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„Auf einer Weltkarte ist Europa kaum zu sehen“ - so lautet der erste Satz eines Essays zur europäischen Geschichte, den der französische Historiker Fernand Braudel in den 1980er-Jahren verfasste und der erst kurz nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Braudel beschränkt sich nicht darauf, jene geographische Ausgangsposition des Kontinents weiter zu erläutern, die in den vergangenen Jahrhunderten den Schauplatz vielfältiger europäischer Geschichte bildete. Vielmehr zeigt er, wie sehr Europa beständig „über seine räumlichen Grenzen hinausgegriffen“ habe. Braudels Europa ist auch im ausgehenden 20. Jahrhundert noch fast überall, obwohl der Kontinent mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und im Zuge der Dekolonisation vermeintlich in seine alten Grenzen zurückverwiesen worden war.
„Was machen Sie eigentlich noch außer Afrika?“, fragte mich vor einigen Jahren ein jeder Ironie unverdächtiger Professor für Neuere, also vor allem deutsche Geschichte. Denn noch immer gilt in der „Zunft“ deutscher Historiker zwar als breit ausgewiesen, wer seine Forschungsschwerpunkte etwa im Kaiserreich und in der DDR-Geschichte hat - die Beschäftigung mit fast 50 Ländern südlich der Sahara (oder analog etwa mit Lateinamerika) über mehrere Jahrhunderte hinweg wird in der Regel als exotisches Laster angesehen, dem allenfalls ergänzend zu frönen sei. Nun ist Provinzialismusschelte auf die Dauer für alle Beteiligten ermüdend; der Nachweis etwa, dass hierzulande ausgerechnet methodisch als besonders progressiv daherkommende Fachorgane sich als regional besonders introspektiv, nämlich germanozentrisch erwiesen haben, ist ohnehin längst - und sine ira et studio - geführt worden.
Experten, Stiftungen und Politik. Zur Genese des globalen Diskurses über Bevölkerung seit 1945
(2008)
Der Aufsatz untersucht die weltweite Popularisierung des bevölkerungspolitischen Diskurses und leistet damit einen Beitrag zur kritischen Historisierung gegenwärtiger Deutungsmuster. Wie und warum entwickelte sich ein zunächst nur von wenigen Experten als Problem wahrgenommenes Phänomen zu einem globalen Diskurs über die Gegenwart und Zukunft der Menschheit? Im Kontext von Kaltem Krieg und Dekolonisierung rückte das Bevölkerungswachstum in der „Dritten Welt“ in den Mittelpunkt demographischer Überlegungen. Amerikanische Stiftungen, überzeugt von der humanitären und sicherheitspolitischen Relevanz des Bevölkerungswachstums, setzten sich massiv für eine globale biopolitische Steuerung ein. Seit Beginn der 1960er-Jahre beeinflussten die Stiftungen und die „epistemische Gemeinschaft“ der Bevölkerungsexperten dann auch maßgeblich das Handeln der US-Regierung. Schließlich schwenkten die Vereinten Nationen um 1970 ebenfalls auf eine neo-malthusianische Politik ein. Damit entwickelte sich die Steuerung des Bevölkerungswachstums zu einem zentralen, weithin unstrittigen, aber doch interessengeleiteten Aspekt von Weltinnenpolitik.
„History, in general, only informs us what bad Government is“, schrieb Thomas Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und dritte Präsident der USA, im Juni 1807. Mit der rund drei Jahrzehnte zurückliegenden Loslösung vom britischen Mutterland, mit der Revolution und der Gründung der Republik hatte sich die Frage danach, was „gute“ von „schlechter“ Regierung unterscheide, in Nordamerika mit besonderer Dringlichkeit gestellt. Schließlich hatte man in den ehemaligen Kolonien bewusst den Despotismus verabschiedet und eine Gesellschaftsordnung auf den Weg gebracht, die das Glück des Einzelnen, Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu ihren Grundsätzen erhob. Damit wurden die leitenden Prinzipien der Aufklärung in der politischen und gesellschaftlichen Realität auf die Probe gestellt. John Adams, ein weiterer „Gründervater“ und später zweiter Präsident der Republik, hatte schon einige Monate vor der Unabhängigkeitserklärung geschrieben, mit der Revolution lösten sich sämtliche autoritär strukturierten Herrschaftsverhältnisse, und zwar nicht nur diejenigen zwischen Mutterland und Kolonien, sondern auch die zwischen Herren und Sklaven, Lehrjungen und Meistern oder Eltern und Kindern. Angesichts solcher Veränderungen empfand Adams - wie viele andere auch - nicht nur Freude und Zuversicht, sondern zugleich ein gewisses Unbehagen. Man musste neue Formen der Regierung finden, die die Menschen ohne imperativen Zwang derart führten, dass sie in einer freiheitlichen Ordnung funktionierten.
Der Begriff »Flucht« beschreibt, wie es im Editorial des vorliegenden Hefts heißt, einen »Handlungszusammenhang in asymmetrischen Machtverhältnissen«, aber auch verschiedene Räume und Orte, die verlassen, durchquert oder als Ziele angesteuert werden. Romane und andere literarische Texte zu diesem Thema können dazu beitragen, dem »Eigen-Sinn« mehr Gewicht zu verleihen, aber auch den Flüchtenden selbst und ihrer Wahrnehmung von Flucht, Vertreibung und Akzeptanz oder Ablehnung eine Stimme zu geben. Was genau ist aber der »Eigen-Sinn« der Literatur? Seit 2015 boomt eine unter dem Schlagwort »Flüchtlingsliteratur« verhandelte Prosa, die die Lebenswege von Flüchtenden und Geflüchteten unterschiedlicher Kulturen in den Blick nimmt. Doch welchen Mehr- und Eigenwert hat die Literatur? Sind die Dokumentationen, die zahlreichen journalistischen und wissenschaftlichen Beiträge nicht ausreichend?
Der Kalte Krieg ist zu Ende. Unabhängig davon, auf welches Jahr man seinen Beginn datiert - auf 1943, 1945, 1946 oder das Jahr der „offiziellen Kriegserklärung“ 1947: Der Untergang der Sowjetunion 1991 markiert das Ende eines fast fünfzigjährigen Konflikts. Man kann sich wohl am ehesten darauf einigen, dass dieser Konflikt primär eine Auseinandersetzung zwischen zwei unvereinbar erscheinenden Weltanschauungen mit jeweils konkurrierenden Gesellschaftsentwürfen war, die rasch den Charakter einer „totalen“ Auseinandersetzung annahm und nahezu alle Bereiche des öffentlichen und zum Teil auch des privaten Lebens okkupierte. Mit Ausnahme der atomaren Waffen, die sich aufgrund ihres langfristigen Zerstörungspotenzials als nicht einsetzbar erwiesen, kam alles Verfügbare zur Anwendung, um diesen Konflikt zu gewinnen. Der Kalte Krieg, so kann man zusammenfassen, war eine weltweite politisch-ideologische, ökonomische, technologisch-wissenschaftliche und kulturell-soziale Auseinandersetzung, die ihre Auswirkungen bis in den Alltag zeigte. Nur in der „Dritten Welt“ wurde der Kalte Krieg schließlich auch als konventionelle militärische Auseinandersetzung geführt.
Der Kampf gegen Kindersterblichkeit wurde für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den 1970er-Jahren noch wichtiger als zuvor. Armut, Bevölkerungswachstum, Dekolonisierung und Menschenrechte waren prägende Themen auf der Agenda Internationaler Organisationen. In der WHO kam der »Teufelskreis« aus Mangelernährung und Krankheiten in den Blick. 1978 machte die WHO die Bekämpfung von Durchfall-Erkrankungen – eine der häufigsten Todesursachen bei Kindern – zum Gegenstand eines globalen Programms. Bei der Ausgestaltung verschränkten sich medizinische Wissensproduktion, sozialwissenschaftliche Annahmen und politische Deutungskämpfe über adäquate Maßnahmen und Prioritäten. Neben Angehörigen medizinischer Berufe rückten Mütter als Akteurinnen in den Mittelpunkt. Betont wurde ihre Verantwortung für die Prävention von Kindersterblichkeit und Mangelernährung. Insbesondere das Stillen wurde aufgewertet, weil es gegenüber anderen Formen der Säuglingsernährung belegbare Vorteile für die gesundheitliche Entwicklung hatte. Während dies den Blick auf die Handlungsmacht von Frauen schärfte, konnte es zugleich eine Festschreibung auf die (exklusive) Rolle von Müttern in der Kinderpflege bedeuten. Programme gegen Mangelernährung und Kindersterblichkeit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erlauben somit eine Analyse von Geschlechterverhältnissen in Entwicklungspolitik, Medizin und sozialer Praxis.
The fight against child mortality became even more important for the World Health Organisation (WHO) in the 1970s than before. Poverty, population growth, decolonisation and human rights were defining issues on the agenda of international organisations. At the WHO, the focus turned to the ›vicious circle‹ of malnutrition and disease. In 1978, the WHO made the fight against diarrhoeal diseases – one of the most frequent causes of death among children – the subject of a global programme. Medical knowledge production, social science assumptions and political battles over appropriate measures and priorities were intertwined in the design of the programme. In addition to members of the medical profession, mothers were now acknowledged as central actors with a responsibility for the prevention of child mortality and malnutrition. Breastfeeding in particular was valorised due to its proven advantages for child health development compared to other forms of infant nutrition. While this sharpened the focus on women’s agency, it could also imply a fixation on the (exclusive) role of mothers in child care. Programmes to combat malnutrition and child mortality in the last third of the 20th century thus allow an analysis of gender relations in development policy, medicine and social practice.
Wie kaum eine andere deutsche Fotografin hat Barbara Klemm (geb. 1939) das Zeitgeschehen der letzten Jahrzehnte mit der Kamera begleitet. Von 1970 bis 2004 als feste Redaktionsfotografin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) tätig, hat sie zahllose Ereignisse und Personen der deutschen und internationalen Politik und Kultur bildlich festgehalten - ohne die im Fotojournalismus nicht selten anzutreffende Sensationsgier, sondern mit Gespür für Nuancen und Respekt vor den fotografierten Menschen.1 Auch wer auf die kleine Zeile „Foto Barbara Klemm“ bei der Lektüre der „FAZ“ noch nie geachtet haben mag, wird viele ihrer Fotos kennen, weil sich diese von der üblichen Bilderflut abheben und Zeitgeschichte prägnant auf den Punkt bringen. Barbara Klemm hat etliche Auszeichnungen erhalten, zum Beispiel den Erich-Salomon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Fotografie. Das folgende Interview, das Irmgard Zündorf und Jan-Holger Kirsch am 19. Februar 2005 in Berlin führten, kreist um die Fotografie als Modus der (Geschichts-)Beobachtung, um praktische Erfahrungen des Fotojournalismus und nicht zuletzt um die kleinen Zufälle, die für gute Bilder ebenso essentiell sind wie das handwerkliche Können.
Eine Verbindung der Themenfelder »Fotografie« und »Diktatur«[1] führt schnell dazu, dass »Bildpropaganda« als gemeinsamer Nenner ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Mit Blick auf die bereits geleistete Forschung gilt dies jedenfalls für die Geschichte des Nationalsozialismus und des Stalinismus, die in dieser Hinsicht besser erforscht sind als verschiedene Diktaturen im Süden oder außerhalb Europas. Wenngleich Fotografie in Diktaturen zweifellos für propagandistische Zwecke eingespannt wurde, so erscheint eine Konzentration auf diese Form der Funktionalisierung des Mediums in vielerlei Hinsicht doch problematisch.
Als Francis Fukuyamas Essay „The End of History?“ im Sommer 1989 in der Zeitschrift „The National Interest“ erschien, brach ein Sturm der Empörung los. Die Vorstellung von einem „Ende der Geschichte“ hatte zwar gerade Konjunktur; so kamen in der Bundesrepublik 1989 gleich zwei Bücher heraus, die dieses Thema kritisch beleuchteten. Meist gründete das Interesse an einem „Ende der Geschichte“ allerdings auf einer postmodernen Position. Vilém Flusser oder Jean Baudrillard etwa behandelten unter diesem Schlagwort den Verlust von Sinn- und Wirklichkeitsbezügen in der multimedialen Kommunikationsgesellschaft. Fukuyama hingegen knüpfte an eine andere Tradition mit politisch konservativem Hintergrund an, wie sie beispielsweise von Arnold Gehlen, Ernst Jünger und Hendrik de Man vertreten worden war. Vor allem berief er sich auf den russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève, der Hegels „Phänomenologie des Geistes“ als Setzung eines Endpunkts der Geschichte gedeutet und später die amerikanische Lebensart als die Lebensform des Menschen nach dem Ende der Geschichte bezeichnet hatte.
This article reassesses the emergence of human rights advocacy in 1970s West Germany from the perspective of memory politics. Focusing on the campaigns against political violence in South America, the article first traces the boom and bust of antifascist activism against the Chilean junta in the early 1970s. It then analyzes the displacement of abstract antifascist discourses by a more humanitarian human rights talk closely intertwined with concrete references to National Socialist crimes. Taking the perspective of grassroots advocates, this article explores how and why activists referenced the crimes of Nazism to defend human rights in the present. Finally, the article moves beyond the claim that human rights politics were minimalistic and even anti-antifascist, by showing how some human rights activists continued to think of themselves as antifascists. They infused antifascism with entirely new meanings by recovering the 20 July 1944 assassination attempt against Hitler as an acceptable example of anti-government violence.
Rethinking the boundaries of Europe is an earnest exercise that calls for critical reconsideration of our existing spatio-temporal constructions. First of all, it should be established that this kind of an exercise does not only necessitate a re-mapping of the cartographical space within which “Europe” is placed, but more so a re-thinking of the intellectual space within which history is situated.
Christian Geulen geht es darum, neue begriffsgeschichtliche Impulse in die Diskussion zu schleusen und nichts Geringeres als eine „Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts“ zu lancieren. Konkret soll der semantische Wandel untersucht werden, den die politisch-soziale Sprache seit dem späten 19. Jahrhundert erfahren hat. Die Suche nach der Herkunft unserer Gegenwart würde sich dann, vereinfacht gesagt, auf die in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ ignorierte Zeitspanne von etwa 1900 bis 2000 erstrecken. Als distinktives Merkmal hierfür wird ein Wechsel des Primats im Verhältnis von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont angenommen. Hatte seit der Sattelzeit die Erwartung zunehmend den Erfahrungsraum aufgerissen und die Führung übernommen, zeichnet sich nach Geulen in der Gegenwart eine Verkehrung ab, indem die Erwartung gleichsam von der Erfahrung dirigiert wird.
»Man erinnert sich nicht, sondern man schreibt das Gedächtnis um, wie man die Geschichte umschreibt. Wie sollte man sich an den Durst erinnern?«, fragt sich der Schriftsteller, Fotograf und Regisseur Chris Marker (1921–2012) in seinem Filmessay »Sans Soleil« (1983). Damit weist er auf die Kluft zwischen Erfahrung und Erinnerung hin, die stets das Ergebnis reflexiver Prozesse ist. Er deutet des Weiteren einen Aspekt an, der für Historiker*innen von beträchtlicher Relevanz ist: den konstruktiven Charakter des Selbstzeugnisses. Nicht erst die historische Erzählung, sondern schon das Elementarteilchen der Geschichtsschreibung, das (Selbst-)Zeugnis, ist seit jeher das Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses der Neu- bzw. Umschreibung. Denn auf der einen Seite unterliegen Zeugnisse selektiven Wahrnehmungs- und Gedächtnismechanismen, auf der anderen ändern sie sich im Laufe der Zeit durch die Interaktion mit neu eingetretenen Erfahrungen und kollektiven Anstößen. Die negative Kehrseite dieser Verformbarkeit kommt bei der Manipulation und Instrumentalisierung von Zeugen durch Politik und Medien ans Licht, worüber Historiker*innen in den letzten Jahrzehnten intensiv reflektiert haben. Jedes (Selbst-)Zeugnis muss daher als eine Momentaufnahme in einem Prozess der Erinnerungsverarbeitung angesehen und entsprechend kritisch im Kontext seiner Entstehung und späteren Rezeption analysiert werden. Ohne Zeugnisse damit dem Bereich des Fiktiven zuzuordnen, bezweckt diese kritische Auseinandersetzung, ihnen die Qualität der Reinheit, Ursprünglichkeit und Beständigkeit, der Unmittelbarkeit des Zugangs zur Vergangenheit und der Individualität abzusprechen und sie in den Horizont sinnbildender Prozesse zurückzuführen.
Gendered critiques by historians and feminist international relations scholars have been animating international history for a good thirty years by complicating the supposedly binary relationships between states and societies, private and public, and local and international that traditionally structured the discipline. In this essay we would like to ask what a sensitivity to gender might add to international histories that are shifting their focus away from intergovernmental relations towards a reassessment of internationalisms in the nineteenth and twentieth centuries through studies of transnational social movements, international organizations and norms, or practices of global governance. We are especially interested in how gender might contribute to a major emerging theme of international history today: the history of internationalism and international organizations as a struggle between competing or converging universalisms – ‘imperial and anticolonial, “Eastern” and “Western”, old and new’ – that sought to speak in the name of all humanity, rather than as the triumph of an international order imposed by the “West” on the rest.
Geographische Informationssysteme (GIS) wurden bereits seit den 1960er-Jahren mit der beginnenden Computerisierung der Geographie entwickelt. Ihr Konzept folgt der Idee, Daten bzw. Informationen in ihren Raumbezügen zu organisieren und analysierbar zu machen. Mit der Weiterentwicklung und wachsenden Leistungsfähigkeit digitaler Infrastrukturen sind inzwischen komplexe Datenmodelle, flexiblere Datenformate, neue Formen der Visualisierung sowie umfassende geostatistische Analysen möglich geworden. Zudem sind kartographische Visualisierungen nicht mehr nur statisch, sondern in einem GIS können überdies Veränderungen der Daten im Zeitverlauf dargestellt und untersucht werden. Der Einsatz von GIS ist aus Forschung, Wirtschaft, Verwaltung und medialer Kommunikation kaum noch wegzudenken. Die Produkte der Arbeit mit GIS umgeben uns vielerorts, oft ohne dass wir uns der dahinterliegenden Architekturen und Annahmen bewusst sind. Aktuelle Debatten über die Sammlung zeit- und geocodierter Daten, etwa über Mobiltelefone, um Personengruppen – Konsument*innen, Migrant*innen, Geflüchtete, Bürger*innen – retrospektiv, in Echtzeit oder mit prädiktiven Modellen auf der Grundlage biometrischer und/oder sozialer Daten zu tracken, haben mit Recht Fragen zum Datenschutz und zu ethischen Implikationen dieser Technologien aufgeworfen. Anwendungen GIS-basierter Technologien, etwa bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, dem Tracking von Verbreitungs- und Infektionswegen, der Entwicklung von Krisenreaktionsstrategien oder der medialen Kommunikation der Situation scheinen uns zugleich die beträchtlichen Potentiale der raum-/zeitsensiblen Datenanalyse – in Echtzeit – zu vermitteln. Deutlich wird, dass die ethischen, methodischen und epistemologischen Effekte der Verbreitung digitaler Werkzeuge zur Durchdringung wachsender und zunehmend komplexer Datenbestände einer mehrdimensionalen Reflexion bedürfen, die augenblicklich nur mühsam mit der Expansion der technischen Möglichkeiten Schritt hält.
Die „Réflexions sur la violence“ von Georges Sorel (1847-1922) gelten bis heute als eine wichtige Inspirationsquelle linker wie rechter Gewaltlegitimation. Ihr Autor, ein französischer Straßen- und Brückenbauingenieur, der nach 25 Berufsjahren 1892 sein Amt aufgab, um sich fortan gelehrten Studien zu widmen (ein geerbtes Familienvermögen machte dies möglich), durchlief selbst den intellektuellen Parcours vom linken zum rechten Rand des europäischen politischen Spektrums und wieder zurück. Sorels Interessen reichten von der frühen Kirchengeschichte bis hin zu Philosophie, Psychologie und Soziologie; vor allem aber richteten sie sich auf die klassischen Schriften des Marxismus, denen er ausführliche Analysen widmete. Er kommentierte das politische Zeitgeschehen in seinem Heimatland, verfolgte die Revisionismusdebatte der deutschen Sozialdemokratie mit großem Interesse und stand mit Benedetto Croce, Vilfredo Pareto und anderen italienischen Denkern in engem Kontakt.
Blickt man vom Ufer der Motława in Gdańsk Richtung Norden, schiebt sich ein Bauwerk in den Blick, das sich deutlich von seiner Umgebung abhebt: ein schräg stehender langgestreckter Quader, der dem Anschein nach gleich umkippen wird. Statisch droht zwar kein Unglück, die Schieflage des Gebäudes verdeutlicht aber im übertragenen Sinn, wie es um das Innenleben des Bauwerkes steht. Es beherbergt das Museum des Zweiten Weltkrieges. Kein anderes Museum in Polen hat in den vergangenen Jahren mehr Kontroversen ausgelöst als das Projekt in Gdańsk. Obwohl in Polen zu Recht von einem Museumsboom gesprochen werden kann und es durchaus weitere Steine des Anstoßes gegeben hätte, ist nur der Streit um das Museum in Gdańsk so eskaliert.
Die Forderung nach einer stärkeren Beachtung auditiver Quellen ist in etwa so alt wie die systematische Beschäftigung mit Quellen selbst. Johann Gustav Droysen bemerkte schon 1857, dass „namentlich vor der Zeit des Bücherdruckens historische Lieder recht eigentlich die historische Meinung vertraten“, und sprach sich deshalb für eine gleichrangige Behandlung von Liedern als Quellen der Geschichtsschreibung aus. Keine zwei Jahrzehnte später erlaubte die technische Innovation des phonographischen Verfahrens erstmals die Aufzeichnung und akustische Wiedergabe von Audiosignalen. In den darauffolgenden mehr als 100 Jahren hat die Schallplatte als Tonträger die Medien- und Kulturgeschichte entscheidend verändert. Dennoch werden Platten in der historischen Forschung – wenn überhaupt – meist noch immer so verwendet wie zu Droysens Zeiten: als Textzitat. Dieser Beitrag plädiert dagegen dafür, den mehrdimensionalen Quellenwert von Schallplatten als Ton-, Text- und Bildspeichern auszuschöpfen. Anhand einiger Beispiele werden Anwendungsmöglichkeiten für die Zeitgeschichte nach 1945 skizziert. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der akustischen Dimension und dem sich daraus ergebenden Wert von Schallplatten als Material einer Klang- und Popgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Seit den 1980er-Jahren erleben wir in der Bundesrepublik und auch in anderen Ländern einen Museumsboom, der noch lange nicht abgeschlossen zu sein scheint. Er zeichnet sich nicht allein durch immer neue Museumsgründungen und hohe Besuchszahlen aus, sondern auch durch eine umfassende mediale Begleitung und öffentliche Diskussion von Museums- und Ausstellungseröffnungen. Gleichzeitig wandeln sich Funktion und Selbstverständnis vieler Museen seit Beginn des 21. Jahrhunderts: weg von elitären Bildungseinrichtungen, hin zu Orten des zivilgesellschaftlichen Austauschs und der Partizipation. Dieser Wandel in der Museumswelt trifft gegenwärtig auf ihrerseits gewandelte geschichtspolitische Ansprüche, die an die Museen herangetragen werden.
Richard Horton, ein britischer Arzt und Chefredakteur der einflussreichen medizinischen Fachzeitschrift »The Lancet«, löste Ende 2012 mit einer Serie von Twitter-Nachrichten eine hitzige Debatte aus. Polemisch zugespitzt kritisierte Horton den schädlichen Einfluss der Ökonomie auf das öffentliche Gesundheitswesen. In zehn Thesen beklagte er, dass die Wirtschaftswissenschaften keine Vorstellung von moralischem Handeln hätten und einem falschen Menschenbild folgten. Die Marktideologie lasse sich nicht vereinbaren mit den Werten, auf denen sozialstaatliche Gesundheitssysteme begründet seien. Auch wenn die Gesundheitsökonomie das Gegenteil behaupte – Gesundheit sei kein ökonomisches Gut. Horton folgerte: »Economics […] may just be the biggest fraud ever perpetrated on the world.«
Vorsorge war immer. Bereits in der Frühgeschichte stoßen wir auf Kulturtechniken, mit denen Menschen Risiken vorbeugen und Gefahren verhüten wollten. Schon das Anlegen von Vorräten, die Präparierung von Landschaften oder die Anrufung von Schutzgöttern waren Konzepte und Praktiken der Vorsorge. In der Moderne jedoch wuchs die Vielfalt an Befürchtungen und Ängsten, die eine nicht minder große Vielfalt an Vorsorgekonzepten und -maßnahmen mit sich brachte. Spürbar wurde dieser Anstieg in einem Boom an Versicherungen, in der Popularisierung medizinischer, sozialreformerischer und pädagogischer Maßnahmen, in der Verbreitung von Diäten, in den Sport- und Turn- oder den Anti-Tabak- und Anti-Alkohol-Bewegungen.
»So darf es nicht weitergehen«, forderten im September 2019 hunderte deutsche Ärzte und Verbände des Gesundheitssektors. Sie formulierten eine flammende Anklage gegen »das Diktat der Ökonomie« und gegen eine »Enthumanisierung der Medizin« in Krankenhäusern und Arztpraxen. Dieser »Ärzte-Appell« ist ein aktueller Beitrag zu einer langjährigen intensiven Debatte um das Verhältnis von Gesundheit und Ökonomie. In der Öffentlichkeit stehen die »Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens« meist als Menetekel für eine »Medizin ohne Empathie« und für die Verschärfung sozialer Ungleichheiten am Krankenbett: Kinder, aber auch Migranten, Alte und Arme seien die Leidtragenden, wenn es »an Geld, Ärzten und Pflegern« fehle. Die Binnenperspektive eröffnet nicht minder alarmierende Einblicke. In einer Studie wurden 2018 zahlreiche Geschäftsführer und Ärzte an Kliniken zu betriebswirtschaftlichen Einflüssen auf ihre Arbeit befragt. Sie zeichneten ein bedrückendes Bild, das die Autoren der Studie wie folgt zusammenfassten: »Die Krankenhausmedizin nimmt fabrikmäßige Züge an, die medizinische Arbeit wird für das ärztliche und pflegerische Personal tendenziell als fremdbestimmt erlebt. [...] Insofern verändert die Ökonomisierung auch mittelbar den Charakter der Medizin.«
The centennial of the outbreak of World War I in the summer of 1914 has already produced a wave of new books, exhibitions, documentaries, films, articles, websites, and research projects on the war and will continue to do so over the course of the next years, at least until the centenary of the armistice in 2018. One might witness this rising tide with mixed feelings: the arbitrariness of anniversaries and the ambivalent suggestive power of round numbers are a topic which merits reflection in and of its own. But the First World War has continued to be of lasting and even growing interest for historians over the past decades independently of anniversaries. Jay Winter and Antoine Prost have noted that the number of volumes that were catalogued in the British Library under the rubric of ›The World War, 1914 to 1918‹ quadrupled between 1980 and 2001, and Roger Chickering gathered further evidence for the ›enduring charm of the Great War‹ in 2011. At the same time, these last decades have witnessed a number of methodological shifts and changes within the historical profession, which also affected the study of the First World War. The centennial might therefore be a good opportunity for taking stock of the current state of affairs in World War I studies and for pondering their possible future directions. This is why our journal has decided to contribute to the rising tide of World War I publications with a roundtable discussion.
Um Anerkennung als legitimes Objekt wissenschaftlichen Fragens muss die Populärkultur längst nicht mehr kämpfen. Zwar dürfte es kaum möglich sein, die vielfältigen Ansätze zur Massen- und Unterhaltungskultur auch nur des späten 20. Jahrhunderts auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, aber unter den dabei bevorzugt behandelten Gegenständen müsste wohl den James-Bond-Filmen ein prominenter Platz eingeräumt werden. Mehr als jede andere Filmreihe haben sie ein ganzes Genre des Actionkinos definiert und Standards des Spionage- und Agententhrillers etabliert, die bis heute und noch in ihrer ironischen Brechung als Referenzgröße dienen.
Im Frühjahr 2007 veröffentlichte der „Spiegel“ eine Hommage an das „neue Berlin“. Die Titelstory über die „Wiederkehr einer Metropole“ – „Aufgebaut von den Preußen, geschändet von den Nazis, zerstört von den alliierten Bombern, meldet sich Berlin auf der Weltbühne zurück“ – nimmt ihren Ausgangspunkt am „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“. Zitiert wird aus der Besucherordnung, die ein Begehen im Schritttempo vorschreibt, die Lärmen, lautes Rufen und Rauchen verbietet und somit „eigentlich genau regelt, in welcher Gefühlslage hier in den Abgrund der deutschen Geschichte geschaut werden soll“. Doch die Jugendlichen, „die seit den ersten Frühlingstagen […] wieder das Denkmal bevölkern, denken nicht daran, hier nur Trauerarbeit zu leisten. Eine siebte Klasse aus Fürth, soeben noch ergriffen von den Dokumenten im Souterrain des Denkmals, spielte vergangenen Donnerstag inmitten des Stelenfeldes Fangen. Als sich zwei Schüler plötzlich in die Arme fielen, kreischten sie.“ Diese Szene wird zum Symbol für die neue „Leichtigkeit“, die Berlin im Umgang mit seiner traumatischen Vergangenheit erlangt habe: „Vielleicht gibt es ja im Leben jeder Stadt so etwas wie eine Relativitätstheorie. Jedes Ereignis, auch das finsterste, verblasst demnach mit der Zeit. […] Das neue Berlin ist mehr als nur ein Ort des Gedenkens und Trauerns – fröhlich, frech und manchmal mit dreister Leichtigkeit findet die Preußen-Hauptstadt zu einer neuen Identität.“
»What was it that converted capitalism from the cataclysmic failure which it appeared to be in the 1930s into the great engine of prosperity of the post war Western world?« (S. 3) Das ist die Leitfrage von Andrew Shonfields vor 50 Jahren erschienenem Buch über den »modernen Kapitalismus« der 1960er-Jahre. Wie konnte es zu dem »Goldenen Zeitalter« (Eric Hobsbawm), also der fast drei Jahrzehnte andauernden Nachkriegsprosperität kommen, nachdem der Kapitalismus im Zuge der Großen Depression abgewirtschaftet zu haben schien und sich eine breite ordnungspolitische Debatte um alternative Wirtschaftsformen entwickelt hatte?
Vor zehn Jahren konnte man des Lobes voll sein: Viele Facetten des „Großen Krieges“ wurden beleuchtet und auch verschiedene Formen des Gedenkens berücksichtigt. Zahlreiche gut erklärte Exponate waren zu sehen, und ein ebenso umfassender wie interessanter Katalog rundete die Ausstellung ab, die das Deutsche Historische Museum (DHM) 1994 unter dem Titel „Die letzten Tage der Menschheit - Bilder des Ersten Weltkrieges“ im Berliner Alten Museum präsentierte. Auch die Ausstellung „Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914-1918“, 1998 ausgerichtet vom Osnabrücker Museum Industriekultur, verdiente höchstes Lob für die Ausstellungskonzeption, die gut präsentierten und erläuterten Exponate sowie den vorzüglichen Katalog.
Guerrilla Mothers and Distant Doubles: West German Feminists Look at China and Vietnam, 1968–1982
(2015)
Communist China and Vietnam looked like the future to many West German feminists in the years after 1968. This article reconstructs a lost history of influence, identification and emulation, tracing some of the ways that Chinese and Vietnamese communism inspired and attracted West German feminists from the late 1960s to the early 1980s. Beginning in a spirit of socialist universalism, West German feminists drew on reports of the experience of East Asian women who they felt lived in the ›liberated zones‹ of post-revolutionary society. Like the French radicals who declared that ›Vietnam is in our factories‹, West German feminists created a global framework for their activism. Looking east, they borrowed or adopted models of consciousness-raising and direct action from China and Vietnam. This article tracks the arc of exchange, from the enthusiasm of the late 1960s and 1970s to the West German feminist disenchantment with both East Asian communism and the global South by the early 1980s.
In den Jahren vor dem Sechstagekrieg entwickelte sich in der Bundesrepublik Deutschland eine palästinensische Diaspora, die nach 1967 einen wichtigen Einfluss auf die Palästina-Solidaritätsbewegung im Land erhielt. Arabischsprachige Quellen wie zeitgenössische Presseartikel oder spätere autobiographische Reflexionen werfen dabei nicht nur ein Licht auf das Entstehen dieser Diaspora. Sie zeigen auch, wie die Verbindungen zwischen palästinensischen Gruppen und der radikalen Linken in der Bundesrepublik zu vielfältigen Transferprozessen führten. Seit den späten 1960er-Jahren zirkulierten Argumente, Parolen und Symbole zwischen Orten wie Beirut und Heidelberg, die sich bald in antizionistischen, zum Teil auch antisemitischen Publikationen und Protesten wiederfanden. Vor diesem Hintergrund plädiert der Aufsatz dafür, Archive im Nahen Osten stärker als bisher einzubeziehen, um die transnationalen und globalen Bezüge der deutschen Zeitgeschichte besser zu verstehen.
Die Zeit des Nationalsozialismus, ihre Voraussetzungen und ihre Folgen besitzen noch immer eine große Brisanz. Das gewaltige Medienecho und der große Besucherandrang während der Ausstellung „Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen“ im Deutschen Historischen Museum (DHM) haben das bestätigt. Die Medien vermittelten teilweise den Eindruck, es handele sich dabei um die bundesweit erste Ausstellung über Adolf Hitler. Darum wurde die Ausstellung sehr bald – und nicht nur aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung – als „Hitler-Ausstellung“ bezeichnet. Die inhaltlich etwas irreführende Verkürzung ist ein Indiz der widrigen Faszinationskraft, die vor allem von der Person Hitlers weiterhin ausgeht.
Hochgespannte Erwartung. H.G. Wells’ Utopie einer »befreiten Welt« am Vorabend des Großen Kriegs
(2014)
In der belletristischen Literatur spiegeln sich nicht nur die Vergangenheitsbilder einer Epoche, sondern ebenso ihre Vorstellungen von der Zukunft. Müsste man eine Rangliste der literarischen Propheten erstellen, welche als Seismographen die Erwartungen und Befürchtungen ihrer Zeit aufnahmen und verarbeiteten, so wäre dem britischen Autor Herbert George Wells (1866–1946) einer der obersten Plätze sicher. Wie kaum ein anderer Schriftsteller und Intellektueller der späten Viktorianischen Ära verknüpfte er in seinen Werken politische Zeitdiagnostik und phantastische Zukunftsvisionen, und dies nicht allein in den bekannten Klassikern der frühen Science-Fiction-Literatur »The Time Machine« (1895) und »The War of the Worlds« (1898). Wells war ein gleichermaßen populärer, produktiver wie politisch entschiedener Autor, der insgesamt mehr als 50 Romane und eine noch größere Zahl von Sachbüchern vorlegte, von zahllosen Erzählungen und journalistischen Gelegenheitsarbeiten ganz abgesehen.
Der Aufsatz beleuchtet einen von der migrationsgeschichtlichen Forschung bisher vernachlässigten Raum und seine Akteure: den Flughafen. Der Frankfurter Flughafen ist von besonderem Interesse, weil er sich zum größten Transitdrehkreuz in der Bundesrepublik entwickelte und seit den 1980er-Jahren auch ein Experimentierfeld für den Umgang mit Asylbewerber:innen wurde. Im Zentrum stehen die Positionen und Konflikte von Akteur:innen, die in Asylfälle und Zurückweisungen am Flughafen involviert waren – allen voran der Bundesgrenzschutz, der Flughafensozialdienst und die Migrant:innen selbst. Gezeigt werden zum einen die Folgen übergeordneter Politiken im konkreten Raum. Zum anderen offenbart die lokale Konfliktgeschichte auch Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten im komplexen Grenzraum der Transitzone, die wiederum auf größere politische Zusammenhänge und Regulierungsversuche wie das Flughafenasylverfahren zurückwirkten. Deutlich wird außerdem, dass Zurückweisungen an der Grenze und Abschiebungen/Zurückschiebungen aus dem Inland nicht immer klar zu trennen sind.
Manche Bücher sollte man besser vom Ende her lesen, lässt sich doch so ihr archimedischer Fluchtpunkt rasch entdecken. Gewiss, für Kriminalromane empfiehlt sich eine solche Lesart nicht, wohl aber für diesen Essay-Band Hans Magnus Enzensbergers. Darin schließt der Autor seine Reiseberichte aus sieben Ländern mit einem »Epilog« ab, in dem ein fiktiver amerikanischer Journalist namens Timothy Taylor im Jahr 2006 den ebenfalls fiktiven finnischen EG-Präsidenten Erkki Rintala interviewt, der von seinem Amt freiwillig zurückgetreten ist, nachdem er wegen seiner Erfahrungen in den Korridoren der Brüsseler Politik zu einem Gegner der europäischen Integration geworden war.
Nach wie vor gilt „1968" vielen Beobachtern als eine klare Zäsur in der bundesdeutschen Geschichte, als Übergang von der „restaurativen" Adenauer-Zeit zu einer liberalen westlichen Demokratie. In Schweden dagegen scheint „1968" keine Wirkungen gezeitigt zu haben; zumindest ist durch die (deutsche) Forschung nichts überliefert. In diesem Aufsatz werden die 68er-Ereignisse in beiden Ländern verglichen, um ihren historischen Stellenwert genauer zu bestimmen. Trotz unterschiedlicher Voraussetzungen gab es manche Gemeinsamkeiten. Das lag an einem ähnlichen gesellschaftlichen Strukturwandel in der Nachkriegszeit, in den die 68er-Bewegungen eingebettet waren, aber auch an kollektiven Wahrnehmungsprozessen, durch die das magische Jahr „1968" in beiden Ländern überhöht wurde. Aus dieser vergleichenden Perspektive erscheint „1968" weniger als spezifisch bundesdeutsche Zäsur denn als Katalysator der gesellschaftlichen Umbrüche in der gesamten westlichen Welt.
Vom Wort „Imperium“ geht eine archaische Faszination aus. Es weckt Assoziationen von herrscherlicher Willkür und roher militärischer Gewalt, von oberster Autorität, die keine Gleichberechtigten anerkennt, von kommandierender Verfügung über riesige Räume, schließlich über den Erdball an sich. Das Bildgedächtnis wartet mit Spektakulärem auf: der Brutalität des Nebukadnezar, der Dynamik Alexanders, Peter Ustinovs Kaiser Nero, Chaplins Großem Diktator im Ballett mit dem Globus, Eroberungsschlachten seit Cortez’ Vormarsch gegen die Azteken, Rückzugsgefechten bis Algier 1958 und Saigon 1975. Im Imperium kristallisiert sich der höchste Anspruch auf monopolisierte Macht. Allein aus Gründen symbolischer Politik musste daher jeder US-Präsident nach dem Zusammenbruch des strategischen Gleichgewichts der Supermächte eine imperiale Rhetorik und einen imperialen Gestus annehmen (was George W. Bush in besonders ausgeprägter Weise getan hat).
Viele amerikanische Präsidenten haben ihre Amtszeit unter ein prägnantes Motto gesetzt. John F. Kennedys Leitmotiv, die „New Frontier“, hat sich tief in das amerikanische Gedächtnis eingegraben. Es wurde zum Schlüsselbegriff für die Ziele seiner nur rund 1.000 Tage währenden Präsidentschaft; für jene Zeit, die in den Augen vieler Zeitgenossen das Ende der langen Nachkriegsjahre verkörperte. Mit jugendlichem Elan und Charisma sowie einem informell-charmanten, medienwirksamen Politikstil stand „JFK“ für ein neues Amerika. Bei der „New Frontier“ ging es somit weniger um neue Grenzen als um das grenzenlos Neue im Rahmen einer imperialen Präsidentschaft.
Nachdem sie über lange Zeit ein gleichsam illegitimes Studienobjekt war, hat die Geschichte der französischen Einwanderungspolitik inzwischen ihren Adelsbrief erhalten. Das Überangebot an Archiven mit ministeriellen Runderlassen, Verordnungen und Korrespondenzen hat es einigen Autoren ermöglicht, peinlich genaue Topographien der Verwaltungsbehörden zu liefern. Diese Analyse staatlichen Handelns beschränkt sich auf die Mitglieder der Ministerialkabinette und die hohen Funktionäre, vernachlässigt aber die Rolle derjenigen Beamten, die mit der Ausführung der Gesetze beauftragt sind. Um mit dieser Art Reduktionismus zu brechen, ziehe ich einen Blickwinkel vor, der sich auf die administrativen Praktiken konzentriert und bereits von Michel Foucault vorgeschlagen worden ist: „[...] es geht nicht darum, die regulierten und legitimen Formen der Macht in ihrem Kern und in ihren allgemeinen Mechanismen oder ihren Gesamtwirkungen zu analysieren. Es geht vielmehr darum, die Macht an ihren Grenzen, in ihren äußersten Verästelungen, dort, wo sie haarfein wird, zu erfassen, die Macht also in ihren regionalsten und lokalsten Formen und Institutionen zu packen, besonders dort, wo sie sich über die Rechtsregeln, von denen sie organisiert und begrenzt wird, hinwegsetzt und sich konsequent über diese Regeln hinaus verlängert, sich in die Institutionen eingräbt, in Techniken verkörpert und zu materiellen, vielleicht sogar gewaltsamen Interventionsinstrumenten greift.“ Ein solches Vorhaben legt es nahe, auf eine Quelle zurückzugreifen, die von den Migrationshistorikern bislang wenig herangezogen worden ist: die personenbezogenen Aufenthaltsdossiers, die von den Beamten der Präfektur geführt werden.2 Als Akten mit Personenstandsangaben unterliegen sie einer mindestens 60-jährigen Sperrfrist. Allerdings kann für wissenschaftliche Zwecke ohne weiteres eine Sondergenehmigung zur Akteneinsicht beantragt werden, wenn die Anonymität der genannten Personen garantiert wird.
Eine oft übersehene Dimension der Auseinandersetzung bundesdeutscher Sicherheitsakteure mit dem international vernetzten Linksterrorismus ab den 1970er-Jahren ist die sogenannte Polizeihilfe für Staaten des Globalen Südens. Bundesdeutsches Know-how und Polizeitechnik made in Germany sollten die Polizeibehörden in Partnerländern modernisieren und so die internationale Anti-Terror-Zusammenarbeit verbessern. Der Aufsatz untersucht die Dynamiken solcher Kooperationen in Lateinamerika und stützt sich dabei vor allem auf Akten der beteiligten Bundesministerien. Westdeutsche Behörden stuften die Region aufgrund ihrer politischen Instabilität als möglichen Rückzugsort terroristischer Gruppen ein. Anders als oft dargestellt, folgten die Programme jedoch kaum einer außen- oder sicherheitspolitischen Gesamtstrategie. Vielmehr entwickelten sich die prestigeträchtigen Polizeihilfen zu einer symbolischen »Währung« für die Aushandlungsprozesse zwischen den Akteuren einer zunehmend transnationalisierten »Inneren Sicherheit«. Partnerschaften zwischen den Sicherheitsinstitutionen von demokratischen Staaten wie der Bundesrepublik und Militärdiktaturen wie Brasilien, Chile oder Peru waren dabei die Regel.
Having for a long time been an area of research mainly reserved for specialists in international relations and political scientists, the international organizations (IOs) that first emerged in the twentieth century’s pre-World War II decades have also attracted renewed interest of historians for the past several years. This development has its place in a movement of ‘globalization’ within the discipline, evident in both themes and practice. The nation, the region, and the village remain pertinent units for study, but the historian interested in global history approaches them in relation to other spaces, reflecting renewed attention to connections and forms of circulation traditionally neglected in specialized studies. As will be argued below, in their role as observation posts, the IOs and international associations here comprise an especially productive area of research, in effect opening access to work on complexly intermeshing ‘circulatory regimes’.
Im Jahr 2000 bemerkte Wilfried Loth, dass unter deutschen Historikerinnen und Historikern bislang selten systematisch über Internationale Geschichte nachgedacht worden sei. Bis heute ist mit dem Ansatz der Internationalen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts eher eine Perspektive auf die „große Politik“ und auf die klassische Diplomatiegeschichte verbunden. Daran hat auch die inzwischen weitgehend etablierte Umbenennung der „Geschichte der internationalen Beziehungen“ in „Internationale Geschichte“ nur wenig geändert. Die Bände, die in der von Loth gemeinsam mit Eckart Conze, Anselm Doering-Manteuffel, Jost Dülffer und Jürgen Osterhammel seit 1996 herausgegebenen Reihe „Studien zur Internationalen Geschichte“ erschienen sind, öffneten sich zwar durchaus sozial- und kulturhistorischen Ansätzen. Das Repertoire der Globalgeschichtsschreibung ist hier aber noch nicht ausgeschöpft worden. Innovative globalhistorische Monographien, wie beispielsweise Sebastian Conrads Untersuchung zu „Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich“, liegen für die deutsche Zeitgeschichtsforschung noch nicht vor. Für das ‚lange 19. Jahrhundert‘ hat Conrad es verstanden, gerade das Deutsche Kaiserreich als nationales Gebilde in den Bezugsrahmen Internationaler Geschichte einzuspannen und hierbei den deutschen Nationalismus „auch als Produkt und Effekt von Interaktionen, Austausch und Zirkulation innerhalb einer zunehmend vernetzten Welt“ zu analysieren.
In spite of the prevailing myth, neither the political self-conception of West Berlin that emerged soon after the war nor the city’s international image were mere by-products of the Cold War. They resulted, rather, from a binational campaign that was based on strategic considerations. Returned Social Democratic émigrés, sympathetic American officials, and certain journalists convinced the German and the American public of West Berlin’s heroic defence of democratic ideals with remarkable speed and success. They could rely on both tangible and intangible resources for their campaign of erecting an ›Outpost of Freedom‹ in what was left of the former Reichshauptstadt. While the heady Weimar days of pre-war Berlin provided countless images that appeared to authenticate this new narrative, the transatlantic network was also able to draw on considerable financial resources and media outlets to promote it. This article seeks to outline the historical actors behind the project and the narratives on which they drew.
Das Ende des Kalten Krieges oder wie man alt wird. Man wird unwillkürlich zum Historiker der Zeit, deren Zeitgenosse man gewesen ist. Eine Epoche ist zu Ende gegangen, und wenn man diese beschreibt, beschreibt man zugleich auch ein Stück des eigenen Lebens, und umgekehrt: Das individuelle Leben fällt mit der historischen Zeit zusammen. Das hat nichts mit Selbstliebe oder Selbstüberschätzung zu tun. Man merkt es, wenn man mit jungen Leuten zusammen ist, mit denen man über Ereignisse spricht, die vor ihrer Geburt liegen, die man selbst aber miterlebt hat. Man berichtet aus der eigenen Zeit, die ihre Vorzeit ist. Es ist lohnend, sich dieser Zeit genau zu erinnern. Die subjektive Erinnerung bewahrt Details, Nuancen, Valeurs, die im Betrieb der Geschichtsforschung entweder gar nicht vorkommen oder später, wenn man deren Fehlen bemerkt, mühsam rekonstruiert werden müssen.
Jenseits von Zeit und Raum. Flugreisewerbung in den USA und Westdeutschland während der 1970er-Jahre
(2017)
»Getaway. To places you always wanted to see but never thought you could«, lautete die Überschrift einer Werbekampagne der amerikanischen Fluggesellschaft Trans World Airlines (TWA) im Jahr 1971. In großformatigen, mit Farbfiltern hervorgehobenen Bildern von Sehenswürdigkeiten wie dem britischen Parlamentsgebäude in London, dem amerikanischen Grand Canyon oder dem Taj-Mahal-Mausoleum im indischen Agra bewarb sie Reiseziele auf verschiedenen Kontinenten.
In der gegenwärtigen Debatte über Imperien wird die konstitutive Bedeutung des Raumes hervorgehoben. Seine Repräsentation in Gestalt von Karten wird aber bisher selten zum Forschungsgegenstand gemacht, obwohl Untersuchungen zum British Empire auf den Zusammenhang von kognitiven und materiellen Karten für die Ausbildung eines Raumbewusstseins innerhalb des Imperiums und in Bezug zur Welt verweisen. In der Sowjetunion war die Produktion und Verbreitung von Karten von Anfang an ein grundlegender Bestandteil imperialer Politik, weil das dokumentierte Wissen über das Territorium, seine Strukturen und Bewohner eine Voraussetzung für eine umfassende Sowjetisierungspolitik darstellte. Einer der sowjetischen „Vermesser“ war der ungarische Kartograph Alexander (Sándor) Radó, der seit den 1920er-Jahren an der Produktion sowjetischer und europäischer Atlanten beteiligt war. Die Karten sind in mehrfacher Hinsicht Dokumente eines imperialen Konstruktionsprozesses, weil sie einerseits als Projektionsfläche genutzt wurden und andererseits die innenpolitische Entwicklung in der Sowjetunion spiegelten und beeinflussten.
Katalysator wider Willen. Das Humboldt Forum in Berlin und die deutsche Kolonialvergangenheit
(2019)
Das neu-alte Schloss steht bereits. Die Baugerüste sind Ende 2018 gefallen und haben den Blick auf die rekonstruierten Barockfassaden an der Nord-, West- und Südseite freigegeben. Lediglich die moderne Ostfassade lässt von außen erkennen, dass es sich bei dem Gebäude auf dem Berliner Schlossplatz nicht wirklich um das alte Stadtschloss handelt, sondern um eine Teilrekonstruktion. In deren Innerem soll ab Ende 2019, im 250. Geburtsjahr Alexander von Humboldts, das Humboldt Forum etappenweise eröffnen. Neben Sonderausstellungsflächen, Veranstaltungsräumen und einer Ausstellung zur Geschichte des Ortes im Erdgeschoss sowie Ausstellungen des Landes Berlin und der Humboldt-Universität im ersten Obergeschoss wird es im zweiten und dritten Obergeschoss die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst beherbergen, die beide zu den Staatlichen Museen zu Berlin gehören und damit Teil der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sind.
Keine Stunde Null. Sozialwissenschaftliche Expertise und die amerikanischen Lehren des Luftkrieges
(2020)
Alle Kriegsparteien bombardierten im Zweiten Weltkrieg Ziele, die lange Zeit als zivil gegolten hatten. Diese sogenannten strategischen Bombardierungen wurden im Auftrag der US-Regierung ab dem Kriegsende mit einem Stab von über 1.000 Mitarbeitern in Deutschland und Japan aufwendig evaluiert (United States Strategic Bombing Survey, USSBS). Mithilfe ambitionierter Sozialwissenschaftler gelang es der jungen US Air Force, den strategischen Luftkrieg als militärisch und psychologisch entscheidend darzustellen, und so taten sich für die Luftkriegsexperten auch nach 1945 attraktive neue Beschäftigungsfelder auf. Die Wissenschaftler argumentierten, sie seien in der Lage, methodisch abgesichert einen schnellen und vermeintlich »sauberen« Krieg aus der Luft zu planen. Der Aufsatz stellt die bisher kaum erforschten Logiken und Folgen dieser Kooperation sowie die behaupteten Lehren des Weltkrieges für den Korea- und den Vietnamkrieg dar. Damit hinterfragt er das gängige Verständnis einer radikalen Zäsur, die der erste Einsatz der Atombombe mit sich gebracht habe, und plädiert für einen neuen Blick auf die Militär-, Gewalt- und Wissensgeschichte des »Kalten Krieges«.
Im Jahr 1963 veröffentlichte der Religionssoziologe Thomas Luckmann ein nur 83 Druckseiten langes Buch mit dem eher unscheinbaren Titel „Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft“. Das schmale Bändchen war zunächst einmal ein Eingriff in eine aktuelle und kontrovers beurteilte Praxis: die Nutzung religions- und kirchensoziologischer Erhebungen und Daten als „Hilfswissenschaft“, deren „Probleme“, so Luckmann, „von den institutionellen Interessen religiöser Organisationen bestimmt“ würden. Damit spielte Luckmann, der selbst empirische Erhebungen zur religiösen Praxis in protestantischen Gemeinden durchgeführt hatte, auf den engen „positivistischen“ methodischen Rahmen vieler pastoralsoziologischer Untersuchungen an, die von katholischen wie protestantischen Bistümern seit Anfang der 1950er-Jahre durchgeführt worden waren. Solche Studien erhoben zum Beispiel Sozialdaten von Kirchenbesuchern oder Imagewerte verschiedener pastoraler Dienstleistungen, um den Bistumsleitungen Anhaltspunkte für die Neuordnung seelsorglicher Angebote zu liefern. Doch für Luckmann verfielen diese empirischen Erhebungen nicht nur wegen der kurzschlüssigen kirchlichen Verwertungsinteressen und ihrer Fokussierung auf klar operationalisierbare, durch Teilnahme am Ritual definierte Formen des Religiösen der Kritik. Problematisch erschien ihm mehr noch die damit verbundene Einschreibung in ein Säkularisierungsparadigma, das ganz eindimensional an der „zurückgehenden Reichweite der Kirchen“ orientiert war.
Kolonialkrieg, Globalstrategie und Kalter Krieg. Die Emergencies in Malaya und Kenya 1948–1960
(2005)
Kein Staat der Welt hat während des Kalten Krieges öfter Krieg geführt als Großbritannien. Obwohl das Königreich ein Hauptakteur des Ost-West-Konfliktes und die größte Kolonialmacht der Erde war, erklären sich diese „heißen Kriege" im Kalten Krieg weder aus der Blockkonfrontation noch aus der Logik eines kolonialen Freiheitskampfes wirklich hinreichend. Man kann diese Kriege nur verstehen, wenn man sie als Resultate einer auf die Weltmachtrolle und das Selbstverständnis als Imperialmacht zentrierten Kollektivmentalität in den politischen und militärischen Eliten des Mutterlandes begreift. Die „heißen Kriege" waren in erster Linie ein Ausfluss globalstrategischen Sicherheitsdenkens. Der Artikel zeigt dies am Beispiel der Emergencies (Ausnahmezustände) in Malaya und Kenya, die für die strategische Verteidigung der Indikregion bedeutsam waren.
Taylors Name steht heute – mit dem Begriff „Taylorismus“ – für Arbeitszerlegung und Dequalifizierung. In seinem vielfach nachgedruckten Hauptwerk „The Principles of Scientific Management“ fasste der amerikanische Ingenieur und Rationalisierungsberater Frederick Winslow Taylor (1856–1915) vorhandene heterogene Rationalisierungsvorschläge und -maßnahmen sowie eigene Überlegungen zu einer plakativen Lehre zusammen. An ihr entzündeten sich in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg heftige Auseinandersetzungen um die Organisation der Fabrik und die Gestaltung industrieller Arbeit.
Dieses Themenheft trägt den Titel „Die 1970er-Jahre - Inventur einer Umbruchzeit“. Wie schwierig ihre Bilanzierung ist, deutet schon der am Ende des Jahrzehnts von Jürgen Habermas lancierte Versuch einer Ortsbestimmung mit dem Titel „Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘“ an. Die Beiträger dieser Sammelbände versuchten „Begriff und Würde der Moderne“ gegen eine befürchtete konservative Wende zu verteidigen. Weit weniger Aufmerksamkeit widmeten die meisten von ihnen dem Beginn eines fundamentalen Strukturwandels, der das Ende der klassischen Industriegesellschaft signalisieren und das sozialliberale Zukunftsprojekt gefährden sollte. Aus heutiger Sicht vermitteln die Essays von 1979 eher den Eindruck einer verbreiteten Ratlosigkeit, als dass sie zum Verständnis der beginnenden ökonomisch-sozialen Strukturkrise beitragen würden. Originelle Denker wie Claus Offe erkannten durchaus bestimmte Tendenzen des Wandels, fassten ihre Beschreibungen und Deutungen aber in höchst zeitgebundene und normativ aufgeladene Begriffe („Spätkapitalismus“ etc.).
Ganz im Freud’schen Sinne war die deutsche Sprache für Theodor W. Adorno das von Anfang an Vertraute, das vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus, der Erfahrung von Verfolgung und Exil sowie dem Wissen um die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden jedoch zum Unvertrauten wurde. Gerade deshalb, so könnte man meinen, hielt Adorno beharrlich am Ideal eigener, »authentischer« Sprachverwendung als Muttersprachler fest, als sei seine Sprache ein autonomer Bereich. Zugleich richtete sich seine Sprachkritik aber gleichsam »objektiv« auf den mit formelhafter Sprachverwendung einhergehenden gesellschaftlichen Erfahrungsverlust. Unter dieser spannungsreichen Doppelperspektive reflektierte Adorno sein Verhältnis zur deutschen Sprache und die Funktion von Sprache als Medium des Denkens in einer Vielzahl von Texten. Während in einigen davon das Deutsche als Muttersprache vor allem ein identitätsstiftendes Moment bedeutet und als biographische Klammer nach der Zäsur von Exil und Holocaust eine Verbindung zur Kindheit herstellt, steht einem solchen emphatischen Verständnis des Deutschen die Analyse entleerter, formelhafter Sprachverwendung in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft gegenüber. So deutet sich an, dass der Remigrant Adorno in der verwalteten Welt nach dem »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) in der deutschen Sprache sprachmächtig agieren konnte, während er zugleich einen allgemeinen Erfahrungsverlust konstatierte. Der Spannung, ja dem Changieren Adornos zwischen radikaler Sprachkritik einerseits und Idealisierung der deutschen Muttersprache andererseits möchte ich hier in fünf Schritten nachgehen.
Wie wirkte sich die materielle Beschaffenheit von Kunstgegenständen auf den Kunstmarkt und seine Akteure aus? Alarmiert durch den schlechten Zustand, in dem sich die öffentlichen Kunstsammlungen präsentierten, entwickelte sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein naturwissenschaftlich-technologischer Fachbereich zur Analyse von Kunstmaterialien, der durch stete Innovationen bis heute dynamisch geblieben ist. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse steigerten den Aufwand immens, der betrieben wurde, um Kunstwerke sachgerecht unterzubringen, zu versorgen und zu transportieren. Folglich beeinflussten sie auch die Sichtbarkeit und den ökonomischen Wert von Werken bildender Kunst. Die naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden unterstützten zudem die Authentifizierung. Damit verringerten sie den Bestand anerkannter Originalwerke und vergrößerten zugleich die Sicherheit bei Kaufentscheidungen. Da sie dem Wahrnehmungsapparat der Menschen in dieser Frage teilweise überlegen waren, erschütterten die neuen Technologien das menschliche Selbstverständnis dabei grundlegend. Eindeutige Urteile ließen auch die naturwissenschaftlichen Befunde allerdings längst nicht immer zu.
In der westdeutschen Universitätsmedizin galt Stress zunächst als deskriptive Laborbeobachtung und nur wenig origineller Versuch des Hormonforschers Hans Selye, die Regulationsmechanismen des Körpers mit einem ganzheitlichen Konzept zu beschreiben. Selyes in Kanada entwickelte Ansätze fanden in der Bundesrepublik kaum positive Resonanz; das Stresskonzept schien in den 1950er-Jahren keine Zukunft zu haben. Dies änderte sich in den 1960er-Jahren, als Stress über das Risikofaktoren-Modell mit der Diskussion um Herz- und Kreislauferkrankungen verbunden wurde. Stress wurde nun Leitbegriff und Forschungsressource von Disziplinen wie Sozialmedizin, Psychosomatische Medizin, Arbeitsmedizin und Präventivmedizin. Um 1970 trat zu den Bezugsebenen »Zivilisation« und »Gesellschaft« noch »Umwelt« hinzu. Insbesondere drei Bedrohungsszenarien erwiesen sich als Stimuli der medizinischen Stressforschung: Überbevölkerung und Verstädterung, Verkehr und Lärm sowie der Wandel der Arbeitswelt. Weit über wissenschaftliche Verwendungen hinaus wurde der Stressbegriff populär, weil er zeitdiagnostisches Deutungspotential gewann und sich als eine Verständigungsplattform der Verunsicherten eignete.
Seit der Industrialisierung gehören Auslandsreisen zu den bevorzugten Informations- und Wissensquellen deutscher Unternehmer. Wichtigstes Reiseland war in der Frühphase der Industrialisierung zunächst England als „first industrial nation“. Deutsche Unternehmer importierten von dort technische Innovationen und Know-How, auf legalem oder auch auf illegalem Wege und in Form von Industriespionage. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurden die USA für deutsche Unternehmer interessanter, wohingegen Japan erst weit nach dem Zweiten Weltkrieg ins Blickfeld geriet. Während zwischen den „westlichen“ Industrienationen der Informationsfluss vergleichsweise unproblematisch verlief, gab es im japanischen Fall erhebliche interkulturelle Hürden zu überwinden.
Menschen schreiben, Menschen notieren. Papierne (heute auch digitale) Gedächtnisstützen halten fest, was sich im Kopf der oder des Schreibenden abspielt, um es für kurze oder längere Zeit zu sichern und zu übertragen. Termine, Kontakte und Adressen werden besonders oft verschriftlicht, da es sich um Informationen handelt, die präzise wiedergegeben werden müssen. Jeder einzelne Datensatz (eine Adresse, Telefonnummer, Ort und Zeit eines Treffens, Kontakte zu einer bestimmten Person) ist in sich eher trocken und schwer zu merken, die Verschriftlichung verwaltet also und assistiert unserer Erinnerung. An der Schnittstelle zwischen Alltagslogistik, Sozialleben und Erinnerung sind Adressbücher Hilfsmittel und Kulturtechnik zugleich. Das Adressbuch als Gegenstand dient im Sinne Bruno Latours der Delegation, da sein*e Benutzer*in Informationen auslagern kann. Dadurch werden Adressbücher fester Bestandteil von Netzwerken, welche ohne diese Niederschrift nicht aufrechtzuerhalten wären. Das lässt sich am Beispiel europäischer Netzwerke in London während des Zweiten Weltkrieges darlegen: anhand eines edierten »Who’s Who« und des persönlichen Adressbuches des Juristen René Cassin.
Seit Oktober 2010 ist die Datenbank LONSEA („League of Nations Search Engine“) im Internet unter http://www.lonsea.org zu erreichen. Das Projekt, das am Exzellenzcluster „Asia and Europe in a Global Context“ der Universität Heidelberg angesiedelt ist, erschließt Informationen zu internationalen Organisationen, ihrem Personal und ihren Aktivitäten in der Zeit zwischen 1918 und 1945.1 Durch die Sammlung dieser Angaben in einer relationalen Datenbank ist es erstmals möglich, die von der bisherigen Forschung beschriebenen Netzwerke in größerem Rahmen nachzuweisen und zu visualisieren. LONSEA ermöglicht damit eine neue Sicht auf den Völkerbund, die herkömmliche institutionen-, personen- und nationalgeschichtliche Ansätze erweitert. Der vorliegende Beitrag soll einerseits neue Möglichkeiten zur Verknüpfung von Quellenmaterial vorstellen und andererseits einen Zugang zu einer netzwerkbasierten Globalgeschichte aufzeigen.
Während des Zweiten Weltkrieges flüchteten etwa 150.000 Europäer vor Krieg und Besatzung nach Großbritannien. Unter ihnen waren Angehörige der vormaligen europäischen Regierungen, Verwaltungen, politischen Eliten, Militärs und Königshäuser. Aus ihren Reihen bildeten sich Nationalkomitees und Exilregierungen, die die nationale Souveränität ihrer Länder trotz deutscher Besatzung aufrechterhalten und als Alliierte für einen gemeinsamen Sieg über Hitler eintreten wollten. Im Zentrum Londons lebten und arbeiteten sie in enger Nachbarschaft. Rechtlich betrachtet erreichten die Mitglieder der Exilregierungen London meist als individuelle Flüchtlinge; sie verließen die Stadt überwiegend als Angehörige anerkannter Regierungen. Eine genauere Untersuchung des »London Moment«, dieser formativen Phase europäischer Politik, bricht den vermeintlichen Gegensatz zwischen Macht und Ohnmacht auf und trägt so zur Reflexion über Flucht und Flüchtende bei. Der Aufsatz erläutert die Entwicklung des rechtlichen Status der Exilanten und folgt vier Fallbeispielen von der Ankunft zur Etablierung in London.
The newly emerging historical scholarship on the era ›after the boom‹, on the marketization of societies in the wake of the neoliberal political reforms, deregulation, and privatization starting in the 1970s, has emphasized this threshold as an epochal break that was driven by large-scale structural shifts in the global economy, in social relations, and in cultural identities. This new accentuation of the economic and social transformation has, for good reason, eclipsed older historical traditions that focused on events, discourses, specific interests, and individual actors. The marketization of social relations is thus often considered to be the result of processes beyond the reach and scope of purposeful actors that promoted specific societal changes. While this historical focus is quite right in denying independent causal status to specific agents and the self-aggrandizement of vain leaders and their intellectual entourage, it tends to obscure the historical genesis of ideas and concepts that later became critical components of political leadership, and the specific constellations of interests, knowledge and actors that did prefigure and originally promote the marketization of economic and political institutions.
„Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Sebstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“
Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verreiste die Mehrheit der Westdeutschen mindestens einmal im Jahr. Die Urlaubsreisen wurden zunehmend als Pauschalreisen ins Ausland unternommen und stellten für die meisten Haushalte auch in Krisenzeiten ein zentrales Konsumgut dar. Um sich dem Reiseverhalten eines Großteils der Bevölkerung anzunähern, werden hier Pauschalurlaube in Spanien untersucht. Dank des wachsenden Flugverkehrs entwickelte sich gerade dieses Land in den 1970er- und 1980er-Jahren zum beliebtesten Auslandsreiseziel der Westdeutschen. Von der zeitgenössischen Konsumkritik wurden Pauschalurlaube in Spanien jedoch häufig negativ bewertet; individuelle Ansprüche spielten bei dieser Urlaubsform angeblich keine Rolle. Anhand der Urlaubspraktiken, wie sie sich indirekt aus den Angeboten der Veranstalter sowie zusätzlich aus Fotoalben und Erinnerungsberichten erschließen lassen, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Massentourismus und die Erfüllung individueller Vorlieben schlossen sich nicht aus; zudem waren Pauschalreisen mitunter der Einstieg in eine selbstständigere Begegnung mit dem Urlaubsland. Der Aufsatz verdeutlicht damit auch das Potential praxeologischer Ansätze zur Erforschung des bundesdeutschen Massenkonsums insgesamt.
Die Geschichte von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemals deutschen Ostgebieten sowie aus Ostmittel- und Osteuropa ist seit den 1990er-Jahren wieder zu einem bedeutenden Thema der breiteren Öffentlichkeit geworden. Dies zeigen verschiedene Publikationen, Fernsehfilme und nicht zuletzt die Debatte um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“. Die Hinwendung der Öffentlichkeit zu diesem Thema war von einem Perspektivwechsel in der Geschichtswissenschaft begleitet. Auch hier fand und findet das Thema ein verstärktes Interesse, das sich in zahlreichen Tagungen und oftmals vergleichenden fachwissenschaftlichen Publikationen niederschlägt.
The Production of Space by Henri Lefebvre (1901-1991) is widely considered to be one of the most important books which facilitated the ‘spatial turn’ in social and cultural theory by introducing space, as an interpretative concept, into sociological, political, economic, historical and cultural analysis. This reorientation was the programmatic objective of this book which aimed to relate and define ‘all possible spaces, whether abstract or real, mental or social’ (p. 299), and thus account for a wide range of spaces, from those of the body to those of the planet.
Die Geschichte der „Chinesenviertel“ und chinesischer Migranten in europäischen Metropolen demonstriert, wie „Fremde“ zur Gefahr für die nationale Arbeit und für die Großstädte stilisiert wurden; sie zeigt aber auch, wie Migranten wirtschaftliche Nischen besetzen und schließlich als kulturelle Bereicherung akzeptiert werden konnten. In Hamburg präfigurierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein ausgeprägter Hygiene-Diskurs die vehemente Ablehnung, während sich die Behörden in Rotterdam anfangs indifferent verhielten und die dortige Bevölkerung in den frühen 1930er-Jahren durchaus Empathie mit arbeitslosen Chinesen zeigte. In London wiederum schlug die anfängliche Toleranz seit dem Ersten Weltkrieg in Abwehr um. Ab den 1950er- und 1960er-Jahren setzte mit dem großen Erfolg chinesischer Gastronomie eine neue Phase chinesischer Migration ein, die nun als kulinarische Bereicherung der urbanen „Konsumgesellschaft“ allgemein anerkannt wurde. Während ein kosmopolitischer Charakter von westeuropäischen Metropolen seit den 1970er-Jahren als mehr oder minder selbstverständlich gilt, ist die Geschichte chinesischer Migranten in Westeuropa ein gutes Beispiel für den langen und unebenen Weg zur multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft.
Cemal Kemal Altun nahm sich am 30. August 1983 durch einen Sprung aus dem sechsten Stock des Berliner Verwaltungsgerichts das Leben. Damit wollte er seiner Abschiebung in die Türkei und der dort drohenden Folter entgehen. Dreizehn Monate Auslieferungshaft und ein zermürbendes Rechtsverfahren machten den »Fall Altun« zum Symbol der Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit bundesdeutscher Ausweisungspraxis. Der Hohe Kommissar für Flüchtlingsfragen der Vereinten Nationen ermahnte die deutschen Behörden, ihre inhumane Behandlung von Migrant*innen zu beenden. Der Europarat protestierte, und die Europäische Kommission für Menschenrechte in Straßburg wurde hinzugezogen. In der Bundesrepublik traten Aktivist*innen in Hungerstreik, und etwa 10.000 Menschen setzten ein Zeichen, als sie Altuns Leichenzug durch West-Berlin in einen Protestmarsch verwandelten. Anti-Abschiebe-Proteste nahmen zu und institutionalisierten sich Mitte der 1980er-Jahre in Form von Kirchenasyl, Flüchtlingsräten, Pro Asyl, Fluchtburg-Bewegung, migrantischer Selbstorganisation und antirassistischen Initiativen.
Für dieses Buch muss man sich etwas Zeit nehmen. Ich hatte die gut 700 Seiten umfassende amerikanische Originalausgabe von »Mechanization Takes Command« (den Titel kürzte Giedion in seinen Notizen mit dem Akronym »M.T.C.« ab) im Sommer 2017 im Amtrak California Zephyr auf meiner Reise von Greenriver, UT, nach Chicago, IL, im Gepäck. Diese Reise bot aktualisiertes Anschauungsmaterial zu Giedions Sondierungen der US-amerikanischen Industrialisierungsgeschichte. Sie folgte jener Eisenbahnlinie, welche Kalifornien (wo die Frontier-Gesellschaft Amerikas im ausgehenden 19. Jahrhundert an ihr Ende gelangte) mit Chicago verbindet (der nach dem großen Brand von 1871 zur Industriemetropole avancierten Stadt am Lake Michigan). Dazwischen öffnete sich der Midwest, dessen verrostete und verlassene industrielle Infrastruktur (Bahnhöfe, Fabriken, Brücken, Städte) durch das Zugfenster ins Blickfeld geriet und somit den Endpunkt der von Giedion dokumentierten Entwicklungen brutal vor Augen führte. Die heruntergewirtschafteten Landschaften des Midwest und Giedions Streifzüge in ihre Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts flossen ineinander über. Etwa dann, wenn der Zug stillstand und mein Blick bei den Getreide-Elevatoren hängen blieb, wo sich die Eisenbahnlinien kreuzen und der Personenzug den unendlich langen Güterwagen, die von Diesellokomotiven angetrieben werden, den Vortritt lassen musste. Oder wenn ich beim mäandrierenden Durchblättern des Buches und dem Blick aus dem Zugfenster den Faden verlor und eindöste – und dann beim Eindunkeln jäh von den sleeping car attendants, welche die ausklappbaren Sitze für die Nacht mit ein paar Handgriffen zu Betten umwandelten, in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Oder im Nachfolgemodell des von George M. Pullman 1869 in seinem Patent beschriebenen Speisewagens, wo die Reisende aus Europa und Wählerinnen des amtierenden Präsidenten sich am gemeinsamen Tisch zum Verzehr von Burger, Steaks und Hot Dogs wiederfanden. Jenes Präsidenten, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Re-Industrialisierung abgehängter Regionen im einst prosperierenden Rostgürtel der USA versprach.
Die moderne Versicherungswirtschaft entstand als Reaktion auf die vielfältigen neuen Risiken, die sich mit der Industrialisierung entwickelten. Die verstärkte Risikoabsicherung war verbunden mit einem Denken in Wahrscheinlichkeiten und deren rechnerischer Bestimmung. Ende des 19. Jahrhunderts war die Versicherungsindustrie bereits voll entwickelt, und der Staat erklärte das Versicherungsprinzip zur Leittechnik der Risikovorsorge. Heute stößt die Versicherungswirtschaft aufgrund der global wirksamen ökologischen, ökonomischen und terroristischen Risiken jedoch an ihre finanziellen Grenzen; sie kann mit der raschen Expansion der Risiken kaum noch Schritt halten. Der Aufsatz skizziert die Anfänge von Versicherungen sowie die Durchsetzung des Versicherungsprinzips vor allem im Laufe des 19. Jahrhunderts. Er gibt einige Hinweise zur weiteren Entwicklung von Versicherungen im 20. Jahrhundert und lenkt den Blick schließlich auf die neuartigen Probleme, denen sich Versicherungen in der „Weltrisikogesellschaft“ des beginnenden 21. Jahrhunderts ausgesetzt sehen.
Rund 50 bundesdeutsche Unternehmen hatten während der Apartheid eigene Produktionsstätten in Südafrika. Wie legitimierten diese Unternehmen ihr Engagement? Nachdem gegenüber der Situation der schwarzen Bevölkerungsmehrheit lange eine Ignoranz vorgeherrscht hatte, wurde ab den 1970er-Jahren die Verbesserung der Arbeitsbedingungen schwarzer Beschäftigter ein erklärtes Ziel – als Folge ökonomischer Probleme (wie dem Fachkräftemangel) und eines steigenden politischen Drucks durch Kirchen und Gewerkschaften in der Bundesrepublik. Seit 1977 bildete der »Code of Conduct«, den die Europäische Gemeinschaft erließ, einen institutionellen Rahmen für die Menschenrechte aller Beschäftigten. Im zerfallenden Apartheid-Staat forderten westdeutsche Unternehmen während der 1980er-Jahre politische Reformen und etablierten mit den schwarzen Gewerkschaften stabile Verhandlungsbeziehungen. Anhand des Volkswagen-Konzerns und seiner Tochtergesellschaft Volkswagen of South Africa (VWoSA) wird dieser Prozess nachgezeichnet. Der Konflikt um die Apartheid zählt zu den Ausgangspunkten für die heutige Corporate Social Responsibility multinationaler Konzerne, mit der soziale Normen und Verpflichtungen auch für Tochterunternehmen festgeschrieben werden.
Die Mobilisierungskraft der Anti-Apartheid-Bewegungen, die die als rassistisch kritisierte Politik Südafrikas auf die internationale Agenda brachten, ist eines der zentralen Forschungsfelder für die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Apartheid und den Reaktionen in den westlichen Gesellschaften. Während in den 1960er- und 1970er-Jahren das Aktionsrepertoire der Anti-Apartheid-Bewegungen von Straßenkampagnen und Informationsarbeit geprägt war, wandelte sich in den 1980er-Jahren das Auftreten der US-amerikanischen und europäischen Apartheid-Gegner. Besonders das britische Anti-Apartheid Movement und sein Umfeld hatten erheblichen Anteil an der Etablierung des »Protest[es] gegen die Apartheid als Teil der Massenkultur insbesondere in der Musik«.
Wie hängen Arbeit und Geschlecht, Erfahrungen marginalisierter Männlichkeit und die Möglichkeiten des Zugangs zu (Erwerbs-)Arbeit zusammen? Dies war die Ausgangsfrage des vorliegenden Gesprächs. Ausdrücklich wollten wir dabei eine relationale Perspektive einnehmen, weil – je nach Kontext differierende – Vorstellungen und Praktiken von Männlichkeit nicht ohne Vorstellungen von Weiblichkeit zu verstehen sind und hegemoniale Männlichkeit auf marginalisierte Männlichkeiten verweist. Das Interesse am Thema erwuchs aus einem Forschungsprojekt zu »Maskulinität(en)«, das Cornelia Brink (Neuere und Neueste Geschichte, Historische Anthropologie) und Olmo Gölz (Islamwissenschaft, Iranistik) gemeinsam mit Kolleg*innen aus weiteren Disziplinen seit 2020 als Teilprojektleiter*innen im Sonderforschungsbereich 948 »Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne« an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg bearbeiten. Der Forschungsgruppe geht es darum, Heldentum und Männlichkeiten zusammenzudenken und das Heroische als – möglicherweise – zugangsregulierendes Paradigma für Positionen in Geschlechterordnungen zu problematisieren. In einer interdisziplinär besetzten Diskussionsrunde und mit dem Blick »von außen«, d.h. jenseits der Heldenforschung, sollte die Frage nach Zugang und Ausschluss, den damit verbundenen Wahrnehmungen, Handlungsoptionen und (vermeintlichen) Ansprüchen für den Zusammenhang von Männlichkeit und Arbeit erweitert werden. Neben ihrer jeweiligen fachlichen Spezialisierung aus Medizin/Psychoanalyse, Geschichte und Soziologie brachten die Beteiligten durch ihre nicht nur berufliche Sozialisation in Iran und in der Schweiz, in der (»alten« und »neuen«) Bundesrepublik und den USA sowie in der DDR und im vereinten Deutschland ganz unterschiedliche lebensgeschichtliche Zugänge ein. In einer Zeit, in der interdisziplinäre Zusammenarbeit sich als Versprechen ganz selbstverständlich in Anträgen findet, die geistes- und sozialwissenschaftliche Praxis dagegen weiter oft von wechselseitigen Abgrenzungen der einzelnen Fächer bestimmt zu sein scheint, sehen wir einen wichtigen Ertrag des Gesprächs in der Annäherung an einen gemeinsamen Problemzusammenhang aus verschiedenen fachlichen Perspektiven.
Die Pyrenäen bilden eine natürliche Grenze zwischen Frankreich und Spanien, zwischen dem europäischen Hauptland und der iberischen Halbinsel. Dort, wo sie nicht in den Himmel ragen, in ihren Tälern und auf ihren Passhöhen sowie an den Meeren, waren die Pyrenäen auch stets eine tierra de paso, eine Transitzone. An ihren östlichen Ausläufern gibt es zwei bedeutende Übergänge. Einer liegt im sanften, flachen Tal von La Jonquera und quert die Landesgrenze bei Le Perthus. Der andere kreuzt an der Küste am Coll dels Belitres zwischen Cerbère (Frankreich) und Portbou (Spanien). Daneben und dazwischen durchziehen kleine Wege die Landschaft, offizielle und inoffizielle, Pfade für Schmuggler, Verfolgte, Fliehende. Jede Gegend und jede Route hat ihre Konjunktur. Die Hoch-Zeit dieser Transitlandschaft, als sich die europäische Kriegs- und Verfolgungsgeschichte des 20. Jahrhunderts an dieser Grenze kristallisierte, war zwischen dem Winter 1938/39, als der spanische Krieg mit dem Sieg Francisco Francos endete, und den Jahren 1940/41, bevor im Sommer 1941 die systematische Vernichtung der europäischen Juden begann.
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist auch in Deutschland ein steigendes öffentliches und wissenschaftliches Interesse an kriegerischen Konflikten zu beobachten. War dieses Forschungsfeld lange vor allem Zeithistorikern und -historikerinnen vorbehalten, so interessieren sich zunehmend auch die Politik- und Sozialwissenschaften für das Gebiet, was sich an einer Fülle von Publikationen und Konferenzen zeigt. Besonders mit dem Erscheinen von Herfried Münklers Buch „Die neuen Kriege“ (2002) ist eine lebhafte Diskussion entbrannt. Münkler konstatiert in seinem Werk die Entstehung einer neuen Form von Kriegen: Die Kriegsakteure hielten sich nicht mehr an Regeln; die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten sei aufgehoben; und die Kriege hätten in erster Linie einen ökonomischen Hintergrund. Ob man nun von „neuen“, „asymmetrischen“, „kleinen“ oder „low-intensity-Kriegen“ sprechen will: Die AKUF distanziert sich von der Vorannahme, die aktuellen Konflikte seien eine gänzlich neue Entwicklung.
Nichts Besonderes. Bundesdeutsche Rüstungsexporte nach Israel in der sozialliberalen Ära (1969–1982)
(2020)
Auf breiter empirischer Grundlage überprüft der Aufsatz das gängige Bild, aus historischer Verantwortung habe die Bundesrepublik Deutschland den Staat Israel schon immer besonders großzügig mit Waffen beliefert. Im Fokus steht die Rüstungsexportpolitik der sozialliberalen Bundesregierungen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt. Anhand interner Regierungsakten sowie auch internationaler Datenbanken der Friedensforschung wird in komparativer Perspektive untersucht, welche Rüstungstransfers von 1969 bis 1982 mit Bonner Zustimmung an Israel und andere Empfängerländer gingen. Der jüdische Staat, so zeigt sich, genoss als Abnehmer westdeutscher Militärware keineswegs eine bevorzugte Stellung – nicht einmal im Vergleich zu arabischen Ländern, mit denen er sich im Kriegszustand befand. Was den Bonner Kurs auf diesem Feld bestimmte, war nüchternes politisches und ökonomisches Eigeninteresse, nicht das Postulat, wegen des Holocaust gegenüber Israel in besonderem Maße verpflichtet zu sein. Der Befund sensibilisiert für die Brüche in der Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen, auch für die Zusammenhänge zwischen Erinnerungskultur und Außenpolitik, die in der Bundesrepublik erst ab Anfang der 1980er-Jahre stärker zum Tragen kamen.
For centuries, nostalgia denoted homesickness, but current dictionary definitions indicate that these two concepts have parted ways and acquired discrete meanings. However, it is one thing to demonstrate that contemporary definitions of nostalgia and homesickness are distinct; it is another to show that the way people think about nostalgia and its characteristics corresponds to this lexicographic knowledge. In 2012, Erica G. Hepper and colleagues therefore asked laypeople to identify which features they considered most characteristic of the construct ›nostalgia‹ and found that respondents conceptualised nostalgia as a predominantly positive, social, and past-oriented emotion. In nostalgic reverie, one brings to mind a fond and personally meaningful event, often involving one’s childhood. The person tends to see the event through rose-coloured glasses and may even long to return to the past. As a result, he or she feels sentimental, typically happy but with a hint of sadness.
Europa ist ein »Kontinent der Nostalgie«. So jedenfalls betitelte der Publizist Markus Somm im November 2018 einen Artikel in der »Basler Zeitung«. »Die Europäer verzweifeln an der Gegenwart. Früher war alles besser«, lautete der Untertitel. Den Aufhänger lieferte eine repräsentative Umfrage der Bertelsmann Stiftung unter mehr als 10.800 EU-Bürger*innen über ihr Verhältnis zur Vergangenheit und die daraus resultierenden Einstellungen zu gegenwärtigen Problemlagen. Ungeachtet dessen, dass die Fragen der Bertelsmann-Studie als suggestiv und die Ergebnisdeutungen als vereinfachend kritisiert werden können, ist bemerkenswert, welchen Widerhall diese »Nostalgie-Studie« in der deutschsprachigen Presselandschaft fand. Dabei war es nicht nur das Statement »Früher war alles besser«, das zahlreiche Tageszeitungen wiederholten, sondern auch der Verweis auf die politische Wirkungsmacht des Gefühls der Nostalgie. Die Autorinnen der Studie selbst behaupteten, Nostalgie sei »ein mächtiges Mittel der Politik«. Ob die Politik dieses Gefühl instrumentalisiert oder Nostalgie in spezifischen Kontexten per se politisch aufgeladen ist, ließen sie allerdings unbeantwortet.
Der Bedeutungsvielfalt entsprechen unterschiedliche disziplinäre Zugriffe: Während die Soziologie und, in noch stärkerem Maße, die Psychologie der Nostalgie durchaus positive Effekte beimessen, ist sie kaum irgendwo schlechter beleumundet als in der Geschichtswissenschaft, die im Vergleich mit anderen Disziplinen bisher eher wenig Interesse an einer konzeptionellen Auseinandersetzung mit der Nostalgie gezeigt hat. Indem wir in diesem Themenheft Nostalgie-Diagnosen der Vergangenheit mit Reflexionen über die Gegenwart zusammenbringen und dabei verschiedene Zugänge inner- wie außerhalb der Geschichtswissenschaft vorstellen, wollen wir zu einem differenzierteren Umgang mit kulturellen und politischen Aspekten der Nostalgie, ihrer Ambivalenz und Bedeutungsvielfalt, beitragen sowie eine stärkere zeitgeschichtliche Einordnung des Phänomens anregen.
Noch immer liegen NS- und Genozidforschung weit auseinander – und sind zugleich doch eng miteinander verbunden. Denn zum einen bildet der Holocaust für die Genozidforschung bis heute die Matrix der unterschiedlichsten Typologieversuche. Zum anderen gründet die These von der Singularität des Holocaust notwendig, obgleich meist nur implizit auf dem Vergleich mit anderen Massenmorden. Dennoch arbeiten beide Disziplinen bis heute vielfach nebeneinander her. NS-Forscher ignorieren die Forschungsergebnisse zu den übrigen Völkermorden im 20. Jahrhundert weitgehend und perpetuieren damit die Singularitätsthese durch den eigenen eingeengten, überwiegend nationalgeschichtlich-deutschen Horizont. Die zahlreichen Bücher zu Genoziden basieren hingegen oft auf einem Kenntnisstand des Holocaust, der aus den 1970er-Jahren stammt, und beziehen sich damit sich auf eine gänzlich veraltete Matrix, die wiederum die eigenen Schlussfolgerungen verzerrt.
Im Dezember 2020 gab der schwedische Möbelhersteller IKEA bekannt, die weltweite Distribution seines gedruckten Warenkatalogs nach 70 Jahren einzustellen. Im deutschsprachigen Feuilleton wurde diese Nachricht zum Ereignis: »Auch das noch: Den IKEA-Katalog gibt’s nur noch digital«, stellte Jens Jessen in der »ZEIT« leicht ironisch fest. Angesichts der Unsicherheiten, die von der globalen Covid-19-Pandemie ausgingen, schien im nun umso wichtiger gewordenen Bereich des Wohnens eine weitere Konstante des Alltagslebens wegzubrechen. Der ausbleibende Katalog veranlasste einige Kommentator*innen zu sehr persönlichen Formen der Anteilnahme und Abschiedsbekundung. Mitunter ließen diese, nostalgisch gefärbt, das eigene Erwachsenwerden Revue passieren – schließlich waren die IKEA-Kataloge in den Industriestaaten weltweit ein Teil davon. So erscheint der Möbelkatalog als Medium zum Träumen, als warenästhetischer Coming-of-Age-Roman, der Jugendliche im Akt des Durchblätterns von Erwachsenenleben und Unabhängigkeit fantasieren lässt; als Schwelle in eine selbstständige, bessere Zukunft: »Du warst das Fenster, das reale Einrichtungshaus die Tür.« Das IKEA-Du, das in den Katalogen und Einrichtungshäusern propagiert wird – die Bundesrepublik hat es dankend umarmt und vielfach verflucht.
Die historische Migrationsforschung steht mitunter vor dem Problem, dass viele Methoden und Materialien, die in den übrigen Sozialwissenschaften zum Standard gehören, nicht zur Verfügung stehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die häufig stark betonte quantitative oder administrativ-juristische und politische Perspektive erweitert werden soll auf sozialkulturelle Phänomene, etwa auf Fragen der Konstitution von Gruppen und Gemeinschaften, der Identitätsbildung und des Identitätswandels sowie der Vielfalt der Adaptionsstrategien und ihrer Motivationen. Methoden der Oral History fallen praktisch völlig aus, wenn die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg oder gar noch frühere Epochen untersucht werden sollen. Auch schriftliche Zeugnisse aus dem Kreis der Wandernden bzw. Gewanderten sind äußerst rar, und wenn sie vorliegen, bilden sie einen sehr eng eingegrenzten Ausschnitt aus dem sozialen Spektrum des Migrationsgeschehens ab. Schwierig zu beantworten ist insbesondere die Frage nach dem Alltagsleben und den Sozialbeziehungen innerhalb von Einwanderergruppen sowie nach deren Beziehungen zu den vollberechtigten Staatsangehörigen.
Je weiter unser Abstand zum 20. Jahrhundert wächst, desto stärker wird das historiographische Bedürfnis, den gemeinsamen Handlungs- und Deutungsrahmen zu fassen, in dem der erbitterte Kampf um die gültige Ordnung der Moderne ausgetragen wurde. Was ließ Menschen in diesem 20. Jahrhundert nach einem erlösenden Messias rufen, die Allmacht ihrer jeweiligen Weltanschauung beteuern oder „Freiheit statt Sozialismus“ fordern? Die mit dem Namen von Reinhart Koselleck verbundene Untersuchung „Geschichtlicher Grundbegriffe“ liefert einen Zugang zur unsichtbaren Welt der Vorstellungen, die Wirklichkeit als Erlebnis- und Gestaltungsraum überhaupt erst konstituieren und gerade darum in ihrer gemeinsamen Prägekraft oft wirkmächtiger sind als die unterschiedlichen Geschehnisse und widerstreitenden Interpretationen der sichtbaren Welt. Es ist an der Zeit, dem auf die Herausbildung der Moderne gewidmeten Lexikon der geschichtlichen Grundbegriffe ein Archiv der zeitgeschichtlichen Leitbegriffe zur Seite zu stellen, das die Historizität der Moderne aus dem Blickwinkel ihrer Semantiken zu erfassen sucht.
Für eine Klanggeschichte des 20. Jahrhunderts gibt es innerhalb der Geschichtswissenschaft bisher noch kein ausgefeiltes theoretisches und methodisches Arsenal. Um ein solches zu entwickeln, lohnt sich daher ein Blick in diejenigen Nachbardisziplinen, die in der Analyse von Klängen und auditiver Wahrnehmung geübter sind. Dazu zählt in erster Linie die Musikwissenschaft, die es stets mit gestalteten Klängen (oder gestalteter Stille) zu tun hat und sich schon länger auch mit musikalischen Aufführungspraktiken und Aneignungsformen beschäftigt. Daneben entwickelte vor allen Dingen die Medienwissenschaft in der Auseinandersetzung mit akustischen und audiovisuellen Medien eigene Herangehensweisen an Klangphänomene, wobei besonders die Film Studies und die Radio Studies federführend waren. Schließlich beschäftigt sich auch die Soziologie seit Georg Simmel und Theodor W. Adorno – der nicht nur Soziologe und Philosoph war, sondern auch Musikwissenschaftler und Komponist – im Rahmen einer allgemeinen Soziologie der Sinne mit der gesellschaftlichen Funktion und Prägung des Hörens.
Kein reflektierter Historiker wird die geschichtliche Wirklichkeit mit den Begriffen verwechseln, die sie beschreibbar machen. Denn Begriffe bleiben regelmäßig hinter dieser Wirklichkeit zurück und schießen ebenso regelmäßig über sie hinaus. Da wir uns aber nicht sprachlos in der Welt bewegen, gehören die Begriffe zugleich der Wirklichkeit an, die uns historisch interessiert. Sie sind Träger einer in diese Wirklichkeit verwobenen Bedeutungsdimension. Deshalb gibt es Begriffsgeschichte. Im Folgenden wird dafür plädiert, das 20. Jahrhundert zum Gegenstand einer systematischen begriffsgeschichtlichen Untersuchung zu machen, seine Ereignis- und Entwicklungsgeschichte also im Medium seiner Grundbegriffe und ihres semantischen Wandels zu reflektieren. Mit den hier vorgelegten Thesen möchte ich die theoretischen Umrisse einer solchen Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts skizzieren und zugleich ihren Sinn und ihre Notwendigkeit begründen. Dabei gehe ich von drei wesentlichen Prämissen aus.
Seit dem Ende der 1960er-Jahre lieferte der für seine Sofortbildkameras und -filme bekannte US-amerikanische Fotografiehersteller Polaroid Apparate nach Südafrika, die zur effizienten Erstellung von Ausweisdokumenten für die schwarze Bevölkerung dienen konnten. Besonders in der Firmenzentrale in Massachusetts löste dies den Protest schwarzer Mitarbeiter/innen aus (Polaroid Revolutionary Workers Movement, PRWM). Die Fallstudie untersucht einige Pamphlete und Flugblätter, die sich elaborierter Manipulationen von Fotografien und einer aufrüttelnden Bildsprache bedienten. Die Bewegung setzte das Medium Fotografie gegen den Sofortbildhersteller ein, um diesen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Der Streit um den US-amerikanischen Handel mit Südafrika gelangte bis ins Repräsentantenhaus. Die Darstellung der Bild- und Konfliktgeschichte ermöglicht es zugleich, einen breiteren Blick auf die Genese und die konkrete historische Situation der ausweisbasierten Kontrollmechanismen im Apartheidstaat Südafrika zu richten. Der tatsächliche Einsatz der Polaroid-Technik für Überwachungszwecke lässt sich nicht eindeutig ermitteln, und der Protest hatte insofern Erfolg, als das Unternehmen seine Lieferungen nach Südafrika Ende der 1970er-Jahre stoppte.
This article discusses key aspects of the symbolic politics of the British and West German anti-nuclear-weapons movements in the late 1950s and early 1960s. More specifically, it examines the interaction between protest, politics, the media and the public sphere. It proposes two analyses of the protests: first, as the creation of a public sphere by means of "street politics" and, second, as a key to establishing an emotional community of protesters both in a national and transnational context. The media played a crucial role by enabling isolated protests to be perceived as parts of broader movements. The article argues that protests in both countries by and large adhered to, rather than transcended, the dominant national cultural codes. These movements thus exemplify the ways in which international relations, transnational links and national protest traditions interact.
Wirft man einen Blick in die Aids-Plakatsammlung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden oder in die Bestände zu diesem Thema im Deutschen Plakat Museum im Museum Folkwang in Essen, so findet man etwa dies: Eine Trans-Person mit rotgeschminkten Lippen und farbenprächtig schattierten Augenlidern blickt ernst und fordernd in die Kamera. »DON’T STOP PASSION, STOP AIDS«, steht in Versalien über dem Porträt geschrieben, das eine Plakatkampagne ziert, die vom Ministerium für Gesundheit in Luxemburg 1996 in Auftrag gegeben wurde. »Strength comes from being safe«, ist auf einem anderen Plakat von 1994 aus Neuseeland zu lesen, auf dem sich zwei junge Maori sinnlich in weißen Laken räkeln. Wieder ein anderes Plakat, das 1986 von der Gesundheitsaufklärungsorganisation HERO in Baltimore herausgegeben wurde, zeigt zwei muskulöse Männer in Unterhemden, deren Körperhaltung zwischen Posing und Striptease changiert. »You won’t believe what we like to wear in bed«, ist darauf zu lesen. Die Botschaft dieser drei Plakate ist angesichts der Slogans, des konkreten Imperativs im Plakattext (»Use Condoms«) oder des logoähnlich platzierten Kondoms am unteren rechten Plakatrand unmissverständlich: »Benutzt Kondome, sie schützen vor Aids«. Damit können die Plakate als Beispiele für eine Präventionsstrategie gelesen werden, die in vielen Ländern seit Mitte der 1980er-Jahre dominierte. Das Ziel lautete, über Infektionswege aufzuklären und für ein Verhalten zu werben, das vor Ansteckung schützen sollte. Dieser Konsens, auch »liberale AIDS-Politik« genannt, setzte verstärkt auf Eigenverantwortlichkeit; der Fokus lag vor allem auf Botschaften wie safer sex und safer use.
Im Frühjahr 2020 tauchten die Begriffe »Postkolonialismus«, »postkoloniale Theorie« und verwandte Kategorien mit ungewohnter Dichte in den deutschen Feuilletons auf, waren Gegenstand von Streitgesprächen im Radio und aufgeregten Twitter-Kommentaren. Zentraler Anlass für die ambivalente Hausse des Postkolonialismus war die Erklärung des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, der Kameruner Historiker Achille Mbembe sei wegen antisemitischer Positionen als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale »nicht geeignet«. Daraus entwickelte sich eine heftige und durchaus verwirrende Debatte, in der Klein und gleichgesinnte Mbembe-Kritiker*innen des Rassismus und McCarthyismus gescholten wurden, während andere anhand weniger Passagen aus Mbembes umfangreichem Werk nicht nur darauf insistierten, er sei Antisemit und »Israel-Hasser«, sondern zugleich die »postkoloniale Theorie« anprangerten, als deren wichtiger Vertreter Mbembe gilt. Irritierend daran war nicht allein der Gestus, mit dem beispielsweise so mancher Journalist auftrat, als sei er der erste, der Kritik am Postkolonialismus oder an Mbembe übe. Insgesamt fiel zudem auf, wie sehr die Debatte auf einer bestenfalls oberflächlichen Lektüre relevanter Texte basierte. Dies galt zum Teil auch für jene, die etwa die Antisemitismusvorwürfe gegen Mbembe vehement ablehnten. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die in der Öffentlichkeit rasch zu einer der führenden Verteidiger*innen Mbembes aufstieg, gestand zunächst freimütig ein, sie könne seiner Theorie eigentlich gar nicht so richtig folgen.
Seit den frühen 1970er-Jahren entstanden in vielen westeuropäischen Ländern »Dritte-Welt-Läden«. Sie waren bis in die späten 1980er-Jahre die wichtigste Verkaufsform des »Alternativen Handels«. Der Aufsatz interpretiert diese Läden als konsumkritische Konsumorte, in denen zeitgenössische Utopien eines gerechten, postkolonialen Welthandels symbolisch realisiert werden sollten. Der Aufsatz ordnet den »Alternativen Handel« zunächst in die ideengeschichtlichen Kontexte der 1960er- und 1970er-Jahre ein; anschließend wird die konkrete Verkaufspraxis, Inszenierung und Gestaltung der Läden analysiert. Mit Hilfe von Beispielen aus der Bundesrepublik Deutschland und aus Großbritannien werden zudem die Unterschiede in der Verwirklichung des Handelsmodells herausgearbeitet. Der »Alternative Handel« steht für ein neues Verhältnis von Konsum, Moral und politischem Protest in der Zeit »nach dem Boom«. Allerdings führt von den »Dritte-Welt-Läden« der 1970er- und 1980er-Jahre keine gerade Linie zu den heutigen Milliardenumsätzen mit »Fairtrade«-Produkten. Diese Marktexpansion ist eher eine Geschichte der Diskontinuität.
Im Gegensatz zu Teilen Asiens, wo die Unabhängigkeitskämpfe etwa in Indochina und Malaya durch langjährige militärische Auseinandersetzungen gekennzeichnet waren, kam es auf dem afrikanischen Kontinent nur in Algerien zu einem vergleichbar blutigen Dekolonisationskrieg. Das heißt freilich nicht, dass das Ende der europäischen Empires im Rest von Afrika ein friedlicher Prozess gewesen wäre. In der britischen Siedlerkolonie Kenia etwa mussten im Zuge des so genannten Mau-Mau-Aufstandes Tausende von Menschen ihr Leben lassen. Mehr als 1.000 Afrikaner wurden auf der Grundlage von hastig verabschiedeten Antiterrorgesetzen gehenkt, weit mehr als in jedem anderen kolonialen Konflikt einschließlich Algeriens.1 Doch es war vor allem der Algerienkrieg, welcher sich im Bewusstsein der Zeitgenossen mit spätkolonialer Gewalt und Gegengewalt verknüpfte.2 Und wie kaum ein zweiter Autor hat der intensiv am algerischen Unabhängigkeitskampf beteiligte Frantz Fanon damalige Debatten über den Prozess der Dekolonisation, über die Berechtigung antikolonialer Gewalt sowie über die Zukunft der „Dritten Welt“ geprägt.
Der Beitrag fragt nach den Anfängen und den Triebkräften der Ökonomisierung von Altenpflege in England und in der Bundesrepublik Deutschland. Schon vor den marktschaffenden Reformen der 1990er-Jahre stieg der Anteil der privatwirtschaftlichen Altenpflege deutlich an, wobei häufig Kleinunternehmen und Soloselbstständige dieses Segment der Sozialwirtschaft trugen. Der National Health Service and Community Care Act in England (ab 1990) und die Pflegeversicherung in Deutschland (ab 1995) beschleunigten die Ökonomisierung der Altenpflege auf spezifische Weise: In beiden Ländern entstanden Großunternehmen, die den Kommunalverwaltungen und Pflegekassen als mächtige Verhandlungspartner gegenübertraten. Privatisierung und Bürokratisierung griffen ineinander. Für Deutschland lässt sich zudem feststellen, dass der Bezug von Geldleistungen die Vorstellung von Pflege als bezahltem Wirtschaftsgut verbreitete. Wie weit die Vermarktlichung im deutschen Fall ging, wird indes erst deutlich, wenn man die Schattenwirtschaft der prekär und teils illegal Beschäftigten einbezieht. Der zeithistorische Blick legt offen, wie tief Strukturen der Ausbeutung in die Pflege eingeschrieben sind.
Im September 1976 veröffentlichte Heinrich Böll, Literaturnobelpreisträger und einer der meistbeachteten Schriftsteller der Bundesrepublik, die Besprechung eines gerade veröffentlichten Buches, dessen Autor zwar in der DDR lebte, seinen Text jedoch beim kleinen Werner Gebühr Verlag in Stuttgart zum Druck gegeben hatte. Faszination und Anziehung versprach der schmale Band schon wegen seiner Entstehung »im Grenzstreifen zwischen DDR und Bundesrepublik« (so Böll); deshalb wurde er unter einem Pseudonym – Carl-Jacob Danziger – veröffentlicht. Größer noch war das Interesse aber, weil es sich bei dem Buch mit dem ironisch distanzierten und in Anführungszeichen gesetzten Titel »Die Partei hat immer recht« um den autobiographischen Roman eines Schriftstellers handelte, der sich zuerst voll und ganz dem sozialistischen Selbstverständnis der DDR verschrieben, mit seinem Buch nun jedoch die Geschichte seiner Enttäuschungen vorgelegt hatte. »Danzigers schlimmste Sünde aber ist, daß er sich für Realismus und nicht für sozialistischen Realismus entscheidet«, fasste Böll die von Danziger niedergelegte Konfrontation seiner einstigen sozialistischen Utopie mit der Realität des DDR-Sozialismus zusammen. Hier lag die Geschichte einer Entfremdung und Abwendung vor. Auch deshalb wurde Danzigers Roman in der Bundesrepublik schnell große Aufmerksamkeit zuteil; Journalisten würdigten ihn als Ausdruck von »zivilem Ungehorsam«, »Auswurf des Gewissens« und einer persönlichen Abrechnung mit der Partei.
Der Axel-Springer-Verlag gilt als ein transatlantisch orientiertes Unternehmen, was seit 2001 sogar in den Unternehmensgrundsätzen verankert ist. Dies war jedoch nicht immer so. Der Beitrag beleuchtet anhand von Medienquellen sowie deutschen und amerikanischen Archivalien eine in der Forschung bisher kaum beachtete Skepsis des Verlegers und seiner Zeitungen gegenüber den USA. Springer schreckte in den 1950er- und 1960er-Jahren vor mitunter scharfer Amerikakritik nicht zurück; er wurde von der amerikanischen Administration intern als Gegner der USA eingestuft. Erst durch die Auseinandersetzung mit der „68er“-Bewegung und der Neuen Ostpolitik gewannen Verleger und Verlag ihr bis heute charakteristisches Profil. Von nun an wurde jede antiamerikanische Tendenz deutlich kritisiert und eine „Kontinuität unseres Kurses“ konstruiert (so Springer 1973). Diese Entwicklung steht paradigmatisch für die Geschichte des deutschen Konservatismus, der im Verhältnis zu den USA eine historische Kehrtwende zum Atlantizismus vollzog.
Die These von der „Wiederkehr der Götter“ hat die Sozial- und Geisteswissenschaften erfasst. Als hätte man nur auf das Stichwort gewartet, so bereitwillig wird die Behauptung von der Renaissance des Religiösen und seiner Entprivatisierung aufgegriffen, und so eifrig werden immer wieder Belege dafür beigebracht, dass das Verhältnis von Religion und Moderne neu zu denken sei. Nicht mehr die Spannung zwischen Religion und Moderne interessiert, sondern ihre Kompatibilität. Nicht mehr die negativen Auswirkungen der Moderne auf die Integrationsfähigkeit von Religion und Kirchen werden analysiert; im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die religionsproduktiven Potenzen der Moderne und deren religiöse Wurzeln. Folgt man Sozialwissenschaftlern wie Wolfgang Knöbl, Hans Joas, José Casanova oder Talal Asad, dann ist die Säkularisierungsthese strikt abzulehnen. Prozesse der Modernisierung und funktionalen Differenzierung führten nicht zwangsläufig zur Säkularisierung; zwischen beiden bestehe vielmehr ein kontingentes Verhältnis. Doch nicht nur in der Soziologie und Ethnologie häufen sich die skeptischen Stimmen gegenüber der Säkularisierungsthese. Der Abschied von ihr wird auch in den Geschichts- und Religionswissenschaften auf breiter Front vollzogen.
Der Religionsgeschichte ist vielfach vorgeworfen worden, die entscheidenden methodischen ‚turns‘ und ‚shifts‘ der allgemeinen Geschichtswissenschaft erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung vollzogen zu haben. In der Tat, zu lange wurde die Geschichte von Religionen und Konfessionen lediglich als eine Geschichte von Kirchen und Verbänden beschrieben: Ereignisse und Institutionen rangierten weit vor Praktiken und Mentalitäten. Dies gilt insbesondere für die Zeitgeschichte: Während die Erforschung der religiösen Formationen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit schon längst mit neueren kulturgeschichtlichen Ansätzen operierte, galt es bezogen auf das 19. und 20. Jahrhundert noch immer als innovativ, den Anschluss an die Sozialgeschichte zu vollziehen und hinter den Kirchen und Verbänden das konfessionelle „Milieu“ und Formen kollektiver „Frömmigkeit“ zu entdecken. Nach dem Abschmelzen fester, homogener Konfessionsmilieus spätestens seit den 1960er-Jahren stellt sich nicht nur empirisch die Frage: „Was kommt nach dem Milieu?“ Auch methodisch ist zu überlegen: Was kommt nach der Milieuforschung?
What is striking about recent research on residential care is not only its national bias and its tendency to neglect regional variations in ‘texture’, but also its preoccupation with contemporary issues and its lack of historical context. The notion of contingency, that is, the idea that things might have evolved differently, often seems to be missing. Moreover, most of the literature appears to be one-dimensional, downplaying the diversity, complexity and ambiguity of real developments. It often lacks an awareness of the power of precedents in shaping society’s attitudes to residential care and the practical responses to this problem. This is particularly important because, as this article tries to demonstrate, the present situation of residential care reflects the cumulative impact of traditions and cultural norms, of past decisions and commitments.
Safer Sex und Solidarität. Die Sammlung internationaler Aidsplakate im Deutschen Hygiene-Museum
(2013)
Plakate sind für die Kommunikation im Vorbeigehen gedacht und wenden sich an ein Massenpublikum. Für die Bildsprache und den Text des Plakats erfordert dies eine Reduktion auf das Wesentliche. Wird diese Technik des Reduzierens erfolgreich angewendet, verdichten Plakate bestimmte Leitideen ihrer Entstehungszeit – und genau das macht sie als Quellen für die Geschichtswissenschaft interessant. In den bedeutenden europäischen Plakatsammlungen liegt das Augenmerk meist auf Ausstellungs- und Filmplakaten, auf Wahl- und Propagandaplakaten sowie auf Werbeplakaten für Markenprodukte des 19. und 20. Jahrhunderts. Einen anderen Schwerpunkt legt die Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden (DHMD)1 mit rund 12.000 Plakaten. Dieser Bestand dokumentiert die deutsche Geschichte von „Gesundheit und Prävention“ sowie einzelne Kapitel der entsprechenden internationalen Geschichte vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Seit 2002 sammelt das von Justinian Jampol gegründete Wende-Museum in Los Angeles Artefakte und Dokumente aus dem Kalten Krieg. Der Schwerpunkt der nichtkommerziellen Sammlung, die mittlerweile über 100.000 Gegenstände enthält, liegt auf Objekten aus den Staaten des Warschauer Pakts, vor allem aus der DDR und der Sowjetunion, aber auch aus den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik. Zahlreiche Gegenstände geben Aufschluss über verschiedene Zivilschutzmaßnahmen, darunter drei vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) der DDR zusammengestellte Erste-Hilfe-Taschen.
„Unhappy is a society that has run out of words to describe what is going on“, schrieb Daniel Bell 1973 in „The Coming of Post-Industrial Society“ (S. 294). Bell war diesbezüglich um Worte nicht verlegen, und hier liegt die historische Relevanz des Buches: Es handelt sich um einen bis heute einflussreichen Versuch, einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel westlicher Industriegesellschaften zu beschreiben und intellektuell zu erfassen, während er sich noch vollzog. Bell, der sich schon in seiner Studienzeit als „Spezialist für Generalisierungen“ bezeichnet hatte, wagte damit den großen Wurf, ordnete gesellschaftliche Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg in weiter Perspektive historisch ein und identifizierte langfristige Trends. Die zukünftige Gesellschaft werde eine postindustrielle sein, und die USA hätten diese Schwelle zum Beginn der 1970er-Jahre bereits überschritten. Unter den zeitgenössischen gesellschaftstheoretischen Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsentwürfen nimmt Bells Konzept der postindustriellen Gesellschaft auch deshalb eine Sonderstellung ein, weil es sich umgehend als ein bekanntes, wenn auch verkürzendes Schlagwort etablierte.
Walther Hofers Dokumentation über den Nationalsozialismus, erstmals im August 1957 erschienen, war bis zum Jahresende 1957 bereits mit 100.000 Exemplaren verkauft. Mit einer Gesamtauflage von über einer Million Exemplaren zählt sie bis heute zweifellos zu den Klassikern dieser Gattung. Der aus der Schweiz stammende Herausgeber lehrte damals an der Freien Universität Berlin; 1952 hatte er sich bei Hans Herzfeld mit einer diplomatiegeschichtlichen Studie über die „Entfesselung des Zweiten Weltkrieges“ habilitiert. Auf schmaler Quellengrundlage inmitten der Ruinen einer geteilten Hauptstadt verfasst, war diese Publikation, die 1954 als erster Band in der Schriftenreihe des Münchner Instituts für Zeitgeschichte erschien, ein mutiges Unterfangen, das den Ruf Hofers als eines NS-Experten begründete. 1960 wechselte er an die Universität Bern, wo er bis zu seiner Emeritierung 1988 den Lehrstuhl für Neuere Geschichte innehatte und sich als langjähriger Nationalrat der konservativen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (später: SVP) auch aktiv in der Politik betätigte.
Die Menschenrechte sind ein Konzept der Aufklärung. Ausgehend vom Individuum, waren Rechtsgleichheit, politische Teilhabe und Freiheit frühe Schlagworte. Obwohl angestrebt, gelang eine Verankerung dieser Rechte in staatlichen Verfassungen bis in das 20. Jahrhundert nur selten. Erst die Zeit nach 1945 gilt, mit der Gründung der UNO, als Durchbruch für eine Menschenrechtspolitik als Praxis in internationalen Beziehungen, wobei umstritten war, auf welche Sphären sie sich beziehen sollte. Menschenrechtsgeschichte heißt daher, über die politische Ideengeschichte hinaus, danach zu fragen, wie und mit welcher Wirkung Menschenrechte zum Leitmotiv politischen Handelns wurden – aber auch die strategischen Interessen hinter den damit verbundenen Kontroversen zu verstehen.
Historische Ausstellungen und Museen haben in der Bundesrepublik seit mehr als drei Jahrzehnten Konjunktur. Seit den 1970er-Jahren häufen sich die Sonderausstellungen zu historischen Themen, und es gibt einen bisher ungebrochenen Museumsboom. Beobachten lässt sich nicht nur eine stetige quantitative Zunahme von und ein wachsendes öffentliches Interesse an historischen Ausstellungen; zugleich bildeten sich auch neue Ausstellungstypen und Präsentationsformen heraus. Schließlich wurden in den 1980er-Jahren die Forderungen nach der Errichtung eines zentralen historischen Museums immer lauter, bis dies zur Gründung von gleich zwei Geschichtsmuseen mit gesamtstaatlichem Anspruch führte (dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn und dem Deutschen Historischen Museum in Berlin). Der Trend scheint ungebrochen. Nach der Eröffnung der neuen Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) im Frühjahr 2006, mit der eine fast 20-jährige Planung zum vorläufigen Abschluss kam und mit der erstmals der Versuch einer historischen Überblicksdarstellung von der Römerzeit am Rhein bis zum wiedervereinigten Deutschland unternommen wurde, steht als ein weiteres historisches Großmuseum der Neu- bzw. Umbau eines Militärhistorischen Museums in Dresden an. Dieses wird nicht nur mit den expressiven Bauformen des amerikanischen Architekten Daniel Libeskind auf sich aufmerksam machen, sondern auch mit einem anspruchsvollen inhaltlichen und gestalterischen Konzept.