Erinnerung
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„Erinnerung ohne Phantasie gibt es nicht“, hat György Konrád einmal gesagt. Dieser apodiktische Satz wäre durchaus zu widerlegen, denn bisweilen sind auch
phantasielose Erinnerungspraktiken zu beobachten. Zu Recht macht Konrád aber darauf aufmerksam, daß Erinnerung nicht bloß vergangenheitsbezogen sein muß. Wenn sich das Erinnern mit der Phantasie verbindet, gewinnt es eine Zukunftsdimension und weist über rein antiquarische Rückblicke hinaus.
Angesichts der überwältigenden Flut an Zeitungsartikeln zum Thema "1848" könnte man glauben, daß das, was während der vorhergehenden Jubiläen der Revolution vor 150 Jahren versäumt wurde, nun, im Jahre 1998 in konzentrierter Form nachgeholt werden sollte. Der Frage, warum sich in der Bundesrepublik die Presse - und in ähnlicher Weise auch (öffentlich-rechtlicher) Funk und Fernsehen - so gründlich dieses Kapitels deutscher und europäischer Geschichte annahm, soll im folgenden nachgegangen werden. "Geschichte kann man nicht verändern, Traditionen aber kann man wählen." Diese Formel, die im Vorwort eines Sonderheftes der "Zeit" zur Revolution von 1848 zu finden ist, kann als erste Antwort genommen werden, eine Antwort freilich, die ihrerseits Fragen aufwirft: Was für eine Tradition soll geschaffen oder vertieft werden? Inwieweit verformt der Wille zur Traditionsbildung "die Geschichte", wird "die Geschichte" infolge der Inbesitznahme durch die Medien - entgegen der obigen Formel - also doch verändert? Welche Defizite in der Präsentation von "1848" sind zu beobachten?
Der Begriff der „Erinnerungsorte” (lieux de mémoire) wurde in den 1980er-Jahren von dem französischen Historiker Pierre Nora geprägt. Er bezeichnet ein spezifisches Forschungsparadigma, das symbolische Repräsentationen meint, die – so nehmen Forscherinnen und Forscher an – in bestimmten Gedächtnis- und Identitätsdiskursen eine signifikante Rolle spielen. Cornelia Siebeck stellt diese Forschungsperspektive vor und beschreibt ihre Genese. Sie skizziert den Erfolg des neuen Ansatzes wie auch die kritischen Einwände und zeichnet die Rezeption und Diskussion nach. Da der inflationäre Gebrauch jedoch auch zu einer theoretisch-methodologischen Unschärfe geführt hat, befasst sie sich abschließend mit aktuellen Versuchen, das Nora'sche Konzept zu präzisieren und seine analytischen Potenziale auszubauen.
In der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 wurde in Berlin-Karlshorst die endgültige Kapitulation der deutschen Wehrmacht unterzeichnet. Damit endeten in Europa der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistische Herrschaft. Ein Tag der Befreiung, ein Tag der Niederlage oder beides zugleich? Nicht erst 1995 sorgte das symbolische Datum für geschichtspolitische Kontroversen. Ein spezifisches Erinnern und Vergessen setzte in West und Ost unmittelbar nach den Ereignissen ein. Das Buch von Jan-Holger Kirsch beschreibt erstmals Formen und Inhalte dieses Gedenktages zwischen 1945 und 1995. Aus einer kultur- und gedächtnistheoretischen Perspektive wird rekonstruiert, wie er zwischen 1989/90 als Forum des deutsch-deutschen Systemkonflikts diente. Für das Gedenkjahr 1995 wird dargestellt, wie sich in der "Berliner Republik" eine gesamtdeutsche Erinnerung an die NS-Zeit herauszubilden begann.