1945-
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Annette Vowinckel ist Leiterin der Abteilung Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaft am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und außerplanmäßige Professorin im Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im von Janaina Ferreira dos Santos und Iulia Sucutardean geführten multimedialen Interview für das Online-Portal „Visual History“ (visual-history.de) stellt die Historikerin ihr neues Buchprojekt Zentralbild, Photo International and the Visual Politics of Late State Socialism vor, geht auf die Methoden ihrer Quellenarbeit ein und betont, wie digitale Tools die Arbeit von Historiker:innen in vielerlei Hinsicht vereinfachen können.
Fürsorgediktatur
(2023)
Neu in einer aktualisierten Version 2.0: In seinem Artikel erörtert Konrad H. Jarausch den Neologismus „Fürsorgediktatur“, ein Spannungsbegriff, der den widersprüchlichen Charakter der DDR vor allem unter Honecker auf einen präzisen Nenner bringen sollte. Mit dem Gedanken entworfen, die festgefahrene Auseinandersetzung um die Geschichtspolitik anzustoßen und eine analytische Debatte zu beginnen, beschreibt Jarausch Kritiken und Interpretationsmöglichkeiten des Begriffs.
Die DDR verstand die gesellschaftliche Rehabilitation von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen als sozialstaatliche Aufgabe. Während die Integration in die Arbeitswelt vergleichsweise gut erforscht ist, sind zu den Bereichen Wohnen und Mobilität noch viele Fragen offen. Welche Maßnahmen ergriff der Staat, um körperlich eingeschränkte Menschen in diesen Bereichen zu fördern? Welche Rolle spielten hierbei Kreisärzte und Stadtarchitekten? Welche Ergebnisse wurden in der Praxis erzielt? Erkennbar war vor allem seit Mitte der 1970er-Jahre das staatliche Bemühen, den Betroffenen mit Hilfsmitteln und Baumaßnahmen die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Doch die begrenzten Ressourcen und die planwirtschaftlichen Strukturen des SED-Staates erschwerten dies. Zudem konnte der Abbau materieller Hürden neue Barrieren hervorrufen – etwa in Fußgängerzonen. Betroffene entwickelten deshalb eigene, durchaus erfolgreiche Initiativen. Anhand von Beispielen aus Karl-Marx-Stadt, Halle an der Saale und Greifswald bietet der Aufsatz Einblicke in einen Alltag von Menschen mit Behinderungen, der von Ambivalenzen und Handlungsspielräumen ebenso geprägt war wie von Beschränkungen seitens staatlicher Stellen.
Der Beitrag untersucht den Wandel der Freizeit- und Kurinfrastruktur für behinderte Menschen und ihre Angehörigen in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz. In der Bundesrepublik und in der DDR waren diese Maßnahmen sehr unterschiedlich organisiert und an die jeweiligen Familienideale angelehnt. Während das westdeutsche Müttergenesungswerk seit den 1950er-Jahren Sonderkuren für besonders belastete Hausfrauen anbot, blieben staatliche Freizeiten in der DDR zunächst Werktätigen vorbehalten. Gerade für Mütter behinderter Kinder ließ die DDR-Staatsführung der Diakonie eine Nische. Trotz solcher divergierenden Trägerstrukturen verlief der Wandel ost- und westdeutscher Angebote in ähnlichen Phasen. Im Westen war es der Contergan-Skandal Anfang der 1960er-Jahre, der eine stärkere Aufmerksamkeit auf die betroffenen Familien lenkte. Der Ausbau von Erholungsangeboten setzte sich auch »nach dem Boom« fort. Im Osten erkannte die SED-Führung ab den 1960er-Jahren die Versorgung der Angehörigen behinderter Menschen als Staatsaufgabe an und intensivierte ihr Engagement auch auf Druck von Eingaben Betroffener. Auffällig ist für beide deutsche Staaten, dass Väter lange Zeit eher abwesend blieben. Eine andere Gemeinsamkeit waren die fortbestehenden Barrieren an vielen Urlaubsorten.
Eine besondere Chance, bottom-up-Einblicke in die Alltagsgeschichte von Menschen mit Behinderungen in der DDR und ihre Agency zu erhalten, bieten Eingaben: Bitt- und Beschwerdebriefe, die die Bürger:innen der DDR zu Hunderttausenden jährlich an staatliche Organe richteten, um Probleme im Alltagsleben und Konflikte mit Staat und Verwaltung zu lösen. Zunächst werden in diesem Beitrag die Besonderheiten solcher Eingaben in der DDR skizziert. Sodann wird erörtert, inwiefern die Analyse der Eingaben von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen eine wertvolle Perspektive auf ihr Alltagsleben und ihre Interaktionen mit Staat und Expert:innen ermöglicht und wo dabei Grenzen der Aussagekraft liegen. Dies wird anhand von Einzelfällen exemplarisch veranschaulicht.
Am 5. August 1974, gegen 20 Uhr am Montagabend, rief ein erboster Zuschauer im Mainzer Sendezentrum des ZDF an. Die laufende Sendung sei eine »Zumutung«, er wolle im Feierabend ein »Programm zur Entspannung«. Gedankliches Abschalten ließ die zweite Episode der monatlich ausgestrahlten, siebenteiligen Reihe »Unser Walter – Spielserie über ein Sorgenkind« offenbar nicht zu. Die Serie porträtierte Walter Zabel, einen Jugendlichen mit Trisomie 21. Derart ablehnende Reaktionen waren aber in der Minderzahl. Nach der Ausstrahlung jedes Teils notierte der ZDF-Telefondienst auf dem Mainzer Lerchenberg stets mehr mitfühlende und interessierte als kritische Rückmeldungen und »Schimpfereien«. Die ZuschauerInnen bekundeten nicht nur ihr Entsetzen über die alltäglichen Ausgrenzungen, denen die Familie Zabel begegnete. Sie befürworteten das Ziel der Serie, in »unserer grausamen Gesellschaft Verständnis für solche Kinder zu wecken«. Andere wollten betroffenen Eltern gar selbst Hinweise über spezielle Anlaufstellen geben, und auch behinderte Menschen griffen zum Telefon, um mit ihren Erfahrungen die fiktionale Handlung zu ergänzen. Nicht zuletzt fragten Eltern von Kindern mit Trisomie 21 nach AnsprechpartnerInnen, beispielsweise nach der Anschrift der in der Sendung genannten Bundesarbeitsgemeinschaft »Hilfe für Behinderte«, einem Dachverband von Organisationen von und für behinderte Menschen (heute: BAG Selbsthilfe). Diese Reaktionen des Fernsehpublikums zeigen, wie sehr sich die Darstellungskonventionen und auch die Wahrnehmungsweisen von Behinderungen in den frühen 1970er-Jahren im Umbruch befanden.
Joseph Weizenbaum (1923–2008), in Berlin geboren, war durch die Nazis gezwungen, mit seiner jüdischen Familie aus Deutschland zu fliehen. Am MIT in Boston wurde er seit den 1960er-Jahren ein renommierter KI-Forscher. Er ist bis heute nicht nur als ein Pionier der Forschung zur Künstlichen Intelligenz anerkannt, sondern vor allem als ein streitbarer Kritiker der Computerkultur. Sein Buch »Computer Power and Human Reason. From Judgement to Calculation« ist ein Klassiker der Technik- und Wissenschaftskritik, ja der Kritik an der technischen und naturwissenschaftlichen Moderne überhaupt. Es ist aber besonders der Titel der deutschen Ausgabe, der mit seiner Dichotomisierung von Macht und Ohnmacht, Computer und Vernunft die These des selbsterklärten »Dissidenten« oder »Ketzers« der Informatik eingängig auf den Punkt bringt. Und das Zitat auf der Umschlagrückseite verortet das Buch auch gleich im Feld der Kritischen Theorie Max Horkheimers, auf den Weizenbaum sich explizit bezieht: »Ich bekämpfe den Imperialismus der instrumentellen Vernunft, nicht die Vernunft an sich.«
Ausgehend von Theodor W. Adornos Auffassung, dass Kunst sprechen lasse, »was die Ideologie verbirgt«, werden im vorliegenden Beitrag in der DDR entstandene künstlerische Landschaftsdarstellungen als mediale Beglaubigungen eines gleichermaßen realen wie teleologisch verstandenen Sozialismus in den Blick genommen. In der DDR spielte Landschaft und ihre mediale wie ästhetische Repräsentation eines Zusammenhangs aus Natur, Kultur, Interpretation, Leben und Arbeit eine zentrale Rolle. Denn mit Landschaftsdarstellungen lässt sich der »authentische« Lebensstil einer Gesellschaft verräumlichen und ermöglicht so historische Aufschlüsse sowohl über Authentisierungsstrategien des Sozialismus als auch über die problematische Referentialität des Authentischen, einschließlich seiner Bedeutung in der politischen Kommunikation. Der Vergleich von DDR-Landschaftsdarstellungen unterschiedlicher Dekaden zeigt darüber hinaus verschiedene Strategien der Verzeitlichung des Raumes. Dies wird hier exemplarisch an zwei Filmen und einem Gemälde über Montanlandschaften untersucht: dem Spielfilm »Sonnensucher« (1958) von Konrad Wolf und der Serie »Columbus 64« (1966) von Ulrich Thein sowie dem Gemälde »Hinter den sieben Bergen« (1973) von Wolfgang Mattheuer.
Der Beitrag untersucht, inwiefern dem Comic aufgrund seiner medienspezifischen Merkmale das Potenzial für eine authentische Darstellung der Vergangenheit zugeschrieben bzw. abgesprochen wurde. Im Mittelpunkt der Analyse stehen in Deutschland zwischen 1965 und 2015 veröffentlichte Geschichtscomics über den Ersten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund einer in der Geschichtsdidaktik entwickelten Typologie von (historischer) Authentizität im Comic werden die dort angewandten Authentisierungs- und Beglaubigungsstrategien untersucht. Besondere Bedeutung kommt dabei der seit den 1970er Jahren anzutreffenden Auffassung zu, der Erwachsenen- bzw. Autor*innencomic sei ein besonders geeignetes Ausdrucksmittel des authentischen Selbst und verfüge gerade über die deutliche Ausstellung der subjektiven Sicht der Verfasser*in auf die Vergangenheit über besondere Authentizität.
Die TV-Serie »Holocaust« hat die deutsche Erinnerungskultur maßgeblich geprägt. Dabei war die Serie umstritten, unter anderem wegen ihres fiktionalen Charakters und wegen teilweise ahistorischer Stellen. »Wenn die nicht mal das richtig machen, dann stimmt auch alles andere nicht«, lautete ein Vorwurf an die amerikanischen Serienmacher. Das deutsche Fernsehen antwortete auf »Holocaust« mit Projekten, die eine besondere Form von Authentizität für sich reklamierten: Verfilmungen nach einer wahren Begebenheit, für deren Authentizität Zeitzeug*innen bürgten. Die TV-Serie »Ein Stück Himmel« war die größte Antwort auf »Holocaust« Anfang der 1980er Jahre. Sie erzählt das Überleben des jüdischen Mädchens Janina David. Der Aufsatz schildert, inwiefern Adaptionen zulasten von Authentizität gehen. Das TV-Team stand vor großen Herausforderungen, eine ansprechende Form von seriellem Erzählen mit Authentizität in Einklang zu bringen. Entsprechend gab es am Set heftige Kontroversen. Deutlich wird: Authentizität ist ein skalierbarer Wertbegriff. Er basiert auf verschiedenen Zuschreibungen, mit denen Akteur*innen ihre unterschiedlichen Interessen zur Realisierung oder Vermarktung der Serie argumentativ aufladen.