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Als die im April 2006 mit 89 Jahren verstorbene Stadtforscherin Jane Jacobs im Oktober 2004 für einen letzten Vortrag in ihre ehemalige Heimatstadt New York zurückkehrte, bereitete ihr das Publikum einen großen Empfang. Fast die gesamte Urbanisten- und Planungsprominenz der Stadt war erschienen und feierte die 1968 nach Kanada ausgewanderte „Grande Dame“ der nordamerikanischen Stadtforschung mit stehenden Ovationen. Einer Einladung des New Yorker City Colleges folgend, war sie gekommen, um die Auftaktrede für eine neue Vorlesungsreihe zu Ehren Lewis Mumfords zu halten, der an dem besagten College im Norden Manhattans studiert hatte. Es war, als schlösse sich ein Kreis: Jacobs’ Karriere hatte 1961 mit der Publikation ihres Erstlingswerks „Death and Life of Great American Cities“ in New York ihren Anfang genommen; der Inhalt dieses Buchs verwickelte sie dann in einen Jahre andauernden Streit mit Mumford. Am Ende ihres Schaffens angelangt, entschied sie sich als erste Referentin der zu Mumfords Ehren eingerichteten Vorlesungsreihe, in New York ihren alten Gegenspieler zu würdigen. Bedeutungsschwer war Jacobs’ Auftritt aber auch deshalb, weil er zum Ausdruck brachte, wie sehr sich das Verhältnis zwischen der Planungskritikerin Jacobs und der planenden Zunft in den USA über die Jahrzehnte geändert hatte. Zu Beginn ihrer Karriere wegen ihrer mangelnden akademischen Ausbildung in der von Männern dominierten Profession noch als „Hausfrau“ belächelt, stieg Jacobs innerhalb weniger Jahre zu einer der meistbeachteten Persönlichkeiten der amerikanischen Stadtforschung auf. Jacobs’ Bedeutung als Kritikerin modernistischer Planungsexzesse und Mitbegründerin eines neuen Verständnisses städtischer Entwicklung und Planung ist Grund genug, sich ihres ersten und wohl wichtigsten Werks erneut zu widmen - dem Essay „Death and Life of Great American Cities“, der in einem deutschen Nachruf auf Jacobs als „urbanistische Bibel des späten 20. Jahrhunderts“ bezeichnet wurde.
Die Geschichte von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemals deutschen Ostgebieten sowie aus Ostmittel- und Osteuropa ist seit den 1990er-Jahren wieder zu einem bedeutenden Thema der breiteren Öffentlichkeit geworden. Dies zeigen verschiedene Publikationen, Fernsehfilme und nicht zuletzt die Debatte um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“. Die Hinwendung der Öffentlichkeit zu diesem Thema war von einem Perspektivwechsel in der Geschichtswissenschaft begleitet. Auch hier fand und findet das Thema ein verstärktes Interesse, das sich in zahlreichen Tagungen und oftmals vergleichenden fachwissenschaftlichen Publikationen niederschlägt.
Jenseits von Zeit und Raum. Flugreisewerbung in den USA und Westdeutschland während der 1970er-Jahre
(2017)
»Getaway. To places you always wanted to see but never thought you could«, lautete die Überschrift einer Werbekampagne der amerikanischen Fluggesellschaft Trans World Airlines (TWA) im Jahr 1971. In großformatigen, mit Farbfiltern hervorgehobenen Bildern von Sehenswürdigkeiten wie dem britischen Parlamentsgebäude in London, dem amerikanischen Grand Canyon oder dem Taj-Mahal-Mausoleum im indischen Agra bewarb sie Reiseziele auf verschiedenen Kontinenten.
Seit einigen Jahren lässt sich in der Historiographie ein gesteigertes Interesse an der Geschichte von Luft- und Raumfahrt beobachten, das sich auch in Museumsaktivitäten und Ausstellungsprojekten niederschlägt. Zugleich erlebt die Beschäftigung mit dem Thema „Imperium“ einen Aufschwung, insbesondere das Interesse an den USA als imperialer Macht. Die folgende Besprechung der Dauerausstellung des National Air and Space Museum (NASM) bringt beide Untersuchungsfelder zusammen und legt die Untersuchungskategorie „Imperium“ an die Musealisierung von Luft- und Raumfahrt an. Dabei werden zunächst die Sammelschwerpunkte des Museums sowie die Charakteristika der Präsentation betrachtet; in einem zweiten Schritt werden verschiedene Themenfelder der Ausstellung diskutiert, bevor abschließend die Bedeutung des NASM als imperial museum ausgelotet wird, in dem sich der amerikanische Aufstieg zur Weltmacht widerspiegelt.
Vom Wort „Imperium“ geht eine archaische Faszination aus. Es weckt Assoziationen von herrscherlicher Willkür und roher militärischer Gewalt, von oberster Autorität, die keine Gleichberechtigten anerkennt, von kommandierender Verfügung über riesige Räume, schließlich über den Erdball an sich. Das Bildgedächtnis wartet mit Spektakulärem auf: der Brutalität des Nebukadnezar, der Dynamik Alexanders, Peter Ustinovs Kaiser Nero, Chaplins Großem Diktator im Ballett mit dem Globus, Eroberungsschlachten seit Cortez’ Vormarsch gegen die Azteken, Rückzugsgefechten bis Algier 1958 und Saigon 1975. Im Imperium kristallisiert sich der höchste Anspruch auf monopolisierte Macht. Allein aus Gründen symbolischer Politik musste daher jeder US-Präsident nach dem Zusammenbruch des strategischen Gleichgewichts der Supermächte eine imperiale Rhetorik und einen imperialen Gestus annehmen (was George W. Bush in besonders ausgeprägter Weise getan hat).
Eine Betrachtung von Berufungen unter der Kategorie Geschlecht eignet sich in besonderem Masse dazu, gleichsam wie in einem Vergrösserungsspiegel, die soziale Bedingtheit von Berufungen aufzuzeigen. Diese werden bis heute von den an Berufungsverfahren Beteiligten wenig oder gar nicht reflektiert, besteht doch die unhinterfragte illusio[1] des akademischen Feldes darin, nach dem vermeintlich harten Kriterium der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit ›die besten Köpfe‹ zu berufen. Bislang gibt es für das 19. und 20. Jahrhundert, d.h. die Phase der sogenannten modernen Universität, keine historische, quellenbasierte Untersuchung zur inhaltlichen Ausgestaltung und zum Wandel von Berufungskriterien. Bisher ist auch das Verhältnis von Berufung und Geschlecht in historischer Längsschnittperspektive nicht systematisch untersucht worden.
Der folgende Beitrag erschien erstmals im Jahr 2012 in der Publikation „Professorinnen und Professoren gewinnen. Zur Geschichte des Berufungswesens an den Universitäten Mitteleuropas“, die von Christian Hesse und Rainer Christoph Schwinges herausgegeben wurde. Mit freundlicher Erlaubnis der Autorin Sylvia Paletschek veröffentlicht zeitgeschichte|online die Einleitung des Aufsatzes. Eine vollständige Version findet sich auf dem freien Dokumentenserver FreiDoks plus, ein Angebot der Universitätsbibliothek der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und im Material zu diesem Beitrag.
Cemal Kemal Altun nahm sich am 30. August 1983 durch einen Sprung aus dem sechsten Stock des Berliner Verwaltungsgerichts das Leben. Damit wollte er seiner Abschiebung in die Türkei und der dort drohenden Folter entgehen. Dreizehn Monate Auslieferungshaft und ein zermürbendes Rechtsverfahren machten den »Fall Altun« zum Symbol der Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit bundesdeutscher Ausweisungspraxis. Der Hohe Kommissar für Flüchtlingsfragen der Vereinten Nationen ermahnte die deutschen Behörden, ihre inhumane Behandlung von Migrant*innen zu beenden. Der Europarat protestierte, und die Europäische Kommission für Menschenrechte in Straßburg wurde hinzugezogen. In der Bundesrepublik traten Aktivist*innen in Hungerstreik, und etwa 10.000 Menschen setzten ein Zeichen, als sie Altuns Leichenzug durch West-Berlin in einen Protestmarsch verwandelten. Anti-Abschiebe-Proteste nahmen zu und institutionalisierten sich Mitte der 1980er-Jahre in Form von Kirchenasyl, Flüchtlingsräten, Pro Asyl, Fluchtburg-Bewegung, migrantischer Selbstorganisation und antirassistischen Initiativen.
Viele amerikanische Präsidenten haben ihre Amtszeit unter ein prägnantes Motto gesetzt. John F. Kennedys Leitmotiv, die „New Frontier“, hat sich tief in das amerikanische Gedächtnis eingegraben. Es wurde zum Schlüsselbegriff für die Ziele seiner nur rund 1.000 Tage währenden Präsidentschaft; für jene Zeit, die in den Augen vieler Zeitgenossen das Ende der langen Nachkriegsjahre verkörperte. Mit jugendlichem Elan und Charisma sowie einem informell-charmanten, medienwirksamen Politikstil stand „JFK“ für ein neues Amerika. Bei der „New Frontier“ ging es somit weniger um neue Grenzen als um das grenzenlos Neue im Rahmen einer imperialen Präsidentschaft.
Seit einiger Zeit löst sich die Schockstarre, die bei Bekanntwerden des Ergebnisses des Referendums vom Juni 2016 über die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs eingesetzt hatte. Mittlerweile wird sie außerdem gelegentlich durch Entwicklungen in den USA, Italien und anderswo überlagert, die alle ihrerseits für die weitere Entwicklung in Bezug auf den Brexit folgenreich sind. Weiterhin ist das Vereinigte Königreich Teil der Europäischen Union, wobei die Perspektive eines Austritts längst ihren Schatten vorauswirft. Viel ist in den vergangenen Monaten international gesagt und geschrieben worden, um das lange Zeit Undenkbare zu erklären. Eine beachtliche Reihe von Kommentatoren hat sich zu Ergründungen des britischen Nationalcharakters hinreißen lassen und etwa Beispiele für ein tief verankertes Sonderbewusstsein und Anzeichen für einen Sonderweg in Kultur und Geschichte bemüht.
Mit keinem anderen Bild verbindet sich der Schrecken des Vietnamkrieges und der Schrecken des Krieges im Allgemeinen so sehr wie mit dem Foto des Mädchens Kim Phúc. Die Aufnahme machte der vietnamesische Fotograf Nick Ut am 8. Juni 1972 in der Nähe des Dorfes Trang Bang. Sein vielfach ausgezeichnetes Bild wurde zu einer zentralen Ikone des 20. Jahrhunderts. Als solche führt sie im kollektiven Gedächtnis mittlerweile ein eigenes Leben und konstituiert eine Wirklichkeit, die mit der ursprünglich abgebildeten nur noch wenig gemein hat. Immer wieder ist das Bild politisch, kommerziell und religiös funktionalisiert und in neue Kontexte gestellt worden. Der Aufsatz rekonstruiert die politischen und medialen Zusammenhänge, in denen das Bild entstand. Zugleich verfolgt er den jedem großen Krieg nachfolgenden Prozess der Überzeichnung und Überschreibung der ursprünglichen Bilder sowie der mit wachsendem Zeitabstand zunehmenden Legenden- und Mythenbildung.
Der Aufsatz skizziert die Geschichte und die Veränderungen eines der bedeutendsten Porträts der Zeitgeschichte: des Mao-Porträts auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz) in Peking. Er spannt den Bogen von 1949 bis in die Gegenwart und untersucht dabei die unterschiedlichen Funktionen und Gebrauchsweisen des Bildes als Herrschaftssymbol, als Ikone der studentischen Protestbewegungen des Westens und der Pop Art um 1968, als kollektivem Protestobjekt im Frühjahr 1989, als Motiv der chinesischen Gegenwartskunst sowie als Bestandteil des Alltagskults. Ein besonderer Akzent wird dabei auf die immanenten Wirkungspotenziale des Bildes und den Ort seiner Präsentation gelegt. In allgemeinerer Perspektive versteht sich der Aufsatz als Plädoyer für eine Visual History von Herrscherbildern der Zeitgeschichte.
Um Anerkennung als legitimes Objekt wissenschaftlichen Fragens muss die Populärkultur längst nicht mehr kämpfen. Zwar dürfte es kaum möglich sein, die vielfältigen Ansätze zur Massen- und Unterhaltungskultur auch nur des späten 20. Jahrhunderts auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, aber unter den dabei bevorzugt behandelten Gegenständen müsste wohl den James-Bond-Filmen ein prominenter Platz eingeräumt werden. Mehr als jede andere Filmreihe haben sie ein ganzes Genre des Actionkinos definiert und Standards des Spionage- und Agententhrillers etabliert, die bis heute und noch in ihrer ironischen Brechung als Referenzgröße dienen.
Hochgespannte Erwartung. H.G. Wells’ Utopie einer »befreiten Welt« am Vorabend des Großen Kriegs
(2014)
In der belletristischen Literatur spiegeln sich nicht nur die Vergangenheitsbilder einer Epoche, sondern ebenso ihre Vorstellungen von der Zukunft. Müsste man eine Rangliste der literarischen Propheten erstellen, welche als Seismographen die Erwartungen und Befürchtungen ihrer Zeit aufnahmen und verarbeiteten, so wäre dem britischen Autor Herbert George Wells (1866–1946) einer der obersten Plätze sicher. Wie kaum ein anderer Schriftsteller und Intellektueller der späten Viktorianischen Ära verknüpfte er in seinen Werken politische Zeitdiagnostik und phantastische Zukunftsvisionen, und dies nicht allein in den bekannten Klassikern der frühen Science-Fiction-Literatur »The Time Machine« (1895) und »The War of the Worlds« (1898). Wells war ein gleichermaßen populärer, produktiver wie politisch entschiedener Autor, der insgesamt mehr als 50 Romane und eine noch größere Zahl von Sachbüchern vorlegte, von zahllosen Erzählungen und journalistischen Gelegenheitsarbeiten ganz abgesehen.
Auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges reagierten die Archivare des französischen Außenministeriums mit kühlem Realismus. Angesichts der Tatsache, dass man auf der anderen Seite des Rheins seit zwei Jahrzehnten gegen das »Diktat von Versailles« zu Feld gezogen war, lag es auf der Hand, dass die am Quai d’Orsay verwahrte Originalurkunde des Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 vor jedwedem Zugriff deutscher Eroberer in Sicherheit gebracht werden musste. Noch während der Mobilisierungsphase im September 1939 wurden darum ältere Pläne der Bestandssicherung aktiviert und die Pariser Friedensverträge zusammen mit anderen zentralen Unterlagen in geheime Depots an der Loire verlagert.
The newly emerging historical scholarship on the era ›after the boom‹, on the marketization of societies in the wake of the neoliberal political reforms, deregulation, and privatization starting in the 1970s, has emphasized this threshold as an epochal break that was driven by large-scale structural shifts in the global economy, in social relations, and in cultural identities. This new accentuation of the economic and social transformation has, for good reason, eclipsed older historical traditions that focused on events, discourses, specific interests, and individual actors. The marketization of social relations is thus often considered to be the result of processes beyond the reach and scope of purposeful actors that promoted specific societal changes. While this historical focus is quite right in denying independent causal status to specific agents and the self-aggrandizement of vain leaders and their intellectual entourage, it tends to obscure the historical genesis of ideas and concepts that later became critical components of political leadership, and the specific constellations of interests, knowledge and actors that did prefigure and originally promote the marketization of economic and political institutions.
Klasse
(2015)
Der Begriff „Klasse” ist eng mit der Entstehung der modernen Soziologie als Disziplin verknüpft und verdeutlicht gleichzeitig die besondere Standortgebundenheit jeder Beschäftigung mit sozialer Ungleichheit. Jenny Pleinen führt in die Verwendung des Klassenbegriffs ein und skizziert seine Bedeutung für die geschichtswissenschaftliche Forschung: von der Begriffsgeschichte, über die Marx‘sche und Weber’sche Definition bis hin zum Gebrauch durch die Bielefelder Sozialgeschichte. Abschließend fragt sie nach dem analytischen Mehrwert einer Operationalisierung des Klassenkonzepts heute.
Die These von der „Wiederkehr der Götter“ hat die Sozial- und Geisteswissenschaften erfasst. Als hätte man nur auf das Stichwort gewartet, so bereitwillig wird die Behauptung von der Renaissance des Religiösen und seiner Entprivatisierung aufgegriffen, und so eifrig werden immer wieder Belege dafür beigebracht, dass das Verhältnis von Religion und Moderne neu zu denken sei. Nicht mehr die Spannung zwischen Religion und Moderne interessiert, sondern ihre Kompatibilität. Nicht mehr die negativen Auswirkungen der Moderne auf die Integrationsfähigkeit von Religion und Kirchen werden analysiert; im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die religionsproduktiven Potenzen der Moderne und deren religiöse Wurzeln. Folgt man Sozialwissenschaftlern wie Wolfgang Knöbl, Hans Joas, José Casanova oder Talal Asad, dann ist die Säkularisierungsthese strikt abzulehnen. Prozesse der Modernisierung und funktionalen Differenzierung führten nicht zwangsläufig zur Säkularisierung; zwischen beiden bestehe vielmehr ein kontingentes Verhältnis. Doch nicht nur in der Soziologie und Ethnologie häufen sich die skeptischen Stimmen gegenüber der Säkularisierungsthese. Der Abschied von ihr wird auch in den Geschichts- und Religionswissenschaften auf breiter Front vollzogen.
This article explores the connection between genocide, language and language consciousness by tracing the strange biography of one Yiddish neologism: shabreven. During the Holocaust, the word came to mean both ›looting‹ and ›taking ownerless property‹. It stoked moral and etymological debate among Yiddish speakers in the Warsaw ghetto, while also occupying a prominent position in postwar Polish and Zionist discourses. The term shifted between different semantic, ethical and cultural fields, navigating a delicate balance between various meanings and norms. The discussions around this term help to shed light on key questions: What were the motivations for the study of Holocaust Yiddish neologisms? How did this early postwar Yiddish philological discourse differ from its parallel in German? Shabreven became both a symbol of the genocidal collapse of language and a tool for regaining victim agency in speech.
In den Jahren vor dem Sechstagekrieg entwickelte sich in der Bundesrepublik Deutschland eine palästinensische Diaspora, die nach 1967 einen wichtigen Einfluss auf die Palästina-Solidaritätsbewegung im Land erhielt. Arabischsprachige Quellen wie zeitgenössische Presseartikel oder spätere autobiographische Reflexionen werfen dabei nicht nur ein Licht auf das Entstehen dieser Diaspora. Sie zeigen auch, wie die Verbindungen zwischen palästinensischen Gruppen und der radikalen Linken in der Bundesrepublik zu vielfältigen Transferprozessen führten. Seit den späten 1960er-Jahren zirkulierten Argumente, Parolen und Symbole zwischen Orten wie Beirut und Heidelberg, die sich bald in antizionistischen, zum Teil auch antisemitischen Publikationen und Protesten wiederfanden. Vor diesem Hintergrund plädiert der Aufsatz dafür, Archive im Nahen Osten stärker als bisher einzubeziehen, um die transnationalen und globalen Bezüge der deutschen Zeitgeschichte besser zu verstehen.
Dass der Angeklagte dem Gerichtsreporter sympathisch gewesen wäre, kann man kaum behaupten. Der Delinquent, so notierte Ilja Ehrenburg während des ersten Nürnberger Prozesses, sei »ein übler Komödiant«, »gleicht einem alten Weib, und seine Kopfhörer sehen wie ein Kopftuch aus. Er spielt die Rolle des gutmütigen Onkels, der zufällig eine Million Menschen ermordet hat.« Als sowjetischer Berichterstatter entsprach es schwerlich Ehrenburgs Selbstverständnis, die Angeklagten in ein freundliches Licht zu setzen, und für den weithin – nicht zuletzt von sich selbst – als Anführer der verbliebenen Regimespitze wahrgenommenen Hermann Göring galt dies ganz besonders. Doch während andere Prozessbeobachter die nach Abschminken, Drogenentzug und Gewichtsverlust wiedergewonnene, maskuline Statur des Reichsmarschalls a.D. betonten, bemühte sich Ehrenburg nach Kräften, ein effeminiertes Bild zu zeichnen und Göring lächerlich zu machen. Das Kopftuch passte da ins Bild – irritierend war allenfalls, dass ausgerechnet ein Kopfhörer diesen Eindruck vermitteln sollte. Weder sah das im Nürnberger Justizpalast verwendete, metallene Gerät so aus, noch wollte es mit seiner Verwendung in Militär und Nachrichtentechnik so recht zum Anliegen des Journalisten passen.
Zwischen Heilsgeschichte und Faktenpositivismus. Hubert Jedins Standardwerk der Kirchengeschichte
(2011)
Hubert Jedin (1900–1980) gilt als einer der herausragendsten katholischen Kirchenhistoriker des 20. Jahrhunderts. Zu seinen größten wissenschaftlichen Leistungen gehören die vierbändige „Geschichte des Konzils von Trient“ (1949–1975) sowie die Herausgabe und Mitautorenschaft des siebenbändigen, zehn Teilbände umfassenden „Handbuchs der Kirchengeschichte“, bis heute ein Standardwerk des Faches. Zeitlich reicht es von der „Urgemeinde“ bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965), das Jedin als Peritus (Konzilstheologe) selbst miterlebte. Das Handbuch ist insgesamt eine Kirchengeschichte im Kontext des Konzils, sowohl zeitlich als auch inhaltlich. Der letzte, explizit zeitgeschichtliche Band erschien 1979 und stellte dieses Konzil programmatisch in den Mittelpunkt. Nur zwei Kapitel des letzten Bandes verfasste Jedin selbst, nämlich das zweite Kapitel des ersten Abschnittes: „Die Päpste Benedikt XV., Pius XI. und Pius XII. – Biographie und innerkirchliches Wirken“ (S. 22-36) sowie eben das vierte Kapitel: „Das Zweite Vatikanische Konzil“ (S. 97-151). Aber die Bedeutung des Konzils für das Handbuch ist mit diesem im Verhältnis zum Gesamtumfang doch eher knappen Kapitel nicht erschöpft. Wichtiger erscheint Jedins innerkirchliche Bewertung des Konzils, da sie ein Licht auf sein Kirchengeschichtsverständnis und seine Hermeneutik insgesamt wirft.
Der Kampf gegen Kindersterblichkeit wurde für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den 1970er-Jahren noch wichtiger als zuvor. Armut, Bevölkerungswachstum, Dekolonisierung und Menschenrechte waren prägende Themen auf der Agenda Internationaler Organisationen. In der WHO kam der »Teufelskreis« aus Mangelernährung und Krankheiten in den Blick. 1978 machte die WHO die Bekämpfung von Durchfall-Erkrankungen – eine der häufigsten Todesursachen bei Kindern – zum Gegenstand eines globalen Programms. Bei der Ausgestaltung verschränkten sich medizinische Wissensproduktion, sozialwissenschaftliche Annahmen und politische Deutungskämpfe über adäquate Maßnahmen und Prioritäten. Neben Angehörigen medizinischer Berufe rückten Mütter als Akteurinnen in den Mittelpunkt. Betont wurde ihre Verantwortung für die Prävention von Kindersterblichkeit und Mangelernährung. Insbesondere das Stillen wurde aufgewertet, weil es gegenüber anderen Formen der Säuglingsernährung belegbare Vorteile für die gesundheitliche Entwicklung hatte. Während dies den Blick auf die Handlungsmacht von Frauen schärfte, konnte es zugleich eine Festschreibung auf die (exklusive) Rolle von Müttern in der Kinderpflege bedeuten. Programme gegen Mangelernährung und Kindersterblichkeit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erlauben somit eine Analyse von Geschlechterverhältnissen in Entwicklungspolitik, Medizin und sozialer Praxis.
The fight against child mortality became even more important for the World Health Organisation (WHO) in the 1970s than before. Poverty, population growth, decolonisation and human rights were defining issues on the agenda of international organisations. At the WHO, the focus turned to the ›vicious circle‹ of malnutrition and disease. In 1978, the WHO made the fight against diarrhoeal diseases – one of the most frequent causes of death among children – the subject of a global programme. Medical knowledge production, social science assumptions and political battles over appropriate measures and priorities were intertwined in the design of the programme. In addition to members of the medical profession, mothers were now acknowledged as central actors with a responsibility for the prevention of child mortality and malnutrition. Breastfeeding in particular was valorised due to its proven advantages for child health development compared to other forms of infant nutrition. While this sharpened the focus on women’s agency, it could also imply a fixation on the (exclusive) role of mothers in child care. Programmes to combat malnutrition and child mortality in the last third of the 20th century thus allow an analysis of gender relations in development policy, medicine and social practice.
Das Fotoarchiv der Reemtsma Cigarettenfabriken besteht aus ungefähr 70.000 Aufnahmen, die als Einzelbilder, in Fotoalben, als Negative oder Dias gesammelt wurden. Die Überlieferung umfasst Aufnahmen aus dem Zeitraum vom Umzug des Unternehmens von Erfurt nach Altona-Bahrenfeld im Jahr 1923 bis zur Übernahme durch Imperial Tobacco im Jahr 2002 und spiegelt das breite Spektrum der firmenbezogenen Fotografie zwischen Dokumentation, Selbstdarstellung und Werbung: Hier finden sich Aufnahmen aus dem Betrieb oder zur Firmengeschichte ebenso wie Bildmaterial für Broschüren, Mitarbeiterzeitschriften oder Werbekampagnen. Eine Besonderheit sind die Bilder der „Tabakreisen“, auf denen bekannte Fotografen und Bildjournalisten den Tabakanbau in verschiedenen Gebieten und die Verarbeitung dokumentierten; zwei dieser Reportagen werden im Folgenden beispielhaft vorgestellt. Sofern die Fotografie in der Werbung eingesetzt wurde - was seit den 1920er-Jahren zunehmend geschah und wofür die beiden ausgewählten Teilbestände ebenfalls Beispiele sind -, überschneiden sich die Bestände des Fotoarchivs mit jenen des Werbemittelarchivs. Dieses enthält als nahezu vollständige Überlieferung der Werbeaktivitäten Reemtsmas aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die jüngste Vergangenheit insgesamt etwa 3.500 Plakate, 25.000 Anzeigen, 12.000 bis 15.000 Packungen und über 50.000 Aufsteller, Schilder, Aufkleber und ähnliches, dazu Werbepläne und interne Dokumente.
»Man erinnert sich nicht, sondern man schreibt das Gedächtnis um, wie man die Geschichte umschreibt. Wie sollte man sich an den Durst erinnern?«, fragt sich der Schriftsteller, Fotograf und Regisseur Chris Marker (1921–2012) in seinem Filmessay »Sans Soleil« (1983). Damit weist er auf die Kluft zwischen Erfahrung und Erinnerung hin, die stets das Ergebnis reflexiver Prozesse ist. Er deutet des Weiteren einen Aspekt an, der für Historiker*innen von beträchtlicher Relevanz ist: den konstruktiven Charakter des Selbstzeugnisses. Nicht erst die historische Erzählung, sondern schon das Elementarteilchen der Geschichtsschreibung, das (Selbst-)Zeugnis, ist seit jeher das Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses der Neu- bzw. Umschreibung. Denn auf der einen Seite unterliegen Zeugnisse selektiven Wahrnehmungs- und Gedächtnismechanismen, auf der anderen ändern sie sich im Laufe der Zeit durch die Interaktion mit neu eingetretenen Erfahrungen und kollektiven Anstößen. Die negative Kehrseite dieser Verformbarkeit kommt bei der Manipulation und Instrumentalisierung von Zeugen durch Politik und Medien ans Licht, worüber Historiker*innen in den letzten Jahrzehnten intensiv reflektiert haben. Jedes (Selbst-)Zeugnis muss daher als eine Momentaufnahme in einem Prozess der Erinnerungsverarbeitung angesehen und entsprechend kritisch im Kontext seiner Entstehung und späteren Rezeption analysiert werden. Ohne Zeugnisse damit dem Bereich des Fiktiven zuzuordnen, bezweckt diese kritische Auseinandersetzung, ihnen die Qualität der Reinheit, Ursprünglichkeit und Beständigkeit, der Unmittelbarkeit des Zugangs zur Vergangenheit und der Individualität abzusprechen und sie in den Horizont sinnbildender Prozesse zurückzuführen.
Der Beitrag untersucht die Genese des Weltkultur- und Naturerbes der UNESCO im breiteren Kontext der Auseinandersetzungen um eine Neujustierung der internationalen Ordnung in den 1960er- und 1970er-Jahren. Die politischen Debatten um die Definition und Auswahl eines „Erbes der Menschheit“ dienen als analytische Sonde, um Veränderungen im Verhältnis von Partikularismus und Universalismus auszuloten. Anhand exemplarischer Konfliktfälle wird gezeigt, dass sich das Kultur- und Naturverständnis zwischen 1950 und 1980 gravierend veränderte, so dass zwei konkurrierende Rationalitäten in das Welterbeprogramm eingingen. Zudem werden die Erwartungen analysiert, die sich an die neue Governance-Institution und ihren weltweiten Anspruch richteten. Aus beiden Aspekten lässt sich die ungleiche regionale Verteilung der Welterbestätten und das bis heute unausgewogene Verhältnis von Kultur- und Naturerbestätten erklären. Der Aufsatz leistet damit auch einen Beitrag zur Historischen Semantik der Begriffe „Kultur“, „Natur“ und „Erbe“ im 20. Jahrhundert.
Für Alexander Kluge gibt es keine abgeschlossenen Werke: „Bücher halten nicht still. Sie sind auch nie ‚beendet‘“. So ist es auch im Fall der „Schlachtbeschreibung“ nicht bei der Erstausgabe von 1964 geblieben. Kluge versteht seine Bücher als „work in progress“, als „Baustellen“ und als Produkte einer Sammlertätigkeit, die nicht beendet werden kann. Ein Buch wie die „Schlachtbeschreibung“ ist in diesem Sinne lediglich ein kleiner Teil eines stetig wachsenden und sich immer wieder aufs Neue verändernden multimedialen Netzwerks, das nicht nur literarische Texte umfasst, sondern auch philosophische Arbeiten, Kinofilme und Fernsehmagazine. Bis heute sind nicht weniger als sieben zum Teil sehr stark voneinander abweichende – gekürzte, erweiterte, neu arrangierte und um Abbildungen ergänzte – Ausgaben des Stalingrad-Buchs erschienen. Die vorerst letzte (gedruckte) Überarbeitung stammt aus dem Jahr 2000, als Kluge sein erzählerisches Gesamtwerk, ergänzt durch neu entstandene Texte, unter dem Titel „Chronik der Gefühle“ in einer umfangreichen zweibändigen Ausgabe versammelte. Darin findet sich die „Schlachtbeschreibung“ – als ein Kapitel unter vielen – in einen neuen Zusammenhang gestellt.
In dem letztlich gescheiterten Bemühen, seine Existenz zu sichern, zeigt das Osmanische Reich Ähnlichkeiten zum Habsburger- und zum Zarenreich. Einen deutlich imperialen Status besaß das Osmanische Reich vor allem vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, während der imperiale Charakter osmanischer Herrschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert weniger ausgeprägt war. Eine islamisch-christliche Konfrontation zur Erklärungsgrundlage des Verständnisses zwischen dem Osmanischen Reich und den anderen europäischen Großmächten machen zu wollen würde in eine Sackgasse führen; so zeigte die von Sultan Abdülhamid II. um 1900 verfolgte Option eines Panislamismus deutlich machtstrategisch-utilitaristische Züge. Nach wie vor wird in der internationalen Geschichtsforschung jedoch debattiert, wie die Elemente einer Gleichrangigkeit oder einer Marginalisierung des Osmanischen Reichs im Verhältnis zu den europäischen Großmächten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu bewerten sind. Das imperiale Erbe der Osmanen in Südosteuropa und in den arabischen Nachfolgestaaten ist umstritten und bisher nicht ernsthaft erforscht worden; ob es zu einer Erklärung der heutigen Konfrontation von Islamismus und amerikanischem Imperium beitragen könnte, wäre noch zu untersuchen.
Zivilgesellschaft gilt als schillernder Projektionsbegriff. Das Konzept wird seit den 1980er-Jahren in den Geistes- und Sozialwissenschaften verwendet und ist fest in der politischen Theorie verankert. Zivilgesellschaft ist im Englischen mit dem Begriff „Civil Society“ verwandt; in Deutschland gibt es enge Verknüpfungen zur „Bürgerlichen Gesellschaft“. Die Global Civil Society untersucht zivilgesellschaftliche Fragestellungen auf globaler Ebene. Die Verwendung der Konzepte ist umstritten, gerade weil die Bürgergesellschaft auf eine gesellschaftliche Mitte abzielt und Distinktionen beinhaltet. Trotzdem lohnt es sich, die normative Seite der Zivilgesellschaft aufzugreifen und diese mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen der Dritten-Sektor-Forschung zu kombinieren.
Spätestens seit die französischen Revolutionäre die Verwaltungsakten der Krone 1794 zu öffentlichem Eigentum erklärten, ist die Frage nach der Freigabe und Nutzung staatlichen Schriftguts ein Politikum. Welche Informationen welchem Personenkreis zu welchem Zeitpunkt und Zweck zugänglich sind, war und ist umstritten – ganz gleich, ob die Akten noch in Gebrauch sind oder bereits archiviert wurden. Die Entscheidung darüber, welche Daten vernichtet oder archiviert, veröffentlicht oder verheimlicht werden sollen, ist dabei nur zum Teil die Folge jener historiographischen Bedürfnisse, technisch-kulturellen Entwicklungen und juristischen Vorgaben, die momentan im Zentrum deutscher Debatten um das Recht auf Aktenzugang stehen. Viel häufiger war die Freigabe von Akten beziehungsweise der Ausbau von Datenschutzbestimmungen das Ergebnis machtpolitischer Aushandlungsprozesse, bei denen gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und internationale Konfliktlagen den Ausschlag gaben – manchmal in aller Öffentlichkeit, nicht selten aber auch hinter verschlossenen Türen. Die hier versammelten Beiträge über die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Griechenland und Südamerika sollen dazu anregen, derartige Auseinandersetzungen international vergleichend zu historisieren und dabei auch nach Transferprozessen zu fragen.
Safer Sex und Solidarität. Die Sammlung internationaler Aidsplakate im Deutschen Hygiene-Museum
(2013)
Plakate sind für die Kommunikation im Vorbeigehen gedacht und wenden sich an ein Massenpublikum. Für die Bildsprache und den Text des Plakats erfordert dies eine Reduktion auf das Wesentliche. Wird diese Technik des Reduzierens erfolgreich angewendet, verdichten Plakate bestimmte Leitideen ihrer Entstehungszeit – und genau das macht sie als Quellen für die Geschichtswissenschaft interessant. In den bedeutenden europäischen Plakatsammlungen liegt das Augenmerk meist auf Ausstellungs- und Filmplakaten, auf Wahl- und Propagandaplakaten sowie auf Werbeplakaten für Markenprodukte des 19. und 20. Jahrhunderts. Einen anderen Schwerpunkt legt die Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden (DHMD)1 mit rund 12.000 Plakaten. Dieser Bestand dokumentiert die deutsche Geschichte von „Gesundheit und Prävention“ sowie einzelne Kapitel der entsprechenden internationalen Geschichte vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
„The values of Western publics have been shifting from an overwhelming emphasis on material well-being and physical security toward greater emphasis on the quality of life.“ Schon im ersten Satz proklamierte der amerikanische Politikwissenschaftler Ronald Inglehart die Essenz seiner Analyse der „stillen Revolution“ in den westlichen Industriegesellschaften. Dass sich sozialkulturell seit den 1960er-Jahren einiges verändert hatte, lag zwischen Kritik und Apologie der „68er“, den Debatten um Ostpolitik und Abtreibung und einem veritablen Kulturkampf um Bildungsreformen und Bildungsstandards gleichsam auf der Hand. Überlagert durch das Spannungsverhältnis zwischen der „Modernisierungsideologie“ der 1960er- und einer vielbeschworenen „Tendenzwende“ an den „Grenzen des Wachstums“ in den mittleren 1970er-Jahren, war die Hauptrichtung dieses Wandels indessen schwer erkennbar. Inglehart schlug eine Schneise durch dieses sozialkulturelle Dickicht: Nachdem er schon 1971 von einer Veränderung der Werteprioritäten in den westlichen Gesellschaften gesprochen hatte, legte er 1977 eine Monographie vor, die bald zu einem Klassiker der Soziologie avancierte.
Der Beitrag untersucht sowjetische Diskurse zur Welternährung und Hungerhilfe im »Zeitalter der Ideologien« während der 1950er- bis 1980er-Jahre. Trotz Versorgungsengpässen stellten die wechselnden sowjetischen Führungen den Export von Getreide und Hilfsgütern schon seit den 1920er-Jahren als moralische Pflicht des sozialistischen Systems und als Zeichen seiner Überlegenheit dar. Die Hilfspropaganda betonte die Notwendigkeit, die Kolonien bzw. die dekolonialisierten Staaten aus den Klauen der kapitalistischen Ausbeutung zu befreien. Ab Mitte der 1970er-Jahre hinterfragten sowjetische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angesichts globaler Probleme bisherige ideologische Dogmen, wiesen auf die Vorteile der Handelsbeziehungen für die UdSSR hin und gingen von einer interdependenten globalen Ökonomie aus. Der Mangel an Zahlen führte bei der Bevölkerung indes zu Spekulationen über das Ausmaß der Hilfsleistungen. Sowjetische Publikationen, Karikaturen und andere Bilder geben Auskunft über den damaligen offiziellen Diskurs. Anekdoten aus sowjetischer Zeit, aber auch heutige Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen belegen, wie die offiziellen Verlautbarungen und die visuelle Propaganda zur Getreideproduktion und zur Entwicklungshilfe in der Gesellschaft rezipiert und kritisiert wurden. Der Eindruck, die UdSSR habe zum Nachteil der eigenen Bevölkerung »Afrika gefüttert«, ist bis in die Gegenwart ein verbreitetes Stereotyp.
This article examines Soviet discourses on world food and famine relief in the ›age of ideologies‹ during the 1950s to 1980s. Despite supply shortages, the various Soviet governments presented the export of grain and aid since the 1920s as a moral duty of the socialist system and a sign of its superiority. Aid propaganda emphasised the need to free the colonies or decolonised states from the clutches of capitalist exploitation. From the mid-1970s onwards, Soviet scholars questioned previous ideological dogmas in the face of global problems, pointed to the advantages of trade relations for the USSR, and postulated an interdependent global economy. The lack of concrete figures, however, led to speculation among the population about the extent of the aid. Soviet publications, cartoons and other images provide information about the official discourse at the time. Anecdotes from the Soviet period and present-day conversations with contemporary witnesses provide evidence of how the official pronouncements and visual propaganda concerning grain production and development aid were perceived and criticised in society. The impression that the USSR ›fed Africa‹ to the detriment of its own population remains pervasive to this day.
Ein stärkerer Dialog, ja eine Zusammenarbeit zwischen der europäischen und der außereuropäischen Zeitgeschichte ist dringend notwendig. Hierfür ist die Geschichte der einzelnen Weltregionen im 20. Jahrhunderts zu verwoben und geprägt von globalen Krisen, weltweiten kulturellen Strömungen und sozioökonomischen Strukturen. Allerdings sehe ich die Notwendigkeit einer solchen Kooperation weniger darin begründet, dass - wie es der Einleitungstext in Anknüpfung an Fernand Braudel formuliert - Europa beständig über seine Grenzen hinausgegriffen“ habe. Dies klingt, als ob sich Europa vor allem deswegen mit dem Rest der Welt beschäftigen müsse, da es diesen nachhaltig geprägt habe. Die Sichtweise, dass Europa vornehmlich als Kolonialmacht und modernisierende Schockwelle mit anderen Erdteilen in Berührung kam, sollte neu überdacht werden.
"Global history" refers to a wide range of research approaches that are typically characterized by a rising interest in alternative conceptions of space beyond methodological nationalism and Eurocentrism. It builds on a multitude of detailed research projects in all branches of historiography, ranging from economic history to cultural history and from gender history to environmental history.
Seit den 1960er-Jahren wurden für die Migranten in der Bundesrepublik Radiosendungen und Zeitschriften in ihrer jeweiligen Nationalsprache produziert. Die Entwicklung dieser Medien wurde von weitgreifenden Konflikten geprägt, die sich im Kontext internationaler Auseinandersetzungen um die politische Beeinflussung der so genannten „Gastarbeiter“ entfalteten. Zum einen stand die Gründung und Finanzierung von „Gastarbeitersendungen“ bzw. „Gastarbeiterzeitschriften“ im Rahmen des Kalten Krieges: Die Medien sollten die Zuwanderer vom (befürchteten) Konsum fremdsprachiger Auslandsprogramme abhalten, welche die Ostblockstaaten zu propagandistischen Zwecken ausstrahlten. Zum anderen konnten die meist autoritären Heimatregierungen der Migranten die Kritik nicht dulden, die in den „Gastarbeitersendungen“ zum Ausdruck gebracht wurde. Daraus entwickelten sich schwerwiegende diplomatische und innerdeutsche Spannungen. Trotz aller politischen Schwierigkeiten orientierten sich die Programme inhaltlich vor allem an den sozialen Bedürfnissen der Migranten.
Die Geschichtsschreibung über Banken und Finanzmärkte im Industriezeitalter als spezieller Zweig der Wirtschaftsgeschichte wurde von der Zeitgeschichte, sowohl in ihrer klassischen politik- und sozialhistorischen als auch in ihrer aktuellen, stärker kulturalistischen Ausprägung, bisher kaum zur Kenntnis genommen: Banken und Finanzmärkte scheinen Opfer „blinder Flecken“ in der Wahrnehmung der Zeithistoriker/innen zu sein.
Bildagenturen, die zwischen Fotografen und Redaktionen vermitteln, sind zentrale Akteure bei der Produktion massenmedialer Sichtbarkeit. Ihre Rolle im System der NS-Bildpropaganda ist weitgehend unerforscht. Der Aufsatz widmet sich einem brisanten Spezialfall, der amerikanischen Associated Press und ihrer Niederlassung im Deutschen Reich. 1935 unterstellte sich die deutsche AP GmbH dem Schriftleitergesetz und ließ sich damit »gleichschalten«. Bis zum Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 hatte sie eine eminente Bedeutung als transatlantischer Bildlieferant für die nationalsozialistische Propaganda. Außerdem durfte AP weiterhin im Deutschen Reich produzieren. Die von der Agentur unter der Ägide des Propagandaministeriums, der Wehrmacht und der SS aufgenommenen Fotos bestückten die NS-Presse, aber die New Yorker AP-Zentrale stellte sie auch der nordamerikanischen Presse zur Verfügung, wo sie mal als scheinbar neutrale Nachrichtenbilder erschienen, mal ausdrücklich als Propagandabilder gekennzeichnet wurden.
Picture agencies are mediators between photographers and editorial staffs; they play a crucial role in producing mass media visibility. However, their part in the system of the visual propaganda of the Nazi state is largely unexplored. This article features a controversial case, the American Associated Press and its German subsidiary. By submitting to the Schriftleitergesetz (Editorial Control Law) in 1935, the German AP GmbH (LLC) followed its German counterparts in the process of Gleichschaltung (forcible coordination). Until the United States entered the war in December 1941, AP supplied the Nazi press with American pictures. This service proved to be of particular relevance for propaganda. AP was also allowed to continue its photographic reporting in the Reich. AP pictures taken under the aegis of the Propaganda Ministry, the Wehrmacht and the SS were ubiquitous in the Nazi press. Moreover, the New York headquarters supplied the North American press with these same pictures, where they were published either as news photos or as propaganda images.
Am 12. Oktober 1960 ergriff Nikita Sergeevič Chruščev in der UNO während der Rede des philippinischen Delegierten Lorenzo Sumolong seinen Schuh, schlug damit auf seinen Tisch und ereiferte sich: „Warum darf dieser Nichtsnutz, dieser Speichellecker, dieser Fatzke, dieser Imperialistenknecht und Dummkopf – warum darf dieser Lakai der amerikanischen Imperialisten hier Fragen behandeln, die nicht zur Sache gehören?“ Chruščev war zunächst mit seinem Auftritt sehr zufrieden – er berichtete seinem Berater Oleg Trojanovskij, er habe etwas verpasst; sie hätten großen Spaß gehabt. Die sowjetische Presse verschwieg den Vorfall, während sich die westliche über die „Schusterdiplomatie“ halb ereiferte, halb amüsierte. Interessant ist, dass hier vollkommen unterschiedliche Vorstellungen von „Diplomatie“ zum Ausdruck kamen. Während der konsternierte Chruščev meinte, die UNO sei ein Parlament wie das House of Commons in London, wo es zur Kultur des Hauses gehöre, durch Raunen, Rufen und Gesten seinen Unmut kundzutun, fand die westliche diplomatische Welt ihr Urteil bestätigt, dass der sowjetische Partei- und Regierungschef im besten Fall ein Politclown, im schlechtesten einfach unzurechnungsfähig sei. Der berühmte Vorfall in der UNO macht deutlich, dass auf westlicher Seite eine klare Norm diplomatischen Verhaltens existierte, an der Chruščev gemessen wurde, während dieser experimentierte, improvisierte und etwaige Normen ignorierte.
Zwischen Hoffen und Bangen. Südafrika im Blick westdeutscher Intellektueller der 1960er-Jahre
(2016)
In den 1960er-Jahren verbreitete sich die Kritik am südafrikanischen Apartheid-Regime weltweit. Aber die Bundesrepublik unterhielt gleichzeitig hervorragende und privilegierte Beziehungen zu den weißen Rassisten am Kap. Südafrika galt als natürlicher Verbündeter im Kalten Krieg gegen den Kommunismus und als Garant für die Sache des Westens im risikoreichen Dekolonialisierungsprozess auf dem schwarzen Kontinent.
Das Ende des Kalten Krieges oder wie man alt wird. Man wird unwillkürlich zum Historiker der Zeit, deren Zeitgenosse man gewesen ist. Eine Epoche ist zu Ende gegangen, und wenn man diese beschreibt, beschreibt man zugleich auch ein Stück des eigenen Lebens, und umgekehrt: Das individuelle Leben fällt mit der historischen Zeit zusammen. Das hat nichts mit Selbstliebe oder Selbstüberschätzung zu tun. Man merkt es, wenn man mit jungen Leuten zusammen ist, mit denen man über Ereignisse spricht, die vor ihrer Geburt liegen, die man selbst aber miterlebt hat. Man berichtet aus der eigenen Zeit, die ihre Vorzeit ist. Es ist lohnend, sich dieser Zeit genau zu erinnern. Die subjektive Erinnerung bewahrt Details, Nuancen, Valeurs, die im Betrieb der Geschichtsforschung entweder gar nicht vorkommen oder später, wenn man deren Fehlen bemerkt, mühsam rekonstruiert werden müssen.
Eine Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts müsste zugleich eine Geschichte des Verlustes und des Vergessens sein. Zu solchen Überlegungen wird gedrängt, wer die Studien von Joseph B. Schechtman und Eugene M. Kulischer über die Bevölkerungsverschiebungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Hand bekommt. Bekanntlich ist das Problem von Flucht, Vertreibung, Zwangsumsiedlungen im Zusammenhang der Jugoslawienkriege und anderer „ethnischer Säuberungen“ wieder zu einem brisanten Thema geworden, das die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit auf sich ziehen konnte. Für die neuere Forschung – etwa Klaus J. Bades „Europa in Bewegung“ (2000) oder Norman Naimarks „Fires of Hatred“ (2001) – sind Kulischer und Schechtman kein monumentaler Referenzpunkt, sondern nur eine Fußnote.
Drei Bücher haben im 20. Jahrhundert zu unterschiedlichen Zeitpunkten das Bild der Deutschen über die Sowjetunion geprägt: René Fülöp-Millers „Geist und Gesicht des Bolschewismus“ aus dem Jahr 1926, Klaus Mehnerts „Der Sowjetmensch“ aus dem Jahr 1958 und Lois Fisher-Ruges „Alltag in Moskau“ aus dem Jahr 1984. Allen drei Publikationen ist gemeinsam, dass sie kaum auf die historischen Ereignisse oder das politische Tagesgeschäft zu sprechen kommen, sondern einen Einblick in die sowjetische Alltagskultur zu geben versuchen. Den Autoren der drei Bücher war von Anfang an klar, dass sie eigentlich Unmögliches vorhatten: Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, alle Facetten einer Gegenwartskultur zu erfassen und darzustellen. Im Fall der Sowjetunion kam erschwerend dazu, dass man kaum auf verlässliche Quellen zurückgreifen konnte: Die Kultur teilte sich in einen offiziellen Betrieb und einen verbotenen Untergrund, soziologische Daten waren nicht erhältlich oder manipuliert, die Gesprächspartner mussten immer auf der Hut vor den staatlichen Überwachungsorganen sein. So blieb den Autoren nichts anderes übrig, als sich auf ihre persönliche Erfahrung zu stützen, die naturgemäß nur einen beschränkten Radius aufwies. Der Erfolg der genannten Bücher verdankte sich nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch dem Erscheinungsdatum, das jeweils eine Wendezeit markierte: Fülöp-Miller lieferte nach zehn Jahren Sowjetregime eine erste Bilanz, Mehnert dokumentierte das Ende des Stalinismus, Fisher-Ruge gab einen Einblick in die gesellschaftlichen Startbedingungen der Perestrojka.
Nach dem Ende des Kalten Krieges gewann ein spezifisches Genre von Büchern an Popularität, die durch klangvolle Titel auf sich aufmerksam machten und versprachen, sowohl das globale Geschehen zu erklären als auch die künftige Rolle der USA in der Welt zu skizzieren. Dabei wurde der große Wurf meist eher angekündigt als tatsächlich erzielt. Wenige dieser Bücher erwiesen sich jedoch als so breitenwirksam und langlebig wie das 1996 veröffentlichte Werk »The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order« des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington (1927–2008). Der Verfasser schien kaum zu übertreiben, wenn er im Vorwort schrieb, dass seine These »in jeder Zivilisation« einen »Nerv getroffen« habe. Laut einem »Newsweek«-Bericht bestellte die Iranische Revolutionsgarde in den 1990er-Jahren stapelweise übersetzte Kopien, um sie an ihre Mitglieder zu verteilen. Übersetzungen mit nicht weniger griffigen Titeln – »Der Kampf der Kulturen« oder »Le Choc des civilisations« – fanden sich rasch auf den Bestsellerlisten verschiedener Länder. Die Rede von einem »Clash« war aber auch besonders geeignet, sich zu verselbstständigen. Ihr wurde eine unmittelbare Plausibilität und Erklärungskraft beigemessen, ganz gleich, ob es um internationale Konflikte, Terrorakte oder innergesellschaftliche Auseinandersetzungen ging – das zeigte insbesondere die Verbreitung der Formel nach den Anschlägen vom 11. September 2001.
Diktaturenvergleich
(2014)
Komparative Verfahren gehören inzwischen auch in der Geschichtswissenschaft zum selbstverständlichen methodischen Handwerkszeug. Detlef Schmiechen-Ackermann zeichnet in seinem Beitrag frühe Etappen der Diktaturforschung und des Vergleichs im internationalen Maßstab nach und fragt, warum vergleichende Betrachtungen von Diktaturen in öffentlichen Debatten in der Vergangenheit so umstritten waren. Daran schließen sich Überlegungen zur Methodik und zu den unterschiedlichen Varianten des „Diktaturenvergleichs“ an sowie ein knapper Ausblick auf die sich wandelnden Perspektiven vergleichender Diktaturforschung im 21. Jahrhundert.
Computeranschaffungen in Deutschland und weltweit, in Auszügen. Die Tabellen und Daten schlüsseln auf, welche Institutionen zu welchem Zeitpunkt welche Computer zu welchem Zweck angeschafft und eingesetzt haben. Abgedeckt werden vor allem die Banken und Sparkassen der Bundesrepublik, der DDR und international. Darüber hinaus bietet die Aufstellung breiterer Anschaffungsprozesse in Wirtschaft, Staat, Wissenschaft, Militär und Gesellschaft eine Einordnung dieser Daten.
In der gegenwärtigen Debatte über Imperien wird die konstitutive Bedeutung des Raumes hervorgehoben. Seine Repräsentation in Gestalt von Karten wird aber bisher selten zum Forschungsgegenstand gemacht, obwohl Untersuchungen zum British Empire auf den Zusammenhang von kognitiven und materiellen Karten für die Ausbildung eines Raumbewusstseins innerhalb des Imperiums und in Bezug zur Welt verweisen. In der Sowjetunion war die Produktion und Verbreitung von Karten von Anfang an ein grundlegender Bestandteil imperialer Politik, weil das dokumentierte Wissen über das Territorium, seine Strukturen und Bewohner eine Voraussetzung für eine umfassende Sowjetisierungspolitik darstellte. Einer der sowjetischen „Vermesser“ war der ungarische Kartograph Alexander (Sándor) Radó, der seit den 1920er-Jahren an der Produktion sowjetischer und europäischer Atlanten beteiligt war. Die Karten sind in mehrfacher Hinsicht Dokumente eines imperialen Konstruktionsprozesses, weil sie einerseits als Projektionsfläche genutzt wurden und andererseits die innenpolitische Entwicklung in der Sowjetunion spiegelten und beeinflussten.
Gewalt und Gewaltforschung
(2014)
Weder im alltagssprachlichen Gebrauch noch in der Wissenschaft ist es kaum möglich zu sagen, was Gewalt ist. Entsprechend handelt es sich bei der Gewaltforschung um ein fast unüberschaubares Feld, das sich mit Kriegen bis hin zu sprachlichen Praktiken oder Rollenverteilungen in privaten Räumen beschäftigt. Felix Schnell stellt in seinem Artikel das Spektrum der gängigen Gewaltbegriffe dar, schildert die Entwicklung der relativ jungen Gewaltforschung im engeren Sinne und gibt einen Überblick über aktuelle Forschungstendenzen.
Denkmäler haben wieder Konjunktur – nicht nur in der Kontroverse um Erinnerungs- und Ehrungszeichen im öffentlichen Raum, die einen kolonialgeschichtlichen oder rassistischen Hintergrund besitzen. In der letzten Zeit wurde zwar heftig darüber gestritten, ob derartige Denkmäler, die im Konflikt oder sogar Widerspruch zum heutigen Wertekonsens stehen, erhalten bleiben, kommentiert oder ergänzt werden, ins Museum wandern oder besser ganz verschwinden sollten. Neben der Debatte über die Entrümpelung der deutschen Denkmallandschaft werden aber auch Vorschläge für eine Neumöblierung des öffentlichen Gedenkraumes gemacht. Alternative oder zusätzliche Denkmäler werden ins Gespräch gebracht, initiiert und auch errichtet, die dem gesellschaftlichen Selbstverständnis der Gegenwart besser entsprechen, es genauer zum Ausdruck bringen und gleichzeitig mitprägen sollen. Dazu gehören nicht zuletzt Denkmäler, die an Migration und Zuwanderung erinnern.
Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, seit Grammophon und Telefon ist es möglich, Schallphänomene verschiedenster Art auf Tonträger zu speichern und über größere Distanzen hinweg zu verbreiten. Schallerzeugung und -wahrnehmung wurden zeitlich und räumlich voneinander entkoppelt – die Wahrnehmung bedeutungstragender und ästhetisch gestalteter Klänge wurde von der Anwesenheit schallerzeugender Personen (Sprecher, Sänger, Instrumentalisten) unabhängig. Bislang flüchtig gebliebene Situationsgeräusche konnten nun festgehalten und an ferne Rezipienten verbreitet werden – Anwesenheit und Notation waren keine Grundbedingungen mehr für die Tradierung von Musik. In den 1920er-Jahren entstand mit dem Radio zudem das erste Echtzeit-Massenmedium, das die Technologien von Telephonie und Funk kombinierte und ein großes, räumlich verstreutes Publikum gleichzeitig mit akustischen Reizen belieferte. Speichertechnologien (Schall- und Wachsplatten, später Tonbänder) erlaubten es schließlich, unterschiedlichste Schallphänomene auf ein durchgestaltetes Endresultat hin zu arrangieren, dem seine technischen Herstellungsbedingungen oft nicht anzumerken sind. Diese neuen Audiotechnologien schufen also neuartige Hörkontexte und -gelegenheiten, welche die auditive Wahrnehmung im 20. Jahrhundert entscheidend geprägt haben.