1980er
»Dr. Jekyll und Mr. Hyde«?. Robert Jay Liftons Psychohistorie »Ärzte im Dritten Reich« (1986/88)
(2020)
Bereits während des Zweiten Weltkrieges erstellten Psychiater im Auftrag des amerikanischen Nachrichtendienstes OSS Ferndiagnosen zu Adolf Hitlers Persönlichkeit. Mit dem Sieg über Deutschland und der Gefangennahme seiner Führungsriege eröffnete sich Medizinern nach 1945 die für sie faszinierende Möglichkeit, die Initiatoren der Judenverfolgung wie Hermann Göring aus nächster Nähe zu studieren. Im Zentrum diverser Untersuchungen im Zellentrakt des Nürnberger Justizpalasts stand dabei die Frage, ob sich die Verantwortlichen für den Tod von Millionen Menschen durch eine abnorme Psyche auszeichneten.
Vier Dekaden später erschien mit Robert Jay Liftons Monographie »The Nazi Doctors« 1986 eine international vielbeachtete Studie, die die Frage nach den mentalen Dispositionen von Ärzten, die in nationalsozialistischen Vernichtungsstätten Verbrechen begangen hatten, entschieden ins Zentrum rückte. Lifton, 1926 in New York geboren, hatte in den 1950er-Jahren als Nervenarzt für die United States Air Force in Japan und Korea gearbeitet. Seitdem widmete er sich dem Thema Genozid und studierte den Umgang von Überlebenden mit erlittenen Kriegsgräueln. Dieses Mal fokussierte Lifton allerdings auf die Gewalttäter. Dazu nutzte er Methoden der Psychohistorie, deren Möglichkeiten und Grenzen Historiker/innen in der Bundesrepublik seinerzeit kontrovers diskutierten.
This article reassesses the emergence of human rights advocacy in 1970s West Germany from the perspective of memory politics. Focusing on the campaigns against political violence in South America, the article first traces the boom and bust of antifascist activism against the Chilean junta in the early 1970s. It then analyzes the displacement of abstract antifascist discourses by a more humanitarian human rights talk closely intertwined with concrete references to National Socialist crimes. Taking the perspective of grassroots advocates, this article explores how and why activists referenced the crimes of Nazism to defend human rights in the present. Finally, the article moves beyond the claim that human rights politics were minimalistic and even anti-antifascist, by showing how some human rights activists continued to think of themselves as antifascists. They infused antifascism with entirely new meanings by recovering the 20 July 1944 assassination attempt against Hitler as an acceptable example of anti-government violence.
In den Meisternarrativen der deutschen Zeitgeschichte spielt die Jugend als Vorhut kultureller und politischer Entwicklungen eine bedeutende Rolle. Neuere Gesamtdarstellungen des 20. Jahrhunderts differenzieren jugendliche Subkulturen, Konsumgewohnheiten, Bildungswege und politische Lager ausführlich. Die historische Entwicklung wird in diesen Erzählungen vorangetrieben durch die rechtsnationalen und antisemitischen Studenten der Weimarer Zeit, die jungen Funktionäre und Soldaten des Nationalsozialismus, die sich dem Westen zuwendenden jungen »Fünfundvierziger«-Eliten der 1950er- und 1960er-Jahre sowie schließlich die revoltierenden Jugendlichen von »1968«. Oft sind solche Narrative mit einem Generationenmodell verknüpft, das in Anlehnung an Karl Mannheim die Jugend als formative Phase und treibende Kraft historischer Veränderung versteht und diese vorwiegend als männlich und intellektuell definiert. Historiker/innen definieren damit Jüngere als den geschichtlichen Akteur »Jugend« und investieren stark in die Binnendifferenzierung dieser Gruppe.
Destination Vergangenheit. David Lowenthals Panorama geschichtskultureller Aneignungen (1985/2015)
(2021)
»The Past is a Foreign Country« ist ein Zentralmassiv der Heritage Studies, der Cultural and Historical Geography und der Public History. Das 1985 erschienene Buch nimmt populäre Zugänge und Formen der Bewahrung und Repräsentation der Vergangenheit in den Blick; dabei spannt es den Bogen von der Gegenwart bis zurück in die Renaissance. Lowenthal zitiert mit seinem Titel den britischen Schriftsteller Leslie Poles (L.P.) Hartley (1895–1972), der seinen Roman »The Go-Between« (1953) mit den Worten begann: »The past is a foreign country; they do things differently there.« Schon die Umschlagbilder legen eine Reise in ferne Vergangenheiten nahe und wecken zugleich den mit dem (Geschichts-)Tourismus verbundenen Exotismus, der aus dem Fremden ebenso wie aus dem Vergangenen das unberührt-unverfälscht Natürliche und Authentische macht. Die Destinationen, die Lowenthal bei seiner Reise in vergangene Geschichtskulturen aufsuchte, lagen vor allem im Vereinigten Königreich, in Nordamerika und im westlichen Europa. Das Buch durchzieht die These, dass alle populären Versuche, die Vergangenheit möglichst authentisch zu bewahren, zu rekonstruieren, darzustellen oder wahrzunehmen, auf die eine oder andere Weise zum Scheitern verurteilt sind, dass sich aber gerade aus der Formbarkeit der Vergangenheit ihre identitätsbildende Kraft erschließt.
Anhand von über 100 tschechischen und slowakischen Elternratgebern fragt der Aufsatz nach der Einbindung von Erziehungsnormen in Prozesse der Werte- und Gemeinschaftskonstruktion sowie nach der gesellschaftspolitischen Rolle von ExpertInnen. Die Analyse macht deutlich, dass Inhalte und Formen der Ratgeber nicht immer spezifisch sozialistisch waren. Vielmehr können die vermittelten Normen, die geschilderten Probleme und die vorgeschlagenen Lösungen auch in einen gesamteuropäischen oder globalen Zusammenhang moderner Industriegesellschaften eingeordnet werden. Für die 1950er-Jahre ist dabei eine Mischung aus sozialistischer Aufbaurhetorik und bürgerlich anmutenden Familienidealen markant. Der revolutionäre Ehrgeiz der tschechoslowakischen Politik nach 1948 ist in Elternratgebern nur sehr bedingt wiederzufinden. Für die 1960er-Jahre ist eine Psychologisierung der Kindheit zu beobachten, welche Erziehungsfragen in kritische gesellschaftspolitische Perspektiven einordnete (Mangel an Zeit und Zuwendung für Kinder, einseitig technokratische Medizin etc.). Diese Betrachtungsweise wurde in der »Normalisierungszeit« nach 1968 weitergeführt. Zugleich stiegen die Ansprüche an Elternschaft und Erziehung. Damit wurden Elternratgeber zu Instrumenten der Normen- und Konsensbildung, Disziplinierung und Subjektformung im späten Sozialismus.
»Du sollst Solidarität mit den um nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.« So lautet das letzte der 1958 von Walter Ulbricht verkündeten »Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik« (auch: »Zehn Gebote für den neuen sozialistischen Menschen«), die von 1963 bis 1976 Teil des SED-Parteiprogramms waren.1 Die sozialistische Variante der christlichen Zehn Gebote findet sich häufig auf der ersten Seite von »Brigadetagebüchern«, die Beschäftigtenkollektive in der DDR und in anderen staatssozialistischen Ländern verfassten. Über die Grenzen der DDR hinaus stellten auch »Freundschaftsbrigaden« der Freien Deutschen Jugend (FDJ) solche Brigadetagebücher zusammen, um ihre Aufenthalte in Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu dokumentieren. Diese Quellen geben einen wertvollen Einblick in die sozialistische Globalisierung und deren Alltagspraktiken.
»Poverty and Famines« gilt auch heute noch als eines der einflussreichsten Bücher zum Thema Hunger überhaupt. Die Debatte um seine Ergebnisse hält bis in die Gegenwart an, auch wenn sie am schärfsten in den 1980er- und 1990er-Jahren geführt wurde. In dem schmalen Band versuchte der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen 1981 nichts Geringeres als ein neues Erklärungsmodell für die Entstehung von Hungersnöten zu entwickeln. Sens Interesse am Hunger als wirtschaftswissenschaftlichem Thema kann aus dem zeithistorischen Kontext erklärt werden, wenn man die unterschiedlichen Diskussionszusammenhänge herausarbeitet, zu denen er mit seinem Buch Stellung bezog. Gleichzeitig erweist sich nicht zuletzt in der Corona-Pandemie, wie aktuell Sens Ansatz bis heute ist.
Dieser Aufsatz erklärt die enorme Resonanz von Günter Wallraffs Bestseller »Ganz unten« (Erstausgabe 1985) mit den emotionalen Bedürfnissen und der soziokulturellen Verfasstheit der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft. Das Buch artikulierte soziale Abstiegsängste während einer wirtschaftlichen Strukturkrise mit hoher Arbeitslosigkeit. Es präsentierte eine binäre Weltsicht, die die expressive Emotionskultur der 1980er-Jahre reflektierte. Die nahezu apokalyptische Darstellung der westdeutschen Industriegesellschaft und ihres menschenverachtenden Umgangs mit migrantischen (Leih-)Arbeitern stand im Einklang mit der Weltsicht eines wachsenden grün-alternativen Milieus. Im Gegensatz zur populären Erinnerung war das Buch jedoch kein Wendepunkt in der öffentlichen Repräsentation der türkischen »Gastarbeiter«, für deren Erfahrungen Wallraff nach seiner Undercover-Recherche als »Ali« zu sprechen schien. Vielmehr verdeutlichte »Ganz unten« massive Defizite im Umgang mit Differenz in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1980er-Jahre, gerade auch auf der Linken. Nicht Wallraffs Buch, sondern die damalige, bisher vernachlässigte deutsch-türkische Kritik daran markiert eine historisch signifikante antirassistische Traditionslinie, die bis in die Gegenwart reicht.
This article analyses the enormous popularity of Günter Wallraff’s bestseller Ganz unten (first German edition 1985). It argues that the book’s success resulted primarily from the emotional needs and sociocultural conditions within West German majority society. The book articulated fears of social decline during an economic structural crisis with high unemployment. It presented a binary worldview that reflected the expressive emotional regime of the 1980s. The almost apocalyptic depiction of West German industrial society and its inhumane treatment of migrant (temporary) workers coincided with the worldview of a growing green-alternative milieu. Contrary to popular memory, however, the book was not a turning point in the public representation of Turkish ›guest workers‹, whose experience Wallraff claimed to speak for after his undercover research as ›Ali‹. Rather, Ganz unten highlighted massive deficits in dealing with difference in 1980s West German society, especially on the left. It is not Wallraff’s book, but the hitherto largely neglected German-Turkish critique of it that establishes a historically significant anti-racist tradition.
In der Diskussion um den Strukturwandel der 1970er- und 1980er-Jahre haben musikkulturelle Vergemeinschaftungen bisher kaum eine Rolle gespielt. Der Aufsatz analysiert den Wandel von Klassenzuschreibungen an der Schnittstelle von Gesellschafts- und Musikgeschichte über einen regionalen und räumlichen Zugriff. Dazu werden die Working Men’s Clubs im englischen Nordosten mit ihrer Verknüpfung von Arbeiterkultur und jugendkultureller Individualisierung während der »New Wave of British Heavy Metal« (NWOBHM) als Orte eines gesellschaftlichen Aufbruchs interpretiert. Wie gestaltete sich dort der Übergang von strukturellen zu kulturellen Klassenbeziehungen, und welche Folgen hatte dies für die weitere Entwicklung der Heavy-Metal-Kultur? Die Anbindung der NWOBHM an die Arbeiterklasse ermöglichte es einer entstehenden »neuen Mittelschicht«, zu der die Musiker häufig selbst gehörten, an der empfundenen Authentizität der »Working Class« zu partizipieren, während gleichzeitig postindustrielle Elemente mit einem jüngeren, auch weiblichen Publikum Einzug in die Working Men’s Clubs hielten.
In the discussion about the structural transformation of the 1970s and 1980s, the formation of musical/cultural communities has been largely ignored. The article analyses the shift in class attributions at the interface of social and music history via a regional and spatial approach. To this end, the Working Men’s Clubs in the English Northeast and their combination of working-class culture and individualisation in terms of youth culture during the New Wave of British Heavy Metal (NWOBHM) are interpreted as sites of social awakening. How did the transition from structural to cultural class relations manifest itself in the clubs, and what consequences did this have for the further development of heavy metal culture? The NWOBHM’s affiliation with the working classes enabled an emerging ›new middle class‹, to which the musicians themselves often belonged, to participate in the perceived authenticity of the ›working class‹, while at the same time post-industrial elements with a younger, partly female audience found their way into the Working Men’s Clubs.
Wirft man einen Blick in die Aids-Plakatsammlung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden oder in die Bestände zu diesem Thema im Deutschen Plakat Museum im Museum Folkwang in Essen, so findet man etwa dies: Eine Trans-Person mit rotgeschminkten Lippen und farbenprächtig schattierten Augenlidern blickt ernst und fordernd in die Kamera. »DON’T STOP PASSION, STOP AIDS«, steht in Versalien über dem Porträt geschrieben, das eine Plakatkampagne ziert, die vom Ministerium für Gesundheit in Luxemburg 1996 in Auftrag gegeben wurde. »Strength comes from being safe«, ist auf einem anderen Plakat von 1994 aus Neuseeland zu lesen, auf dem sich zwei junge Maori sinnlich in weißen Laken räkeln. Wieder ein anderes Plakat, das 1986 von der Gesundheitsaufklärungsorganisation HERO in Baltimore herausgegeben wurde, zeigt zwei muskulöse Männer in Unterhemden, deren Körperhaltung zwischen Posing und Striptease changiert. »You won’t believe what we like to wear in bed«, ist darauf zu lesen. Die Botschaft dieser drei Plakate ist angesichts der Slogans, des konkreten Imperativs im Plakattext (»Use Condoms«) oder des logoähnlich platzierten Kondoms am unteren rechten Plakatrand unmissverständlich: »Benutzt Kondome, sie schützen vor Aids«. Damit können die Plakate als Beispiele für eine Präventionsstrategie gelesen werden, die in vielen Ländern seit Mitte der 1980er-Jahre dominierte. Das Ziel lautete, über Infektionswege aufzuklären und für ein Verhalten zu werben, das vor Ansteckung schützen sollte. Dieser Konsens, auch »liberale AIDS-Politik« genannt, setzte verstärkt auf Eigenverantwortlichkeit; der Fokus lag vor allem auf Botschaften wie safer sex und safer use.