Transnationale Geschichte
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Neoliberalismus
(2016)
Der Beitrag behandelt die ideengeschichtlichen Ursprünge, die politische Praxis und die sozialen Folgen des Neoliberalismus. Diese wirtschaftspolitische Ideologie wird von einem Idealbild freier, autonomer, und sich ins Gleichgewicht bringender Märkte, rational agierender Marktakteure und einem individualistisch-materialistischen Menschenbild getragen. Philipp Ther unterteilt in seinem Artikel die Geschichte des Neoliberalismus in vier größere Perioden, die von den 1930er-Jahren bis zur globalen Finanz-, Budget und Wirtschaftskrise von 2008/09 reichen, und geht anschließend auf mögliche Themengebiete und Zugänge einer zeithistorischen Neoliberalismusforschung ein, die auf einer analytischen und wertneutralen Benutzung dieses Begriffs beruht.
Im Mai 2006 einigten sich Vertreter der elf Aufsichtsländer darauf, die Ressourcen des Internationalen Suchdienstes (ISD) des Internationalen Roten Kreuzes in Arolsen für die historische Forschung zu öffnen. Bis zum Oktober 2006 unterzeichneten die einzelnen Regierungen das entsprechende Protokoll. Die Ratifizierung durch die beteiligten Staaten zog sich allerdings noch bis November 2007 hin. Für den Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Jakob Kellenberger, nahm damit „ein langer und schwieriger Prozess“ sein Ende. Nach jahrzehntelanger Kritik an der Abschottung scheinen die Tore des Suchdienstarchivs nun endlich aufgestoßen zu werden.
Die Pyrenäen bilden eine natürliche Grenze zwischen Frankreich und Spanien, zwischen dem europäischen Hauptland und der iberischen Halbinsel. Dort, wo sie nicht in den Himmel ragen, in ihren Tälern und auf ihren Passhöhen sowie an den Meeren, waren die Pyrenäen auch stets eine tierra de paso, eine Transitzone. An ihren östlichen Ausläufern gibt es zwei bedeutende Übergänge. Einer liegt im sanften, flachen Tal von La Jonquera und quert die Landesgrenze bei Le Perthus. Der andere kreuzt an der Küste am Coll dels Belitres zwischen Cerbère (Frankreich) und Portbou (Spanien). Daneben und dazwischen durchziehen kleine Wege die Landschaft, offizielle und inoffizielle, Pfade für Schmuggler, Verfolgte, Fliehende. Jede Gegend und jede Route hat ihre Konjunktur. Die Hoch-Zeit dieser Transitlandschaft, als sich die europäische Kriegs- und Verfolgungsgeschichte des 20. Jahrhunderts an dieser Grenze kristallisierte, war zwischen dem Winter 1938/39, als der spanische Krieg mit dem Sieg Francisco Francos endete, und den Jahren 1940/41, bevor im Sommer 1941 die systematische Vernichtung der europäischen Juden begann.
Die Folgen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation Ostdeutschlands sind in der jüngsten Zeit wieder verstärkt in den öffentlichen Fokus geraten. Vor dem Hintergrund mehrerer ostdeutscher Landtagswahlen im Jahr 2019 wird medial zunehmend eine Aufarbeitung der als (Um-) Bruchszeit wahrgenommenen Periode der frühen 1990er Jahre gefordert. Als zentraler Akteur dieser Phase bietet eine Erforschung der Geschichte der Treuhandanstalt (THA) Zugänge, die sowohl für gesellschaftliche Debatten als auch für die zeithistorische Forschung neue Impulse geben können. Welche Quellen sind dafür besonders relevant, und inwiefern eignet sich die THA als Forschungsgegenstand?
Die Mobilisierungskraft der Anti-Apartheid-Bewegungen, die die als rassistisch kritisierte Politik Südafrikas auf die internationale Agenda brachten, ist eines der zentralen Forschungsfelder für die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Apartheid und den Reaktionen in den westlichen Gesellschaften. Während in den 1960er- und 1970er-Jahren das Aktionsrepertoire der Anti-Apartheid-Bewegungen von Straßenkampagnen und Informationsarbeit geprägt war, wandelte sich in den 1980er-Jahren das Auftreten der US-amerikanischen und europäischen Apartheid-Gegner. Besonders das britische Anti-Apartheid Movement und sein Umfeld hatten erheblichen Anteil an der Etablierung des »Protest[es] gegen die Apartheid als Teil der Massenkultur insbesondere in der Musik«.
Rund 50 bundesdeutsche Unternehmen hatten während der Apartheid eigene Produktionsstätten in Südafrika. Wie legitimierten diese Unternehmen ihr Engagement? Nachdem gegenüber der Situation der schwarzen Bevölkerungsmehrheit lange eine Ignoranz vorgeherrscht hatte, wurde ab den 1970er-Jahren die Verbesserung der Arbeitsbedingungen schwarzer Beschäftigter ein erklärtes Ziel – als Folge ökonomischer Probleme (wie dem Fachkräftemangel) und eines steigenden politischen Drucks durch Kirchen und Gewerkschaften in der Bundesrepublik. Seit 1977 bildete der »Code of Conduct«, den die Europäische Gemeinschaft erließ, einen institutionellen Rahmen für die Menschenrechte aller Beschäftigten. Im zerfallenden Apartheid-Staat forderten westdeutsche Unternehmen während der 1980er-Jahre politische Reformen und etablierten mit den schwarzen Gewerkschaften stabile Verhandlungsbeziehungen. Anhand des Volkswagen-Konzerns und seiner Tochtergesellschaft Volkswagen of South Africa (VWoSA) wird dieser Prozess nachgezeichnet. Der Konflikt um die Apartheid zählt zu den Ausgangspunkten für die heutige Corporate Social Responsibility multinationaler Konzerne, mit der soziale Normen und Verpflichtungen auch für Tochterunternehmen festgeschrieben werden.
Migration und Mobilität, aber auch der Wunsch danach haben entscheidend zu den einschneidenden politischen, sozialen und kulturellen Transformationen des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts beigetragen. Die Forderung nach Reisefreiheit etwa stellte einen wichtigen Auslöser und Beschleuniger für den Umbruch in Osteuropa dar. Zugleich gehörten umfassende Migrationsbewegungen zu den in der Öffentlichkeit besonders stark wahrgenommenen Folgen des Umbruchs. Darüber hinaus sind die Wanderungsbewegungen zwischen Ost und West eine »Verf lechtungsthematik par excellence«, wenn auch die Verflechtung stark asymmetrisch blieb. Mein Beitrag verbindet deshalb die vielfältigen Mobilitätsformen, die Ost und West verbanden, aber auch trennten. Er thematisiert dabei zum einen die Wanderungsbewegungen zwischen Ost- und Westdeutschland und zum anderen die Migration aus anderen Ländern in die Bundesrepublik und die DDR bzw. ins wiedervereinigte Deutschland. Zudem kontextualisiert er beides mit anderen Formen der Mobilität, wie dem Reisen. Wenngleich die Ausländerzahlen in Ostdeutschland bis heute gering blieben, ist darüber hinaus vergleichend nach dem Umgang mit nicht-deutschen (Arbeits-)-MigrantInnen zu fragen und auf die nationalen Selbstverständigungsdebatten angesichts einer wachsenden Zahl Nicht-Deutscher einzugehen. Neben den sozioökonomischen Motiven und Effekten der Migrationsbewegungen sollen auch die kulturellen Auswirkungen, der Wandel der Gesellschaft sowie die Semantik in den Migrationsdebatten analysiert werden.
Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie Migration durch Statistik sozial relevant wird. Welche Kategorien kommen dabei zum Einsatz? Zuerst wird die historische und wissenssoziologische Perspektive erläutert. Im zweiten und dritten Teil werden historische Umbrüche in der Kategorisierung von Migration am Beispiel der amtlichen Statistik im Deutschen Kaiserreich und in der Bundesrepublik Deutschland skizziert. Der Fokus verschob sich von Migration als Ein- und Ausreisebewegung zu Migration als Alteritätszuschreibung (gestützt auf die Kategorie »Migrationshintergrund« ab 2005). Vor diesem Hintergrund wird im letzten Teil gezeigt, wie sich vergangene und aktuelle Kategorisierungen von Geflüchteten mit der Migrations- und Integrationssemantik verbanden bzw. verbinden. Über die Rekonstruktion der semantischen Brüche und Kontinuitäten hinaus dient die historische Kontextualisierung dem Ziel, heute gängige Kategorien für Migration und Flucht besser reflektieren zu können, die in der Wissenschaft, Politik und Verwaltung verwendet werden.
Für dieses Buch muss man sich etwas Zeit nehmen. Ich hatte die gut 700 Seiten umfassende amerikanische Originalausgabe von »Mechanization Takes Command« (den Titel kürzte Giedion in seinen Notizen mit dem Akronym »M.T.C.« ab) im Sommer 2017 im Amtrak California Zephyr auf meiner Reise von Greenriver, UT, nach Chicago, IL, im Gepäck. Diese Reise bot aktualisiertes Anschauungsmaterial zu Giedions Sondierungen der US-amerikanischen Industrialisierungsgeschichte. Sie folgte jener Eisenbahnlinie, welche Kalifornien (wo die Frontier-Gesellschaft Amerikas im ausgehenden 19. Jahrhundert an ihr Ende gelangte) mit Chicago verbindet (der nach dem großen Brand von 1871 zur Industriemetropole avancierten Stadt am Lake Michigan). Dazwischen öffnete sich der Midwest, dessen verrostete und verlassene industrielle Infrastruktur (Bahnhöfe, Fabriken, Brücken, Städte) durch das Zugfenster ins Blickfeld geriet und somit den Endpunkt der von Giedion dokumentierten Entwicklungen brutal vor Augen führte. Die heruntergewirtschafteten Landschaften des Midwest und Giedions Streifzüge in ihre Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts flossen ineinander über. Etwa dann, wenn der Zug stillstand und mein Blick bei den Getreide-Elevatoren hängen blieb, wo sich die Eisenbahnlinien kreuzen und der Personenzug den unendlich langen Güterwagen, die von Diesellokomotiven angetrieben werden, den Vortritt lassen musste. Oder wenn ich beim mäandrierenden Durchblättern des Buches und dem Blick aus dem Zugfenster den Faden verlor und eindöste – und dann beim Eindunkeln jäh von den sleeping car attendants, welche die ausklappbaren Sitze für die Nacht mit ein paar Handgriffen zu Betten umwandelten, in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Oder im Nachfolgemodell des von George M. Pullman 1869 in seinem Patent beschriebenen Speisewagens, wo die Reisende aus Europa und Wählerinnen des amtierenden Präsidenten sich am gemeinsamen Tisch zum Verzehr von Burger, Steaks und Hot Dogs wiederfanden. Jenes Präsidenten, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Re-Industrialisierung abgehängter Regionen im einst prosperierenden Rostgürtel der USA versprach.
The blossoming of military history in Germany offers the chance to set new agendas beyond conventional narratives. The notion of a distinct authoritarian Prusso-German militarism, set against political modernity and civil society, has long served as the master narrative of modern German military history. But this narrative no longer holds any promise. It fails to situate the German experience within a common European and transatlantic military political realm and war culture; it ignores the centrality of technocratic reasoning and industrialized warfare for any understanding of the German military; it offers too overblown and simplistic a portrayal of societal militarization; and it downplays militarist multiplicities and the transformations of the early 20th century. This narrative has the additional disadvantage of cutting off the history of the military and war after 1945 from what came previously.
Cemal Kemal Altun nahm sich am 30. August 1983 durch einen Sprung aus dem sechsten Stock des Berliner Verwaltungsgerichts das Leben. Damit wollte er seiner Abschiebung in die Türkei und der dort drohenden Folter entgehen. Dreizehn Monate Auslieferungshaft und ein zermürbendes Rechtsverfahren machten den »Fall Altun« zum Symbol der Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit bundesdeutscher Ausweisungspraxis. Der Hohe Kommissar für Flüchtlingsfragen der Vereinten Nationen ermahnte die deutschen Behörden, ihre inhumane Behandlung von Migrant*innen zu beenden. Der Europarat protestierte, und die Europäische Kommission für Menschenrechte in Straßburg wurde hinzugezogen. In der Bundesrepublik traten Aktivist*innen in Hungerstreik, und etwa 10.000 Menschen setzten ein Zeichen, als sie Altuns Leichenzug durch West-Berlin in einen Protestmarsch verwandelten. Anti-Abschiebe-Proteste nahmen zu und institutionalisierten sich Mitte der 1980er-Jahre in Form von Kirchenasyl, Flüchtlingsräten, Pro Asyl, Fluchtburg-Bewegung, migrantischer Selbstorganisation und antirassistischen Initiativen.
Die Geschichte der „Chinesenviertel“ und chinesischer Migranten in europäischen Metropolen demonstriert, wie „Fremde“ zur Gefahr für die nationale Arbeit und für die Großstädte stilisiert wurden; sie zeigt aber auch, wie Migranten wirtschaftliche Nischen besetzen und schließlich als kulturelle Bereicherung akzeptiert werden konnten. In Hamburg präfigurierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein ausgeprägter Hygiene-Diskurs die vehemente Ablehnung, während sich die Behörden in Rotterdam anfangs indifferent verhielten und die dortige Bevölkerung in den frühen 1930er-Jahren durchaus Empathie mit arbeitslosen Chinesen zeigte. In London wiederum schlug die anfängliche Toleranz seit dem Ersten Weltkrieg in Abwehr um. Ab den 1950er- und 1960er-Jahren setzte mit dem großen Erfolg chinesischer Gastronomie eine neue Phase chinesischer Migration ein, die nun als kulinarische Bereicherung der urbanen „Konsumgesellschaft“ allgemein anerkannt wurde. Während ein kosmopolitischer Charakter von westeuropäischen Metropolen seit den 1970er-Jahren als mehr oder minder selbstverständlich gilt, ist die Geschichte chinesischer Migranten in Westeuropa ein gutes Beispiel für den langen und unebenen Weg zur multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft.
Die Geschichte von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemals deutschen Ostgebieten sowie aus Ostmittel- und Osteuropa ist seit den 1990er-Jahren wieder zu einem bedeutenden Thema der breiteren Öffentlichkeit geworden. Dies zeigen verschiedene Publikationen, Fernsehfilme und nicht zuletzt die Debatte um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“. Die Hinwendung der Öffentlichkeit zu diesem Thema war von einem Perspektivwechsel in der Geschichtswissenschaft begleitet. Auch hier fand und findet das Thema ein verstärktes Interesse, das sich in zahlreichen Tagungen und oftmals vergleichenden fachwissenschaftlichen Publikationen niederschlägt.
Wenn man ein Buch nennen müsste, das am meisten zum Zerfall der Sowjetunion beigetragen hat, stünde Solženicyns „Archipel Gulag“ sicher an vorderer Stelle. Aleksandr Isaevič Solženicyn, Jahrgang 1918, war als Offizier wegen einiger abfälliger Briefzeilen über Stalin 1945 verhaftet worden und brachte acht Jahre in sowjetischen Lagern und Haftanstalten zu. Nach seiner Freilassung wurde er nach Kasachstan verbannt und 1956 rehabilitiert. Mit der Publikation der Erzählung „Ein Tag im Leben des Ivan Denisovič“ (1962) gelangte er rasch zu literarischem Ruhm, sah sich aber mit dem Ende des sowjetischen „Tauwetters“ seiner Publikationsmöglichkeiten zunehmend beraubt. Seit 1958 hatte er an dem monumentalen „Archipel Gulag“ gearbeitet, dies aber geheimgehalten. Als der KGB im August 1973 das Manuskript beschlagnahmte, ließ Solženicyn den ersten Band im Pariser Emigranten-Verlag YMCA-Press veröffentlichen. Der zweite und der dritte Band erschienen 1974 und 1976. Im Jahr 1985 folgte eine einbändige, gestraffte Fassung des Werks. In der Sowjetunion konnte der „Archipel Gulag“ erst 1989 veröffentlicht werden. Solženicyn war 1974 aus der Sowjetunion ausgewiesen worden und lebte im amerikanischen Exil, bis er 1994 nach Russland zurückkehrte.
The newly emerging historical scholarship on the era ›after the boom‹, on the marketization of societies in the wake of the neoliberal political reforms, deregulation, and privatization starting in the 1970s, has emphasized this threshold as an epochal break that was driven by large-scale structural shifts in the global economy, in social relations, and in cultural identities. This new accentuation of the economic and social transformation has, for good reason, eclipsed older historical traditions that focused on events, discourses, specific interests, and individual actors. The marketization of social relations is thus often considered to be the result of processes beyond the reach and scope of purposeful actors that promoted specific societal changes. While this historical focus is quite right in denying independent causal status to specific agents and the self-aggrandizement of vain leaders and their intellectual entourage, it tends to obscure the historical genesis of ideas and concepts that later became critical components of political leadership, and the specific constellations of interests, knowledge and actors that did prefigure and originally promote the marketization of economic and political institutions.
The paper explores representations of economic reform in Czechoslovakia immediately before and after the fall of the centrally planned economy in 1989/90. By what means was the concept of rapid economic transition towards a liberal market setting mediated into the academic and the public sphere? How did it achieve wide public consent? In the first part, the paper analyzes the Czechoslovak academic discussion about perestroika in the late 1980s, where a rapid liberal transition was cast by a distinct group of younger scholars as the only possible way of reforming the socialist economy. Their training was based above all on Paul A. Samuelson’s canonical textbook Economics, which presented this discipline almost as a natural science with universal standards. Immediately after 1989/90, when some of these scholars assumed executive positions within the new Czechoslovak government, what were at first purely economic ways of reasoning merged with certain images of the national past, creating a mixture of liberal economic knowledge and national exceptionalism.
Während des Zweiten Weltkrieges flüchteten etwa 150.000 Europäer vor Krieg und Besatzung nach Großbritannien. Unter ihnen waren Angehörige der vormaligen europäischen Regierungen, Verwaltungen, politischen Eliten, Militärs und Königshäuser. Aus ihren Reihen bildeten sich Nationalkomitees und Exilregierungen, die die nationale Souveränität ihrer Länder trotz deutscher Besatzung aufrechterhalten und als Alliierte für einen gemeinsamen Sieg über Hitler eintreten wollten. Im Zentrum Londons lebten und arbeiteten sie in enger Nachbarschaft. Rechtlich betrachtet erreichten die Mitglieder der Exilregierungen London meist als individuelle Flüchtlinge; sie verließen die Stadt überwiegend als Angehörige anerkannter Regierungen. Eine genauere Untersuchung des »London Moment«, dieser formativen Phase europäischer Politik, bricht den vermeintlichen Gegensatz zwischen Macht und Ohnmacht auf und trägt so zur Reflexion über Flucht und Flüchtende bei. Der Aufsatz erläutert die Entwicklung des rechtlichen Status der Exilanten und folgt vier Fallbeispielen von der Ankunft zur Etablierung in London.
Seit Oktober 2010 ist die Datenbank LONSEA („League of Nations Search Engine“) im Internet unter http://www.lonsea.org zu erreichen. Das Projekt, das am Exzellenzcluster „Asia and Europe in a Global Context“ der Universität Heidelberg angesiedelt ist, erschließt Informationen zu internationalen Organisationen, ihrem Personal und ihren Aktivitäten in der Zeit zwischen 1918 und 1945.1 Durch die Sammlung dieser Angaben in einer relationalen Datenbank ist es erstmals möglich, die von der bisherigen Forschung beschriebenen Netzwerke in größerem Rahmen nachzuweisen und zu visualisieren. LONSEA ermöglicht damit eine neue Sicht auf den Völkerbund, die herkömmliche institutionen-, personen- und nationalgeschichtliche Ansätze erweitert. Der vorliegende Beitrag soll einerseits neue Möglichkeiten zur Verknüpfung von Quellenmaterial vorstellen und andererseits einen Zugang zu einer netzwerkbasierten Globalgeschichte aufzeigen.
Menschen schreiben, Menschen notieren. Papierne (heute auch digitale) Gedächtnisstützen halten fest, was sich im Kopf der oder des Schreibenden abspielt, um es für kurze oder längere Zeit zu sichern und zu übertragen. Termine, Kontakte und Adressen werden besonders oft verschriftlicht, da es sich um Informationen handelt, die präzise wiedergegeben werden müssen. Jeder einzelne Datensatz (eine Adresse, Telefonnummer, Ort und Zeit eines Treffens, Kontakte zu einer bestimmten Person) ist in sich eher trocken und schwer zu merken, die Verschriftlichung verwaltet also und assistiert unserer Erinnerung. An der Schnittstelle zwischen Alltagslogistik, Sozialleben und Erinnerung sind Adressbücher Hilfsmittel und Kulturtechnik zugleich. Das Adressbuch als Gegenstand dient im Sinne Bruno Latours der Delegation, da sein*e Benutzer*in Informationen auslagern kann. Dadurch werden Adressbücher fester Bestandteil von Netzwerken, welche ohne diese Niederschrift nicht aufrechtzuerhalten wären. Das lässt sich am Beispiel europäischer Netzwerke in London während des Zweiten Weltkrieges darlegen: anhand eines edierten »Who’s Who« und des persönlichen Adressbuches des Juristen René Cassin.
Seit der Industrialisierung gehören Auslandsreisen zu den bevorzugten Informations- und Wissensquellen deutscher Unternehmer. Wichtigstes Reiseland war in der Frühphase der Industrialisierung zunächst England als „first industrial nation“. Deutsche Unternehmer importierten von dort technische Innovationen und Know-How, auf legalem oder auch auf illegalem Wege und in Form von Industriespionage. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurden die USA für deutsche Unternehmer interessanter, wohingegen Japan erst weit nach dem Zweiten Weltkrieg ins Blickfeld geriet. Während zwischen den „westlichen“ Industrienationen der Informationsfluss vergleichsweise unproblematisch verlief, gab es im japanischen Fall erhebliche interkulturelle Hürden zu überwinden.
In der westdeutschen Universitätsmedizin galt Stress zunächst als deskriptive Laborbeobachtung und nur wenig origineller Versuch des Hormonforschers Hans Selye, die Regulationsmechanismen des Körpers mit einem ganzheitlichen Konzept zu beschreiben. Selyes in Kanada entwickelte Ansätze fanden in der Bundesrepublik kaum positive Resonanz; das Stresskonzept schien in den 1950er-Jahren keine Zukunft zu haben. Dies änderte sich in den 1960er-Jahren, als Stress über das Risikofaktoren-Modell mit der Diskussion um Herz- und Kreislauferkrankungen verbunden wurde. Stress wurde nun Leitbegriff und Forschungsressource von Disziplinen wie Sozialmedizin, Psychosomatische Medizin, Arbeitsmedizin und Präventivmedizin. Um 1970 trat zu den Bezugsebenen »Zivilisation« und »Gesellschaft« noch »Umwelt« hinzu. Insbesondere drei Bedrohungsszenarien erwiesen sich als Stimuli der medizinischen Stressforschung: Überbevölkerung und Verstädterung, Verkehr und Lärm sowie der Wandel der Arbeitswelt. Weit über wissenschaftliche Verwendungen hinaus wurde der Stressbegriff populär, weil er zeitdiagnostisches Deutungspotential gewann und sich als eine Verständigungsplattform der Verunsicherten eignete.
Gholamreza Takhti (1930–1968), Olympiasieger im Freistil-Ringen 1956 und zweifacher Weltmeister, gilt in Iran bis heute nicht nur als sportliche Legende, sondern wird über nahezu alle politischen Lager hinweg als Repräsentant einer authentisch iranischen Männlichkeit verehrt. Die Faszination Takhtis gründet sich insbesondere auch auf seine einfache Herkunft und seinen demütigen, bodenständigen Charakter, der ihn schon zu Lebzeiten glaubwürdig als »Mann aus der eigenen Mitte« erscheinen ließ. Seine Heroisierung ist nicht loszulösen von kollektiven Subordinationserfahrungen vor dem Hintergrund ausländischer Hegemonie in Iran während des 20. Jahrhunderts, der in den 1960er-Jahren formulierten Diagnose einer »Westbefallenheit« der iranischen Gesellschaft und der damit verbundenen Suche nach Authentizität. Ausgehend von der Biographie des Ringers werden im Beitrag die geschlechtlich aufgeladenen Dimensionen dieser Erfahrungen besprochen und die dafür verwendeten Begriffe untersucht. Über die Sportart Ringen konnte die iranische Gegenwart mit der nationalen Mythologie verbunden werden, und Takhti wurde in einzigartiger Weise zum Modell des iranischen Helden, zum idealen Mann – noch verstärkt durch die Tragik seines frühen Todes.
Gholamreza Takhti (1930–1968), Olympic wrestling champion in 1956 and two-time world champion, is regarded in Iran to this day as a sporting legend. Across almost all political camps, he is also revered as a representative of authentic Iranian masculinity. The fascination with Takhti derives in particular from his simple origins and his humble, down-to-earth character, which made him appear credible as ›one of us‹ to huge sections of Iranian society during his lifetime. His heroisation thus cannot be detached from collective experiences of subordination against the background of foreign hegemony in Iran during the twentieth century, the diagnosis of a ›Westoxication‹ of Iranian society formulated in the 1960s and the related search for authenticity. Based on the wrestler’s biography, the article explores the gendered dimensions of these experiences and examines the language used to describe them. Wrestling created a link between the Iranian present and the national mythology, and Takhti became the model of the Iranian hero, the ideal man – reinforced by the tragedy of his untimely death.
Körper – Kosmos – Kybernetik. Transformationen der Religion im „New Age“ (Westdeutschland 1970–1990)
(2008)
Das „New Age“ wird üblicherweise als Ergebnis oder Ereignis der Privatisierung und Pluralisierung der Religion nach „1968“ begriffen. Der vorliegende Beitrag betrachtet diese Zuordnung als erweiterungsbedürftig und unterzieht einige der zentralen Deutungsmuster innerhalb des „New Age“ einer diskursgeschichtlichen Relektüre. Auf diese Weise geraten drei Transformationsprozesse in den Blick, die das „New Age“ in den 1970er- und 1980er-Jahren als „Neue Religion“ in das Zentrum des gesellschaftlichen Wandels rückten: Somatisierungs-, Orientalisierungs- und Kybernetisierungsprozesse. In einem weitgehend unbekannten Ausmaß wurde insbesondere die Sorge um den „eigenen“ Körper zum Referenzpunkt religiöser Kommunikation. Entgegen der Säkularisierungsthese verlor die Religion in diesem Kontext keineswegs an gesellschaftlicher Relevanz.
Ganz im Freud’schen Sinne war die deutsche Sprache für Theodor W. Adorno das von Anfang an Vertraute, das vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus, der Erfahrung von Verfolgung und Exil sowie dem Wissen um die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden jedoch zum Unvertrauten wurde. Gerade deshalb, so könnte man meinen, hielt Adorno beharrlich am Ideal eigener, »authentischer« Sprachverwendung als Muttersprachler fest, als sei seine Sprache ein autonomer Bereich. Zugleich richtete sich seine Sprachkritik aber gleichsam »objektiv« auf den mit formelhafter Sprachverwendung einhergehenden gesellschaftlichen Erfahrungsverlust. Unter dieser spannungsreichen Doppelperspektive reflektierte Adorno sein Verhältnis zur deutschen Sprache und die Funktion von Sprache als Medium des Denkens in einer Vielzahl von Texten. Während in einigen davon das Deutsche als Muttersprache vor allem ein identitätsstiftendes Moment bedeutet und als biographische Klammer nach der Zäsur von Exil und Holocaust eine Verbindung zur Kindheit herstellt, steht einem solchen emphatischen Verständnis des Deutschen die Analyse entleerter, formelhafter Sprachverwendung in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft gegenüber. So deutet sich an, dass der Remigrant Adorno in der verwalteten Welt nach dem »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) in der deutschen Sprache sprachmächtig agieren konnte, während er zugleich einen allgemeinen Erfahrungsverlust konstatierte. Der Spannung, ja dem Changieren Adornos zwischen radikaler Sprachkritik einerseits und Idealisierung der deutschen Muttersprache andererseits möchte ich hier in fünf Schritten nachgehen.
Kolonialkrieg, Globalstrategie und Kalter Krieg. Die Emergencies in Malaya und Kenya 1948–1960
(2005)
Kein Staat der Welt hat während des Kalten Krieges öfter Krieg geführt als Großbritannien. Obwohl das Königreich ein Hauptakteur des Ost-West-Konfliktes und die größte Kolonialmacht der Erde war, erklären sich diese „heißen Kriege" im Kalten Krieg weder aus der Blockkonfrontation noch aus der Logik eines kolonialen Freiheitskampfes wirklich hinreichend. Man kann diese Kriege nur verstehen, wenn man sie als Resultate einer auf die Weltmachtrolle und das Selbstverständnis als Imperialmacht zentrierten Kollektivmentalität in den politischen und militärischen Eliten des Mutterlandes begreift. Die „heißen Kriege" waren in erster Linie ein Ausfluss globalstrategischen Sicherheitsdenkens. Der Artikel zeigt dies am Beispiel der Emergencies (Ausnahmezustände) in Malaya und Kenya, die für die strategische Verteidigung der Indikregion bedeutsam waren.
Keine Stunde Null. Sozialwissenschaftliche Expertise und die amerikanischen Lehren des Luftkrieges
(2020)
Alle Kriegsparteien bombardierten im Zweiten Weltkrieg Ziele, die lange Zeit als zivil gegolten hatten. Diese sogenannten strategischen Bombardierungen wurden im Auftrag der US-Regierung ab dem Kriegsende mit einem Stab von über 1.000 Mitarbeitern in Deutschland und Japan aufwendig evaluiert (United States Strategic Bombing Survey, USSBS). Mithilfe ambitionierter Sozialwissenschaftler gelang es der jungen US Air Force, den strategischen Luftkrieg als militärisch und psychologisch entscheidend darzustellen, und so taten sich für die Luftkriegsexperten auch nach 1945 attraktive neue Beschäftigungsfelder auf. Die Wissenschaftler argumentierten, sie seien in der Lage, methodisch abgesichert einen schnellen und vermeintlich »sauberen« Krieg aus der Luft zu planen. Der Aufsatz stellt die bisher kaum erforschten Logiken und Folgen dieser Kooperation sowie die behaupteten Lehren des Weltkrieges für den Korea- und den Vietnamkrieg dar. Damit hinterfragt er das gängige Verständnis einer radikalen Zäsur, die der erste Einsatz der Atombombe mit sich gebracht habe, und plädiert für einen neuen Blick auf die Militär-, Gewalt- und Wissensgeschichte des »Kalten Krieges«.
Katalysator wider Willen. Das Humboldt Forum in Berlin und die deutsche Kolonialvergangenheit
(2019)
Das neu-alte Schloss steht bereits. Die Baugerüste sind Ende 2018 gefallen und haben den Blick auf die rekonstruierten Barockfassaden an der Nord-, West- und Südseite freigegeben. Lediglich die moderne Ostfassade lässt von außen erkennen, dass es sich bei dem Gebäude auf dem Berliner Schlossplatz nicht wirklich um das alte Stadtschloss handelt, sondern um eine Teilrekonstruktion. In deren Innerem soll ab Ende 2019, im 250. Geburtsjahr Alexander von Humboldts, das Humboldt Forum etappenweise eröffnen. Neben Sonderausstellungsflächen, Veranstaltungsräumen und einer Ausstellung zur Geschichte des Ortes im Erdgeschoss sowie Ausstellungen des Landes Berlin und der Humboldt-Universität im ersten Obergeschoss wird es im zweiten und dritten Obergeschoss die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst beherbergen, die beide zu den Staatlichen Museen zu Berlin gehören und damit Teil der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sind.
In der gegenwärtigen Debatte über Imperien wird die konstitutive Bedeutung des Raumes hervorgehoben. Seine Repräsentation in Gestalt von Karten wird aber bisher selten zum Forschungsgegenstand gemacht, obwohl Untersuchungen zum British Empire auf den Zusammenhang von kognitiven und materiellen Karten für die Ausbildung eines Raumbewusstseins innerhalb des Imperiums und in Bezug zur Welt verweisen. In der Sowjetunion war die Produktion und Verbreitung von Karten von Anfang an ein grundlegender Bestandteil imperialer Politik, weil das dokumentierte Wissen über das Territorium, seine Strukturen und Bewohner eine Voraussetzung für eine umfassende Sowjetisierungspolitik darstellte. Einer der sowjetischen „Vermesser“ war der ungarische Kartograph Alexander (Sándor) Radó, der seit den 1920er-Jahren an der Produktion sowjetischer und europäischer Atlanten beteiligt war. Die Karten sind in mehrfacher Hinsicht Dokumente eines imperialen Konstruktionsprozesses, weil sie einerseits als Projektionsfläche genutzt wurden und andererseits die innenpolitische Entwicklung in der Sowjetunion spiegelten und beeinflussten.
In der Fülle an Literatur über Strafprozesse gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher nimmt ein Buch einen besonderen Platz ein: Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“. Kaum ein anderes Werk zu diesem Thema hat derart kontrovers geführte und lange nachwirkende Diskussionen ausgelöst. Bis heute wird Arendts Buch als eines der ersten zur Hand genommen, wenn es um den 1961 in Jerusalem durchgeführten Prozess gegen Adolf Eichmann geht, den ehemaligen SS-Obersturmbannführer und Leiter des für die Organisation der Vertreibung und Deportation der Juden zuständigen Referats des Reichssicherheitshauptamtes. Viele andere Arbeiten über den Fall Eichmann sind heute dagegen nahezu vergessen oder nur einem engeren Publikum bekannt.
Jenseits von Zeit und Raum. Flugreisewerbung in den USA und Westdeutschland während der 1970er-Jahre
(2017)
»Getaway. To places you always wanted to see but never thought you could«, lautete die Überschrift einer Werbekampagne der amerikanischen Fluggesellschaft Trans World Airlines (TWA) im Jahr 1971. In großformatigen, mit Farbfiltern hervorgehobenen Bildern von Sehenswürdigkeiten wie dem britischen Parlamentsgebäude in London, dem amerikanischen Grand Canyon oder dem Taj-Mahal-Mausoleum im indischen Agra bewarb sie Reiseziele auf verschiedenen Kontinenten.
Das Ende des Kalten Krieges oder wie man alt wird. Man wird unwillkürlich zum Historiker der Zeit, deren Zeitgenosse man gewesen ist. Eine Epoche ist zu Ende gegangen, und wenn man diese beschreibt, beschreibt man zugleich auch ein Stück des eigenen Lebens, und umgekehrt: Das individuelle Leben fällt mit der historischen Zeit zusammen. Das hat nichts mit Selbstliebe oder Selbstüberschätzung zu tun. Man merkt es, wenn man mit jungen Leuten zusammen ist, mit denen man über Ereignisse spricht, die vor ihrer Geburt liegen, die man selbst aber miterlebt hat. Man berichtet aus der eigenen Zeit, die ihre Vorzeit ist. Es ist lohnend, sich dieser Zeit genau zu erinnern. Die subjektive Erinnerung bewahrt Details, Nuancen, Valeurs, die im Betrieb der Geschichtsforschung entweder gar nicht vorkommen oder später, wenn man deren Fehlen bemerkt, mühsam rekonstruiert werden müssen.
»Es gibt ein Menschenrecht auf Bleiberecht!«, verkündete Sevim Dağdelen, damals Bundestagsabgeordnete für Die Linke, im März 2006. Dabei bezog sie sich auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall »Sisojeva u.a. gegen Lettland« vom Juni 2005. Es ging dabei um das Ehepaar Svetlana Sisojeva und Arkady Sisojev, die zur Zeit der Sowjetunion Ende der 1960er-Jahre nach Lettland gekommen waren und dort auch eine Tochter bekommen hatten. Ihr Aufenthaltsstatus blieb nach der Unabhängigkeit des baltischen Staates 1991 ungeklärt, da Lettland die Annexion des schon in der Zwischenkriegszeit unabhängigen Landes durch die Sowjetunion 1940 bzw. 1944 nicht anerkannte und die zur Sowjetzeit ins Land gekommenen Personen daher als Ausländer bzw. Staatenlose betrachtete, die gegebenenfalls das Land zu verlassen hätten. Aus einer Binnenmigration wurde somit quasi rückwirkend eine internationale Migration. In ihrer Beschwerde beim EGMR machte die Familie geltend, dass der lettische Staat durch seine Weigerung, ihren Aufenthaltsstatus zu regeln, ihr Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK) verletze. Der EGMR schloss sich mehrheitlich dieser Auffassung an, woraus die Bundestagsabgeordnete Dağdelen folgerte: »Es gibt – unter bestimmten Bedingungen – ein Menschenrecht auf Bleiberecht, das der ausländerrechtlichen Allmacht der Nationalstaaten Grenzen setzt. Dieses Recht steht auch nicht im ›humanitären Ermessen‹ der Behörden. Es gilt absolut!«
Im Jahr 2000 bemerkte Wilfried Loth, dass unter deutschen Historikerinnen und Historikern bislang selten systematisch über Internationale Geschichte nachgedacht worden sei. Bis heute ist mit dem Ansatz der Internationalen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts eher eine Perspektive auf die „große Politik“ und auf die klassische Diplomatiegeschichte verbunden. Daran hat auch die inzwischen weitgehend etablierte Umbenennung der „Geschichte der internationalen Beziehungen“ in „Internationale Geschichte“ nur wenig geändert. Die Bände, die in der von Loth gemeinsam mit Eckart Conze, Anselm Doering-Manteuffel, Jost Dülffer und Jürgen Osterhammel seit 1996 herausgegebenen Reihe „Studien zur Internationalen Geschichte“ erschienen sind, öffneten sich zwar durchaus sozial- und kulturhistorischen Ansätzen. Das Repertoire der Globalgeschichtsschreibung ist hier aber noch nicht ausgeschöpft worden. Innovative globalhistorische Monographien, wie beispielsweise Sebastian Conrads Untersuchung zu „Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich“, liegen für die deutsche Zeitgeschichtsforschung noch nicht vor. Für das ‚lange 19. Jahrhundert‘ hat Conrad es verstanden, gerade das Deutsche Kaiserreich als nationales Gebilde in den Bezugsrahmen Internationaler Geschichte einzuspannen und hierbei den deutschen Nationalismus „auch als Produkt und Effekt von Interaktionen, Austausch und Zirkulation innerhalb einer zunehmend vernetzten Welt“ zu analysieren.
Having for a long time been an area of research mainly reserved for specialists in international relations and political scientists, the international organizations (IOs) that first emerged in the twentieth century’s pre-World War II decades have also attracted renewed interest of historians for the past several years. This development has its place in a movement of ‘globalization’ within the discipline, evident in both themes and practice. The nation, the region, and the village remain pertinent units for study, but the historian interested in global history approaches them in relation to other spaces, reflecting renewed attention to connections and forms of circulation traditionally neglected in specialized studies. As will be argued below, in their role as observation posts, the IOs and international associations here comprise an especially productive area of research, in effect opening access to work on complexly intermeshing ‘circulatory regimes’.
Eine oft übersehene Dimension der Auseinandersetzung bundesdeutscher Sicherheitsakteure mit dem international vernetzten Linksterrorismus ab den 1970er-Jahren ist die sogenannte Polizeihilfe für Staaten des Globalen Südens. Bundesdeutsches Know-how und Polizeitechnik made in Germany sollten die Polizeibehörden in Partnerländern modernisieren und so die internationale Anti-Terror-Zusammenarbeit verbessern. Der Aufsatz untersucht die Dynamiken solcher Kooperationen in Lateinamerika und stützt sich dabei vor allem auf Akten der beteiligten Bundesministerien. Westdeutsche Behörden stuften die Region aufgrund ihrer politischen Instabilität als möglichen Rückzugsort terroristischer Gruppen ein. Anders als oft dargestellt, folgten die Programme jedoch kaum einer außen- oder sicherheitspolitischen Gesamtstrategie. Vielmehr entwickelten sich die prestigeträchtigen Polizeihilfen zu einer symbolischen »Währung« für die Aushandlungsprozesse zwischen den Akteuren einer zunehmend transnationalisierten »Inneren Sicherheit«. Partnerschaften zwischen den Sicherheitsinstitutionen von demokratischen Staaten wie der Bundesrepublik und Militärdiktaturen wie Brasilien, Chile oder Peru waren dabei die Regel.
Die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker (UNDRIP) bildet einen Meilenstein in der Entwicklung der Menschenrechte. Das gilt nicht nur für die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um die Etablierung von indigenen Menschenrechten, sondern auch für das internationale Menschenrecht selbst. Denn die Entwicklung indigener Menschenrechte steht exemplarisch für die Vielfältigkeit und die Multiplizierung des Menschenrechts. Sie zeigt, dass Menschenrechte sich seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 weiterentwickeln, ausdifferenzieren und verändern können, ohne damit die Idee von Menschenrechten zwangsläufig zu unterminieren. Gleichzeitig zeigt sie in all ihren (teilweise nach wie vor bestehenden) Kontroversen, dass die Prozesse der Multiplizierung und Entwicklung von Menschenrechten weder bruchlos noch widerspruchsfrei verlaufen. Indigene Menschenrechte stehen mithin für die sensible Balance zwischen dem Festhalten an der Idee von Menschenrechten einerseits und der Notwendigkeit ihrer zeithistorischen Veränderung und Herausforderung andererseits.
Nachdem sie über lange Zeit ein gleichsam illegitimes Studienobjekt war, hat die Geschichte der französischen Einwanderungspolitik inzwischen ihren Adelsbrief erhalten. Das Überangebot an Archiven mit ministeriellen Runderlassen, Verordnungen und Korrespondenzen hat es einigen Autoren ermöglicht, peinlich genaue Topographien der Verwaltungsbehörden zu liefern. Diese Analyse staatlichen Handelns beschränkt sich auf die Mitglieder der Ministerialkabinette und die hohen Funktionäre, vernachlässigt aber die Rolle derjenigen Beamten, die mit der Ausführung der Gesetze beauftragt sind. Um mit dieser Art Reduktionismus zu brechen, ziehe ich einen Blickwinkel vor, der sich auf die administrativen Praktiken konzentriert und bereits von Michel Foucault vorgeschlagen worden ist: „[...] es geht nicht darum, die regulierten und legitimen Formen der Macht in ihrem Kern und in ihren allgemeinen Mechanismen oder ihren Gesamtwirkungen zu analysieren. Es geht vielmehr darum, die Macht an ihren Grenzen, in ihren äußersten Verästelungen, dort, wo sie haarfein wird, zu erfassen, die Macht also in ihren regionalsten und lokalsten Formen und Institutionen zu packen, besonders dort, wo sie sich über die Rechtsregeln, von denen sie organisiert und begrenzt wird, hinwegsetzt und sich konsequent über diese Regeln hinaus verlängert, sich in die Institutionen eingräbt, in Techniken verkörpert und zu materiellen, vielleicht sogar gewaltsamen Interventionsinstrumenten greift.“ Ein solches Vorhaben legt es nahe, auf eine Quelle zurückzugreifen, die von den Migrationshistorikern bislang wenig herangezogen worden ist: die personenbezogenen Aufenthaltsdossiers, die von den Beamten der Präfektur geführt werden.2 Als Akten mit Personenstandsangaben unterliegen sie einer mindestens 60-jährigen Sperrfrist. Allerdings kann für wissenschaftliche Zwecke ohne weiteres eine Sondergenehmigung zur Akteneinsicht beantragt werden, wenn die Anonymität der genannten Personen garantiert wird.
Viele amerikanische Präsidenten haben ihre Amtszeit unter ein prägnantes Motto gesetzt. John F. Kennedys Leitmotiv, die „New Frontier“, hat sich tief in das amerikanische Gedächtnis eingegraben. Es wurde zum Schlüsselbegriff für die Ziele seiner nur rund 1.000 Tage währenden Präsidentschaft; für jene Zeit, die in den Augen vieler Zeitgenossen das Ende der langen Nachkriegsjahre verkörperte. Mit jugendlichem Elan und Charisma sowie einem informell-charmanten, medienwirksamen Politikstil stand „JFK“ für ein neues Amerika. Bei der „New Frontier“ ging es somit weniger um neue Grenzen als um das grenzenlos Neue im Rahmen einer imperialen Präsidentschaft.
Manche Bücher sollte man besser vom Ende her lesen, lässt sich doch so ihr archimedischer Fluchtpunkt rasch entdecken. Gewiss, für Kriminalromane empfiehlt sich eine solche Lesart nicht, wohl aber für diesen Essay-Band Hans Magnus Enzensbergers. Darin schließt der Autor seine Reiseberichte aus sieben Ländern mit einem »Epilog« ab, in dem ein fiktiver amerikanischer Journalist namens Timothy Taylor im Jahr 2006 den ebenfalls fiktiven finnischen EG-Präsidenten Erkki Rintala interviewt, der von seinem Amt freiwillig zurückgetreten ist, nachdem er wegen seiner Erfahrungen in den Korridoren der Brüsseler Politik zu einem Gegner der europäischen Integration geworden war.
Der Aufsatz beleuchtet einen von der migrationsgeschichtlichen Forschung bisher vernachlässigten Raum und seine Akteure: den Flughafen. Der Frankfurter Flughafen ist von besonderem Interesse, weil er sich zum größten Transitdrehkreuz in der Bundesrepublik entwickelte und seit den 1980er-Jahren auch ein Experimentierfeld für den Umgang mit Asylbewerber:innen wurde. Im Zentrum stehen die Positionen und Konflikte von Akteur:innen, die in Asylfälle und Zurückweisungen am Flughafen involviert waren – allen voran der Bundesgrenzschutz, der Flughafensozialdienst und die Migrant:innen selbst. Gezeigt werden zum einen die Folgen übergeordneter Politiken im konkreten Raum. Zum anderen offenbart die lokale Konfliktgeschichte auch Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten im komplexen Grenzraum der Transitzone, die wiederum auf größere politische Zusammenhänge und Regulierungsversuche wie das Flughafenasylverfahren zurückwirkten. Deutlich wird außerdem, dass Zurückweisungen an der Grenze und Abschiebungen/Zurückschiebungen aus dem Inland nicht immer klar zu trennen sind.
Historischer Vergleich
(2024)
Hartmut Kaelble zeigt in seinem Beitrag für Docupedia, dass sich Methodik, Praxis und damit auch Vergleichsräume und Vergleichszeiträume des Historischen Vergleichs in den letzten Jahrzehnten stark verändert haben. Nachdem die theoretischen Diskussionen der 1990er-Jahre über den Historischen Vergleich als weitgehend abgeschlossen angesehen werden können, ist er heute ein fest etablierter, eigenständiger Teil der transnationalen Geschichte.
In den Jahren vor dem Sechstagekrieg entwickelte sich in der Bundesrepublik Deutschland eine palästinensische Diaspora, die nach 1967 einen wichtigen Einfluss auf die Palästina-Solidaritätsbewegung im Land erhielt. Arabischsprachige Quellen wie zeitgenössische Presseartikel oder spätere autobiographische Reflexionen werfen dabei nicht nur ein Licht auf das Entstehen dieser Diaspora. Sie zeigen auch, wie die Verbindungen zwischen palästinensischen Gruppen und der radikalen Linken in der Bundesrepublik zu vielfältigen Transferprozessen führten. Seit den späten 1960er-Jahren zirkulierten Argumente, Parolen und Symbole zwischen Orten wie Beirut und Heidelberg, die sich bald in antizionistischen, zum Teil auch antisemitischen Publikationen und Protesten wiederfanden. Vor diesem Hintergrund plädiert der Aufsatz dafür, Archive im Nahen Osten stärker als bisher einzubeziehen, um die transnationalen und globalen Bezüge der deutschen Zeitgeschichte besser zu verstehen.
Guerrilla Mothers and Distant Doubles: West German Feminists Look at China and Vietnam, 1968–1982
(2015)
Communist China and Vietnam looked like the future to many West German feminists in the years after 1968. This article reconstructs a lost history of influence, identification and emulation, tracing some of the ways that Chinese and Vietnamese communism inspired and attracted West German feminists from the late 1960s to the early 1980s. Beginning in a spirit of socialist universalism, West German feminists drew on reports of the experience of East Asian women who they felt lived in the ›liberated zones‹ of post-revolutionary society. Like the French radicals who declared that ›Vietnam is in our factories‹, West German feminists created a global framework for their activism. Looking east, they borrowed or adopted models of consciousness-raising and direct action from China and Vietnam. This article tracks the arc of exchange, from the enthusiasm of the late 1960s and 1970s to the West German feminist disenchantment with both East Asian communism and the global South by the early 1980s.
Im Frühjahr 2007 veröffentlichte der „Spiegel“ eine Hommage an das „neue Berlin“. Die Titelstory über die „Wiederkehr einer Metropole“ – „Aufgebaut von den Preußen, geschändet von den Nazis, zerstört von den alliierten Bombern, meldet sich Berlin auf der Weltbühne zurück“ – nimmt ihren Ausgangspunkt am „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“. Zitiert wird aus der Besucherordnung, die ein Begehen im Schritttempo vorschreibt, die Lärmen, lautes Rufen und Rauchen verbietet und somit „eigentlich genau regelt, in welcher Gefühlslage hier in den Abgrund der deutschen Geschichte geschaut werden soll“. Doch die Jugendlichen, „die seit den ersten Frühlingstagen […] wieder das Denkmal bevölkern, denken nicht daran, hier nur Trauerarbeit zu leisten. Eine siebte Klasse aus Fürth, soeben noch ergriffen von den Dokumenten im Souterrain des Denkmals, spielte vergangenen Donnerstag inmitten des Stelenfeldes Fangen. Als sich zwei Schüler plötzlich in die Arme fielen, kreischten sie.“ Diese Szene wird zum Symbol für die neue „Leichtigkeit“, die Berlin im Umgang mit seiner traumatischen Vergangenheit erlangt habe: „Vielleicht gibt es ja im Leben jeder Stadt so etwas wie eine Relativitätstheorie. Jedes Ereignis, auch das finsterste, verblasst demnach mit der Zeit. […] Das neue Berlin ist mehr als nur ein Ort des Gedenkens und Trauerns – fröhlich, frech und manchmal mit dreister Leichtigkeit findet die Preußen-Hauptstadt zu einer neuen Identität.“
"Global history" refers to a wide range of research approaches that are typically characterized by a rising interest in alternative conceptions of space beyond methodological nationalism and Eurocentrism. It builds on a multitude of detailed research projects in all branches of historiography, ranging from economic history to cultural history and from gender history to environmental history.
„Generation” ist ein geschichtlicher Grundbegriff. Er verspricht, eine spezifische Ausprägung des Denkens, Fühlens und Handelns zu erklären, indem die unterstellte dauerhafte und gleichartige Wirkung von Sozialisationsbedingungen auf eine Gruppe von Menschen als kollektive Erfahrung aufgefasst wird.
Blickt man vom Ufer der Motława in Gdańsk Richtung Norden, schiebt sich ein Bauwerk in den Blick, das sich deutlich von seiner Umgebung abhebt: ein schräg stehender langgestreckter Quader, der dem Anschein nach gleich umkippen wird. Statisch droht zwar kein Unglück, die Schieflage des Gebäudes verdeutlicht aber im übertragenen Sinn, wie es um das Innenleben des Bauwerkes steht. Es beherbergt das Museum des Zweiten Weltkrieges. Kein anderes Museum in Polen hat in den vergangenen Jahren mehr Kontroversen ausgelöst als das Projekt in Gdańsk. Obwohl in Polen zu Recht von einem Museumsboom gesprochen werden kann und es durchaus weitere Steine des Anstoßes gegeben hätte, ist nur der Streit um das Museum in Gdańsk so eskaliert.
Die „Réflexions sur la violence“ von Georges Sorel (1847-1922) gelten bis heute als eine wichtige Inspirationsquelle linker wie rechter Gewaltlegitimation. Ihr Autor, ein französischer Straßen- und Brückenbauingenieur, der nach 25 Berufsjahren 1892 sein Amt aufgab, um sich fortan gelehrten Studien zu widmen (ein geerbtes Familienvermögen machte dies möglich), durchlief selbst den intellektuellen Parcours vom linken zum rechten Rand des europäischen politischen Spektrums und wieder zurück. Sorels Interessen reichten von der frühen Kirchengeschichte bis hin zu Philosophie, Psychologie und Soziologie; vor allem aber richteten sie sich auf die klassischen Schriften des Marxismus, denen er ausführliche Analysen widmete. Er kommentierte das politische Zeitgeschehen in seinem Heimatland, verfolgte die Revisionismusdebatte der deutschen Sozialdemokratie mit großem Interesse und stand mit Benedetto Croce, Vilfredo Pareto und anderen italienischen Denkern in engem Kontakt.
Geographische Informationssysteme (GIS) wurden bereits seit den 1960er-Jahren mit der beginnenden Computerisierung der Geographie entwickelt. Ihr Konzept folgt der Idee, Daten bzw. Informationen in ihren Raumbezügen zu organisieren und analysierbar zu machen. Mit der Weiterentwicklung und wachsenden Leistungsfähigkeit digitaler Infrastrukturen sind inzwischen komplexe Datenmodelle, flexiblere Datenformate, neue Formen der Visualisierung sowie umfassende geostatistische Analysen möglich geworden. Zudem sind kartographische Visualisierungen nicht mehr nur statisch, sondern in einem GIS können überdies Veränderungen der Daten im Zeitverlauf dargestellt und untersucht werden. Der Einsatz von GIS ist aus Forschung, Wirtschaft, Verwaltung und medialer Kommunikation kaum noch wegzudenken. Die Produkte der Arbeit mit GIS umgeben uns vielerorts, oft ohne dass wir uns der dahinterliegenden Architekturen und Annahmen bewusst sind. Aktuelle Debatten über die Sammlung zeit- und geocodierter Daten, etwa über Mobiltelefone, um Personengruppen – Konsument*innen, Migrant*innen, Geflüchtete, Bürger*innen – retrospektiv, in Echtzeit oder mit prädiktiven Modellen auf der Grundlage biometrischer und/oder sozialer Daten zu tracken, haben mit Recht Fragen zum Datenschutz und zu ethischen Implikationen dieser Technologien aufgeworfen. Anwendungen GIS-basierter Technologien, etwa bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, dem Tracking von Verbreitungs- und Infektionswegen, der Entwicklung von Krisenreaktionsstrategien oder der medialen Kommunikation der Situation scheinen uns zugleich die beträchtlichen Potentiale der raum-/zeitsensiblen Datenanalyse – in Echtzeit – zu vermitteln. Deutlich wird, dass die ethischen, methodischen und epistemologischen Effekte der Verbreitung digitaler Werkzeuge zur Durchdringung wachsender und zunehmend komplexer Datenbestände einer mehrdimensionalen Reflexion bedürfen, die augenblicklich nur mühsam mit der Expansion der technischen Möglichkeiten Schritt hält.
Die Website dokumentiert ein überaus ambitioniertes und in dieser Form konkurrenzloses Projekt gleichen Namens, das von sechs Museen bzw. Forschungseinrichtungen aus ebenso vielen Ländern betrieben wird. Es verzeichnet Erinnerungsorte in Europa, die die Geschichte des Ersten und Zweiten Weltkrieges sowie des Spanischen Bürgerkrieges zum Gegenstand haben bzw. von diesen historischen Ereignissen selbst nachhaltig beeinflusst und geprägt wurden. Das Projekt wurde laut Auskunft eines deutschen Mitarbeiters in nur einem Jahr auf die Beine gestellt - diese Information findet sich jedoch nicht in dem überaus knappen Einführungstext. Daraus ergibt sich bereits ein zentraler Kritikpunkt: Wenn der Besucher der Website etwas mehr Informationen zum Projekt und zur Zielgruppe erhielte, ließen sich etliche Fragen und Unzufriedenheiten vermeiden. Eine Website sollte ohne zusätzliche Informationen verständlich und nutzbar sein.