht nun erstmals die Kontinuitäten und Brüche dieser Vergangenheitsbearbeitung seit 1945. An vier Beispielen (Bayer, Deutsche Bank, Daimler und Degussa) erörtert er Strategien und Formen unternehmerischer Vergangenheitsbearbeitung und analysiert sie im Kontext von Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft ihrer jeweiligen Zeit.
Brünger zeigt, wie Unternehmen die Veränderungen der deutschen Geschichtskultur nachvollzogen bzw. mitbestimmten, während konkrete Rollenbilder wie etwa das vom »anständigen Kaufmann« weiter tradiert und Forschungsaufträge an Historiker zunehmend zu einem wichtigen Imagefaktor wurden. Damit erweitert Brünger den gedächtnisgeschichtlichen Blickwinkel auf die deutsche Geschichtskultur um die Dimension der Unternehmensgeschichte und begreift Unternehmen als Akteure des kulturellen Gedächtnisses.
Annette Vowinckel ist Leiterin der Abteilung Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaft am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und außerplanmäßige Professorin im Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im von Janaina Ferreira dos Santos und Iulia Sucutardean geführten multimedialen Interview für das Online-Portal „Visual History“ (visual-history.de) stellt die Historikerin ihr neues Buchprojekt Zentralbild, Photo International and the Visual Politics of Late State Socialism vor, geht auf die Methoden ihrer Quellenarbeit ein und betont, wie digitale Tools die Arbeit von Historiker:innen in vielerlei Hinsicht vereinfachen können.
Fürsorgediktatur
(2023)
Neu in einer aktualisierten Version 2.0: In seinem Artikel erörtert Konrad H. Jarausch den Neologismus „Fürsorgediktatur“, ein Spannungsbegriff, der den widersprüchlichen Charakter der DDR vor allem unter Honecker auf einen präzisen Nenner bringen sollte. Mit dem Gedanken entworfen, die festgefahrene Auseinandersetzung um die Geschichtspolitik anzustoßen und eine analytische Debatte zu beginnen, beschreibt Jarausch Kritiken und Interpretationsmöglichkeiten des Begriffs.
Die DDR verstand die gesellschaftliche Rehabilitation von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen als sozialstaatliche Aufgabe. Während die Integration in die Arbeitswelt vergleichsweise gut erforscht ist, sind zu den Bereichen Wohnen und Mobilität noch viele Fragen offen. Welche Maßnahmen ergriff der Staat, um körperlich eingeschränkte Menschen in diesen Bereichen zu fördern? Welche Rolle spielten hierbei Kreisärzte und Stadtarchitekten? Welche Ergebnisse wurden in der Praxis erzielt? Erkennbar war vor allem seit Mitte der 1970er-Jahre das staatliche Bemühen, den Betroffenen mit Hilfsmitteln und Baumaßnahmen die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Doch die begrenzten Ressourcen und die planwirtschaftlichen Strukturen des SED-Staates erschwerten dies. Zudem konnte der Abbau materieller Hürden neue Barrieren hervorrufen – etwa in Fußgängerzonen. Betroffene entwickelten deshalb eigene, durchaus erfolgreiche Initiativen. Anhand von Beispielen aus Karl-Marx-Stadt, Halle an der Saale und Greifswald bietet der Aufsatz Einblicke in einen Alltag von Menschen mit Behinderungen, der von Ambivalenzen und Handlungsspielräumen ebenso geprägt war wie von Beschränkungen seitens staatlicher Stellen.
The GDR conceived the social rehabilitation of people with physical impairments as the responsibility of the welfare state. While their integration into the world of work has been comparatively well researched, many questions remain unanswered with regard to housing and mobility. What measures did the state take to support physically impaired people in these areas? What role did district physicians and city architects play in this? What practical results were achieved? From the mid-1970s onwards, there were clear efforts by the state to provide assistance and implement construction measures that would enable the individuals concerned to participate in society. However, limited resources and the centrally planned economy of the SED state made this difficult. In addition, the removal of material obstacles could also create new barriers, such as in pedestrian zones. The individuals concerned therefore developed their own, quite effective initiatives. Drawing on case studies from Karl-Marx-Stadt, Halle an der Saale and Greifswald, the article provides insight into the everyday life of people with disabilities, characterised as it was by ambivalences, agency, and the restrictions imposed by state authorities.
Der Beitrag untersucht den Wandel der Freizeit- und Kurinfrastruktur für behinderte Menschen und ihre Angehörigen in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz. In der Bundesrepublik und in der DDR waren diese Maßnahmen sehr unterschiedlich organisiert und an die jeweiligen Familienideale angelehnt. Während das westdeutsche Müttergenesungswerk seit den 1950er-Jahren Sonderkuren für besonders belastete Hausfrauen anbot, blieben staatliche Freizeiten in der DDR zunächst Werktätigen vorbehalten. Gerade für Mütter behinderter Kinder ließ die DDR-Staatsführung der Diakonie eine Nische. Trotz solcher divergierenden Trägerstrukturen verlief der Wandel ost- und westdeutscher Angebote in ähnlichen Phasen. Im Westen war es der Contergan-Skandal Anfang der 1960er-Jahre, der eine stärkere Aufmerksamkeit auf die betroffenen Familien lenkte. Der Ausbau von Erholungsangeboten setzte sich auch »nach dem Boom« fort. Im Osten erkannte die SED-Führung ab den 1960er-Jahren die Versorgung der Angehörigen behinderter Menschen als Staatsaufgabe an und intensivierte ihr Engagement auch auf Druck von Eingaben Betroffener. Auffällig ist für beide deutsche Staaten, dass Väter lange Zeit eher abwesend blieben. Eine andere Gemeinsamkeit waren die fortbestehenden Barrieren an vielen Urlaubsorten.
In this article, we discuss the support available to the caregivers of people with disabilities in the ideological competition between East and West Germany. In the FRG and the GDR, recovery programs were organised very differently and reflected the respective family ideals. In West Germany, the Müttergenesungswerk (Maternal Health Care Foundation) organised special recovery cures specifically for housewives from the 1950s onwards. In the GDR, the state itself initially offered respite only for workers. East German church organisations found a niche in the otherwise atheist GDR state in recovery programs for mothers with disabled children. Despite the divergent stakeholders in the East and the West, the programs expanded at a similar pace. In the West, the thalidomide crisis led to a media focus on families with disabled children. The expansion of recovery initiatives continued even ›after the boom‹. In the East, international initiatives forced the socialist state to improve its measures. Moreover, GDR citizens, i.e. caregivers, began to remind the party leadership of the state’s own egalitarian principles. What is striking for both German states is that fathers long remained absent from the picture. Another common feature was the persistence of barriers at many holiday locations.
Eine besondere Chance, bottom-up-Einblicke in die Alltagsgeschichte von Menschen mit Behinderungen in der DDR und ihre Agency zu erhalten, bieten Eingaben: Bitt- und Beschwerdebriefe, die die Bürger:innen der DDR zu Hunderttausenden jährlich an staatliche Organe richteten, um Probleme im Alltagsleben und Konflikte mit Staat und Verwaltung zu lösen. Zunächst werden in diesem Beitrag die Besonderheiten solcher Eingaben in der DDR skizziert. Sodann wird erörtert, inwiefern die Analyse der Eingaben von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen eine wertvolle Perspektive auf ihr Alltagsleben und ihre Interaktionen mit Staat und Expert:innen ermöglicht und wo dabei Grenzen der Aussagekraft liegen. Dies wird anhand von Einzelfällen exemplarisch veranschaulicht.
Am 5. August 1974, gegen 20 Uhr am Montagabend, rief ein erboster Zuschauer im Mainzer Sendezentrum des ZDF an. Die laufende Sendung sei eine »Zumutung«, er wolle im Feierabend ein »Programm zur Entspannung«. Gedankliches Abschalten ließ die zweite Episode der monatlich ausgestrahlten, siebenteiligen Reihe »Unser Walter – Spielserie über ein Sorgenkind« offenbar nicht zu. Die Serie porträtierte Walter Zabel, einen Jugendlichen mit Trisomie 21. Derart ablehnende Reaktionen waren aber in der Minderzahl. Nach der Ausstrahlung jedes Teils notierte der ZDF-Telefondienst auf dem Mainzer Lerchenberg stets mehr mitfühlende und interessierte als kritische Rückmeldungen und »Schimpfereien«. Die ZuschauerInnen bekundeten nicht nur ihr Entsetzen über die alltäglichen Ausgrenzungen, denen die Familie Zabel begegnete. Sie befürworteten das Ziel der Serie, in »unserer grausamen Gesellschaft Verständnis für solche Kinder zu wecken«. Andere wollten betroffenen Eltern gar selbst Hinweise über spezielle Anlaufstellen geben, und auch behinderte Menschen griffen zum Telefon, um mit ihren Erfahrungen die fiktionale Handlung zu ergänzen. Nicht zuletzt fragten Eltern von Kindern mit Trisomie 21 nach AnsprechpartnerInnen, beispielsweise nach der Anschrift der in der Sendung genannten Bundesarbeitsgemeinschaft »Hilfe für Behinderte«, einem Dachverband von Organisationen von und für behinderte Menschen (heute: BAG Selbsthilfe). Diese Reaktionen des Fernsehpublikums zeigen, wie sehr sich die Darstellungskonventionen und auch die Wahrnehmungsweisen von Behinderungen in den frühen 1970er-Jahren im Umbruch befanden.
Joseph Weizenbaum (1923–2008), in Berlin geboren, war durch die Nazis gezwungen, mit seiner jüdischen Familie aus Deutschland zu fliehen. Am MIT in Boston wurde er seit den 1960er-Jahren ein renommierter KI-Forscher. Er ist bis heute nicht nur als ein Pionier der Forschung zur Künstlichen Intelligenz anerkannt, sondern vor allem als ein streitbarer Kritiker der Computerkultur. Sein Buch »Computer Power and Human Reason. From Judgement to Calculation« ist ein Klassiker der Technik- und Wissenschaftskritik, ja der Kritik an der technischen und naturwissenschaftlichen Moderne überhaupt. Es ist aber besonders der Titel der deutschen Ausgabe, der mit seiner Dichotomisierung von Macht und Ohnmacht, Computer und Vernunft die These des selbsterklärten »Dissidenten« oder »Ketzers« der Informatik eingängig auf den Punkt bringt. Und das Zitat auf der Umschlagrückseite verortet das Buch auch gleich im Feld der Kritischen Theorie Max Horkheimers, auf den Weizenbaum sich explizit bezieht: »Ich bekämpfe den Imperialismus der instrumentellen Vernunft, nicht die Vernunft an sich.«
Ausgehend von Theodor W. Adornos Auffassung, dass Kunst sprechen lasse, »was die Ideologie verbirgt«, werden im vorliegenden Beitrag in der DDR entstandene künstlerische Landschaftsdarstellungen als mediale Beglaubigungen eines gleichermaßen realen wie teleologisch verstandenen Sozialismus in den Blick genommen. In der DDR spielte Landschaft und ihre mediale wie ästhetische Repräsentation eines Zusammenhangs aus Natur, Kultur, Interpretation, Leben und Arbeit eine zentrale Rolle. Denn mit Landschaftsdarstellungen lässt sich der »authentische« Lebensstil einer Gesellschaft verräumlichen und ermöglicht so historische Aufschlüsse sowohl über Authentisierungsstrategien des Sozialismus als auch über die problematische Referentialität des Authentischen, einschließlich seiner Bedeutung in der politischen Kommunikation. Der Vergleich von DDR-Landschaftsdarstellungen unterschiedlicher Dekaden zeigt darüber hinaus verschiedene Strategien der Verzeitlichung des Raumes. Dies wird hier exemplarisch an zwei Filmen und einem Gemälde über Montanlandschaften untersucht: dem Spielfilm »Sonnensucher« (1958) von Konrad Wolf und der Serie »Columbus 64« (1966) von Ulrich Thein sowie dem Gemälde »Hinter den sieben Bergen« (1973) von Wolfgang Mattheuer.
Der Beitrag untersucht, inwiefern dem Comic aufgrund seiner medienspezifischen Merkmale das Potenzial für eine authentische Darstellung der Vergangenheit zugeschrieben bzw. abgesprochen wurde. Im Mittelpunkt der Analyse stehen in Deutschland zwischen 1965 und 2015 veröffentlichte Geschichtscomics über den Ersten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund einer in der Geschichtsdidaktik entwickelten Typologie von (historischer) Authentizität im Comic werden die dort angewandten Authentisierungs- und Beglaubigungsstrategien untersucht. Besondere Bedeutung kommt dabei der seit den 1970er Jahren anzutreffenden Auffassung zu, der Erwachsenen- bzw. Autor*innencomic sei ein besonders geeignetes Ausdrucksmittel des authentischen Selbst und verfüge gerade über die deutliche Ausstellung der subjektiven Sicht der Verfasser*in auf die Vergangenheit über besondere Authentizität.
Die TV-Serie »Holocaust« hat die deutsche Erinnerungskultur maßgeblich geprägt. Dabei war die Serie umstritten, unter anderem wegen ihres fiktionalen Charakters und wegen teilweise ahistorischer Stellen. »Wenn die nicht mal das richtig machen, dann stimmt auch alles andere nicht«, lautete ein Vorwurf an die amerikanischen Serienmacher. Das deutsche Fernsehen antwortete auf »Holocaust« mit Projekten, die eine besondere Form von Authentizität für sich reklamierten: Verfilmungen nach einer wahren Begebenheit, für deren Authentizität Zeitzeug*innen bürgten. Die TV-Serie »Ein Stück Himmel« war die größte Antwort auf »Holocaust« Anfang der 1980er Jahre. Sie erzählt das Überleben des jüdischen Mädchens Janina David. Der Aufsatz schildert, inwiefern Adaptionen zulasten von Authentizität gehen. Das TV-Team stand vor großen Herausforderungen, eine ansprechende Form von seriellem Erzählen mit Authentizität in Einklang zu bringen. Entsprechend gab es am Set heftige Kontroversen. Deutlich wird: Authentizität ist ein skalierbarer Wertbegriff. Er basiert auf verschiedenen Zuschreibungen, mit denen Akteur*innen ihre unterschiedlichen Interessen zur Realisierung oder Vermarktung der Serie argumentativ aufladen.
Der Aufsatz präsentiert die multimediale Geschichte des Romans, Hörspiels und Fernsehfilms »Am grünen Strand der Spree«, die zwischen 1955 und 1960 in Westdeutschland publiziert wurden. Darin schildern der Autor Hans Scholz bzw. die Regisseure Gert Westphal und Fritz Umgelter unter anderem die Massenerschießung von Juden in der sowjetischen Stadt Orscha im Herbst 1941. Der Romanautor beteuerte, die Beschreibung basiere auf seinen eigenen Kriegserinnerungen, und nahm für sich die Position eines Augenzeugen in Anspruch. Zugleich passte er das Bild des Verbrechens an die mutmaßlichen Erwartungen seiner Leser*innen an. Ähnlich agierten die Regisseure des Hörspiels und Fernsehfilms. Jede Version entfernte sich von den Ereignissen, die während des Ostfeldzugs tatsächlich stattfanden, und ähnelte zunehmend den Erzeugnissen der bundesdeutschen Erinnerungskultur, die Leid und Heldentum deutscher Soldaten in den Vordergrund stellte. Nichtsdestotrotz hielten die Rezipient*innen – darunter zahlreiche Kriegsveteranen – die Szene aus Orscha für besonders »authentisch«. Anhand von Aussagen in zeitgenössischen Besprechungen, Briefen und Interviews wird die Vorstellung von angeblich »authentischen Kriegsbildern« in der Bundesrepublik diskutiert.
Die Erforschung der Transformation Ostdeutschlands seit 1989/90. Ansätze, Voraussetzungen, Wandel
(2022)
In seinem Beitrag skizziert Marcus Böick gesellschaftswissenschaftliche und insbesondere zeithistorische Forschungen zu Ostdeutschland nach 1990. Er unterscheidet dabei vier Phasen der Transformationsforschung: eine ältere „DDR-Forschung“; die Konjunktur einer stark sozial-, politik- und wirtschaftswissenschaftlich dominierten Forschung in den frühen 1990er-Jahren; kultur- und literaturwissenschaftliche Zugriffe „von unten“; und schließlich die Grundzüge der jüngsten, etwa ab Mitte der 2010er-Jahre einsetzenden und zunehmend auch zeithistorisch geprägten Transformationsforschung. Abschließend werden übergreifende (Zukunfts-)Perspektiven angedeutet, die das Forschungsfeld ein Stück weit aus den innerdeutsch-introspektiven Selbstbeschäftigungen herausführen könnten.
Geographische Informationssysteme (GIS) wurden bereits seit den 1960er-Jahren mit der beginnenden Computerisierung der Geographie entwickelt. Ihr Konzept folgt der Idee, Daten bzw. Informationen in ihren Raumbezügen zu organisieren und analysierbar zu machen. Mit der Weiterentwicklung und wachsenden Leistungsfähigkeit digitaler Infrastrukturen sind inzwischen komplexe Datenmodelle, flexiblere Datenformate, neue Formen der Visualisierung sowie umfassende geostatistische Analysen möglich geworden. Zudem sind kartographische Visualisierungen nicht mehr nur statisch, sondern in einem GIS können überdies Veränderungen der Daten im Zeitverlauf dargestellt und untersucht werden. Der Einsatz von GIS ist aus Forschung, Wirtschaft, Verwaltung und medialer Kommunikation kaum noch wegzudenken. Die Produkte der Arbeit mit GIS umgeben uns vielerorts, oft ohne dass wir uns der dahinterliegenden Architekturen und Annahmen bewusst sind. Aktuelle Debatten über die Sammlung zeit- und geocodierter Daten, etwa über Mobiltelefone, um Personengruppen – Konsument*innen, Migrant*innen, Geflüchtete, Bürger*innen – retrospektiv, in Echtzeit oder mit prädiktiven Modellen auf der Grundlage biometrischer und/oder sozialer Daten zu tracken, haben mit Recht Fragen zum Datenschutz und zu ethischen Implikationen dieser Technologien aufgeworfen. Anwendungen GIS-basierter Technologien, etwa bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, dem Tracking von Verbreitungs- und Infektionswegen, der Entwicklung von Krisenreaktionsstrategien oder der medialen Kommunikation der Situation scheinen uns zugleich die beträchtlichen Potentiale der raum-/zeitsensiblen Datenanalyse – in Echtzeit – zu vermitteln. Deutlich wird, dass die ethischen, methodischen und epistemologischen Effekte der Verbreitung digitaler Werkzeuge zur Durchdringung wachsender und zunehmend komplexer Datenbestände einer mehrdimensionalen Reflexion bedürfen, die augenblicklich nur mühsam mit der Expansion der technischen Möglichkeiten Schritt hält.
Armut in China. Anspruch und Wirklichkeit der chinesischen Agrarpolitik seit den 1950er-Jahren
(2022)
Es sind vor allem die Erfolge bei der Überwindung der Armut, die der von der chinesischen Kommunistischen Partei unter Xi Jinping geführten Regierung Legitimation im Inneren und internationale Reputation verschaffen. Diese Erfolge werden von Institutionen wie der Weltbank oder der UNESCO bestätigt, die in ihren Veröffentlichungen die Zahl von über 800 Millionen Menschen nennen, die in China ab 1978 »aus der Armut gehoben worden« seien. Aber wie plausibel sind solche Erfolgsmeldungen? Die Analyse einer Vielzahl von Quellen zur Entwicklung der Armut seit den 1950er-Jahren zeigt, dass die Armutsdaten unzuverlässig und widersprüchlich sind. Des Weiteren wird deutlich, dass die sich wandelnden Strategien für die Landwirtschaft nicht das Ziel hatten, die Armut zu überwinden. Vielmehr sollte die staatliche Agrarpolitik vor allem billige Arbeitskräfte und finanzielle Ressourcen für Investitionen in Industrie und Infrastruktur bereitstellen. Nicht die agrarpolitischen Maßnahmen des chinesischen Staates, sondern die ländliche Bevölkerung selbst sorgte durch vielfältige Aktionsformen und Anpassungsstrategien für eine bescheidene Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Entgegen dem ersten Augenschein in den glitzernden Metropolen ist China weiterhin kein reiches Land. Nach wie vor bildet die Armut der Landbevölkerung die strukturelle Voraussetzung für das industrielle Wachstum.
The rule of the Chinese Communist Party (CCP) under Xi Jinping owes its domestic legitimacy and its international reputation to a large extent to its alleged success in overcoming poverty. This claim is validated by institutions such as the World Bank and UNESCO, which mention in their publications that in China over 800 million people have been ›lifted out of poverty‹ since 1978. But how plausible are such reports of success? A detailed analysis of data from a large number of sources, both Chinese and Western, on the development of poverty reveals many discrepancies and inconsistencies. Furthermore, the evolution of the agrarian policies of the CCP since the 1950s shows that these policies were not designed in order to reduce poverty in the rural areas, but were rather aimed at producing a surplus labour force for industrial and infrastructural development and providing financial resources for investment. It is argued that it was the agency of the rural population itself that made the modest improvements in their living conditions possible. Contrary to first impressions in the glittering metropolises, China is still not a rich country, and the poverty of the rural population was and is even today a structural prerequisite for industrial growth.
In der Diskussion um den Strukturwandel der 1970er- und 1980er-Jahre haben musikkulturelle Vergemeinschaftungen bisher kaum eine Rolle gespielt. Der Aufsatz analysiert den Wandel von Klassenzuschreibungen an der Schnittstelle von Gesellschafts- und Musikgeschichte über einen regionalen und räumlichen Zugriff. Dazu werden die Working Men’s Clubs im englischen Nordosten mit ihrer Verknüpfung von Arbeiterkultur und jugendkultureller Individualisierung während der »New Wave of British Heavy Metal« (NWOBHM) als Orte eines gesellschaftlichen Aufbruchs interpretiert. Wie gestaltete sich dort der Übergang von strukturellen zu kulturellen Klassenbeziehungen, und welche Folgen hatte dies für die weitere Entwicklung der Heavy-Metal-Kultur? Die Anbindung der NWOBHM an die Arbeiterklasse ermöglichte es einer entstehenden »neuen Mittelschicht«, zu der die Musiker häufig selbst gehörten, an der empfundenen Authentizität der »Working Class« zu partizipieren, während gleichzeitig postindustrielle Elemente mit einem jüngeren, auch weiblichen Publikum Einzug in die Working Men’s Clubs hielten.
In the discussion about the structural transformation of the 1970s and 1980s, the formation of musical/cultural communities has been largely ignored. The article analyses the shift in class attributions at the interface of social and music history via a regional and spatial approach. To this end, the Working Men’s Clubs in the English Northeast and their combination of working-class culture and individualisation in terms of youth culture during the New Wave of British Heavy Metal (NWOBHM) are interpreted as sites of social awakening. How did the transition from structural to cultural class relations manifest itself in the clubs, and what consequences did this have for the further development of heavy metal culture? The NWOBHM’s affiliation with the working classes enabled an emerging ›new middle class‹, to which the musicians themselves often belonged, to participate in the perceived authenticity of the ›working class‹, while at the same time post-industrial elements with a younger, partly female audience found their way into the Working Men’s Clubs.
Dieser Aufsatz erklärt die enorme Resonanz von Günter Wallraffs Bestseller »Ganz unten« (Erstausgabe 1985) mit den emotionalen Bedürfnissen und der soziokulturellen Verfasstheit der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft. Das Buch artikulierte soziale Abstiegsängste während einer wirtschaftlichen Strukturkrise mit hoher Arbeitslosigkeit. Es präsentierte eine binäre Weltsicht, die die expressive Emotionskultur der 1980er-Jahre reflektierte. Die nahezu apokalyptische Darstellung der westdeutschen Industriegesellschaft und ihres menschenverachtenden Umgangs mit migrantischen (Leih-)Arbeitern stand im Einklang mit der Weltsicht eines wachsenden grün-alternativen Milieus. Im Gegensatz zur populären Erinnerung war das Buch jedoch kein Wendepunkt in der öffentlichen Repräsentation der türkischen »Gastarbeiter«, für deren Erfahrungen Wallraff nach seiner Undercover-Recherche als »Ali« zu sprechen schien. Vielmehr verdeutlichte »Ganz unten« massive Defizite im Umgang mit Differenz in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1980er-Jahre, gerade auch auf der Linken. Nicht Wallraffs Buch, sondern die damalige, bisher vernachlässigte deutsch-türkische Kritik daran markiert eine historisch signifikante antirassistische Traditionslinie, die bis in die Gegenwart reicht.
This article analyses the enormous popularity of Günter Wallraff’s bestseller Ganz unten (first German edition 1985). It argues that the book’s success resulted primarily from the emotional needs and sociocultural conditions within West German majority society. The book articulated fears of social decline during an economic structural crisis with high unemployment. It presented a binary worldview that reflected the expressive emotional regime of the 1980s. The almost apocalyptic depiction of West German industrial society and its inhumane treatment of migrant (temporary) workers coincided with the worldview of a growing green-alternative milieu. Contrary to popular memory, however, the book was not a turning point in the public representation of Turkish ›guest workers‹, whose experience Wallraff claimed to speak for after his undercover research as ›Ali‹. Rather, Ganz unten highlighted massive deficits in dealing with difference in 1980s West German society, especially on the left. It is not Wallraff’s book, but the hitherto largely neglected German-Turkish critique of it that establishes a historically significant anti-racist tradition.
Angesichts heutiger Debatten über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sowie über die Frage, wer in der Öffentlichkeit sicht- und hörbar werden sollte, ist »Epistemology of the Closet« brandaktuell. Immer öfter beschweren sich alte, heterosexuelle und weiße Cis-Männer darüber, dass sie angeblich nichts mehr sagen dürften. Im Zeichen einer neuen Identitätspolitik, so die Sorge, beschäftige sich eine Vielzahl kleiner Gruppen mit ihren je eigenen Anliegen, aber niemand habe mehr das große Ganze, den gesellschaftlichen Zusammenhang im Blick. Dabei geht es doch eher darum, dass die Beschwerdeführer nicht mehr so selbstherrlich wie noch vor 30 Jahren für die Allgemeinheit sprechen und die Diskurshoheit für sich beanspruchen können. Das Buch »Epistemology of the Closet« steht am Anfang dieser Entwicklung. Es handelt von der Sichtbarmachung des lange verheimlichten gleichgeschlechtlichen Begehrens und nimmt der heterosexuellen Dominanz ihre Unschuld, markiert sie als eine Struktur der Unterdrückung. Gleichzeitig enthält das Buch aber auch Zweifel an allzu festgefahrenen Vorstellungen von individueller und kollektiver Identität. Es begründet also das, was man heutzutage als Identitätspolitik bezeichnet, und unterläuft es zugleich.
Bei seiner Erstveröffentlichung stieß Michele Wallaces Buch »Black Macho and the Myth of the Superwoman« auf ein geteiltes Echo. Während Vertreterinnen der Frauenbewegung den Text als Markstein der (afroamerikanischen) feministischen Literatur feierten, als der er auch heute noch betrachtet wird, schallte der Autorin aus anderen Teilen der Öffentlichkeit vor allem Kritik entgegen. In »Black Macho« setzte sich Wallace provokant mit dem geschlechterpolitischen Erbe der Bürgerrechtsbewegung auseinander. Vor allem die Black-Power-Bewegung habe ein Ideal schwarzer Hypermaskulinität hervorgebracht, das afroamerikanische Männer in ihren Entwicklungspotentialen beschränke und schwarze Frauen dauerhaft in traditionellen Rollen an den Rändern einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung gefangen halte. Wallace interessierte sich besonders für die intersektionalen Verflechtungen von Race, Class und Gender, die afroamerikanische Frauen und Männer auf unterschiedliche Art und Weise marginalisierten. Ihr Buch war zugleich eine Abrechnung mit der US-amerikanischen Gesellschaft, in deren Selbstverständnis, so Wallace, Rassismus und Sexismus seit der Kolonialzeit fest verankert waren und die People of Color seit Jahrhunderten strukturell benachteiligte.