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Die Last der Vergangenheit
(2008)
Das übergreifende Thema dieser Debatte ist der ‚Dialog der Disziplinen‘. Die Gedächtnisforschung eignet sich besonders gut für einen solchen Dialog, denn sie ist selbst ja keine Einzeldisziplin, sondern ein Thema, in dem sich die Fragen vieler Disziplinen kreuzen. Die Neurowissenschaften, die Psychologie, die Psychoanalyse, die Soziologie, die Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft, die Politologie und nicht zuletzt die Geschichtswissenschaft sind in diesen Diskurs eingebunden. Die verstärkte Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung bedeutet für die Geschichtswissenschaft auch, dass sie sich in einer immer stärker ausdifferenzierten Medienlandschaft verorten muss. Die Ge-schichte ‚gehört‘ heute einer ständig wachsenden Gruppe von Sachwaltern - neben den Professoren auch den Politikern, den Ausstellungsmachern, den Geschichtswerkstätten, den Bürgerbewegungen, den Filmregisseuren, den Künstlern, den Tourismusveranstaltern, den Infotainern und den Eventplanern. Das heißt keineswegs, dass der Einflussbereich der Historiker schrumpfen würde - im Gegenteil: Sie werden bei allen Geschichtsprojekten dringend gebraucht, müssen sich aber daran gewöhnen, enger mit anderen Akteuren zusammenzuarbeiten. Die Auseinandersetzung mit Geschichte verlagert ihren Schwerpunkt von der Universität zum Kulturbetrieb und damit zur Logik des Marktes. Im Folgenden sollen zwei Themenbereiche angesprochen werden, die auf eine paradigmatische Weise im Spannungsfeld von ‚Geschichte‘ und ‚Gedächtnis‘ stehen: die Figur des ‚Zeitzeugen‘ und die Frage des Umgangs mit historisch belasteter Vergangenheit.
Als „Wohlstand für alle“ im Februar 1957 erstmals erschien, genau rechtzeitig zu Erhards 60. Geburtstag, nahm die Öffentlichkeit eher verhalten Notiz. Die „Süddeutsche Zeitung“ ging auf den Inhalt des Buches nicht weiter ein; sie lobte stattdessen den Optimismus des Bundeswirtschaftsministers und seine Verdienste als „Psychologe der Konjunktur“. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schenkte der gleichzeitig erschienenen Festschrift für Erhard sogar mehr Aufmerksamkeit. Nur das „Handelsblatt“ reservierte eine gute Viertelseite, rühmte den „sehr fesselnden, oft amüsanten“ Stil und wagte die Prognose, das Buch werde „ohne Zweifel in die Breite wirken“. Trotzdem war zum damaligen Zeitpunkt nicht zu erwarten, dass das - zumindest aus heutiger Sicht - streckenweise dröge und betuliche, nur durch zahlreiche Karikaturen aufgelockerte Buch bis 1964 acht Auflagen erleben würde oder gar, in Gestalt einer „aktualisierten Neuausgabe“, 1990 „unseren Landsleuten in der DDR“ gewissermaßen als Leitfaden „aus dem Morast des Sozialismus“ in die „offene, demokratische Gesellschaft“ dienen könnte („Vorrede an den Leser“, S. If.). 1999 war eine Gesamtauflage von 250.000 Exemplaren erreicht. Zurzeit ist das Werk jedoch nur noch antiquarisch zu bekommen - oder kostenlos als Download bei der Ludwig-Erhard-Stiftung.
„Großstädte sind unbestimmte Verheißungen“, schreibt Curt Moreck in seinem „Führer durch das ‚lasterhafte‘ Berlin“ aus dem Jahr 1931. „Sie sind Konglomerate von unendlichen Möglichkeiten. Sie sind Labyrinthe, in denen die schönsten Straßen einen nicht ahnen lassen, wohin sie einen führen werden. Wen das Land hineinstößt, der fühlt sich hilflos und wird plötzlich von der Angst überfallen, das zu versäumen, was er kennenlernen möchte, das zu verpassen, was ihm einen Gewinn an Vergnügungen verspricht. [...] Man muß in diesem rauschenden Strudel untertauchen, sich darin verlieren, aber nicht ohne sich wiederzufinden. Man muß den Irrwegen nachgehen, aber nicht ohne das Ziel zu kennen. Man wird sich nach einem Führer umsehen müssen. Ohne den Führer verliert man kostbare Zeit, die man besser dem Genuß widmet. Man muß sich die Erfahrungen anderer zunutze machen.“