Erinnerung
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Beyond Nostalgia and the Prison of English. Positioning Japan in a Global History of Emotions
(2021)
This article interrogates the history of emotions at a pivotal moment in its growth as a discipline. It does so by bringing into conversation the ways in which scholars in Japan have approached ›nostalgia‹ (and emotions more broadly) as an object of study with concepts, theories, and methods prioritised by a predominantly Eurocentric field. It argues that Anglocentric notions of nostalgia as conceptual frameworks often neglect the particularisms that underlie the way that the Japanese language communicates and operationalizes cultural norms and codes of feeling. It also examines the aisthetic work of musicologist Tsugami Eisuke to help understand historical and psychological distinctions between ›nostalgia‹ and Japanese ideas of temporal ›longing‹, working towards a global history of emotions that meaningfully embraces multilateral and multi-lingual interaction. This article thus argues for a more nuanced way of discussing nostalgia cross-culturally, transcending dominant approaches in the field which are often grounded in a specifically Euro-Western experience but claim universal reach.
Mein Ziel in diesem Essay ist es, die lokale Perspektive zu nutzen, um über die Begriffe »Ostalgie« und »Nostalgie« hinauszugehen. Der genauere Blick auf lokale Räume und Praktiken bietet die Möglichkeit, Erinnerungen, die gemeinhin als Nostalgie qualifiziert werden, als Teil einer schon länger bestehenden örtlichen Erinnerungskultur zu verstehen. Wie das Beispiel des sächsischen Dorfes Neukirch zeigt – vor und nach 1989/90 –, war eine ambivalente Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes ein Mittel, um die Stärke der Gemeinschaft zu beschwören. Entgegen der in Wissenschaft und Öffentlichkeit präsenten Überzeugung erscheint Nostalgie hier nicht als eine Flucht in die Vergangenheit, sondern als ein aktives Auseinandersetzen mit der Geschichte und ihren Auswirkungen in der Gegenwart.
Die Allgegenwart der NS-Zeit in Massenmedien und Populärkultur ist heute nichts Besonderes mehr. Als jedoch seit Beginn der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik in rascher Folge viele neue Bücher, Filme und Ausstellungen über Adolf Hitler herauskamen, erschien dies vielen als suspekt, wenn nicht gar als gefährlich: Vor dem Hintergrund des sich formierenden Rechtsradikalismus beschwor die »Hitler-Welle« das Gespenst einer »Nazi-Nostalgie« herauf. Warum dieser von heute aus gesehen vielleicht befremdliche Begriff damals nahelag, demonstriert der vorliegende Aufsatz. Er trägt zu einer Historisierung des Nostalgie-Konzepts bei und akzentuiert dessen politische Aufladung. Zugleich benutzt er den Begriff und die Debatte, um die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in den 1970er-Jahren genauer zu ergründen. In der Konzentration auf Hitler und mit der Ausblendung der NS-Verbrechen als Gesellschaftsgeschichte stand die »Hitler-Welle« einerseits in der Kontinuität der 1950er-Jahre. Andererseits wies sie nach vorn, nämlich auf die in der Bundesrepublik 1979 ausgestrahlte US-Serie »Holocaust«, deren Resonanz ohne die vorangegangene »Hitler-Welle« kaum zu verstehen ist, sowie auf den »Historikerstreit« der 1980er-Jahre.
Der Bedeutungsvielfalt entsprechen unterschiedliche disziplinäre Zugriffe: Während die Soziologie und, in noch stärkerem Maße, die Psychologie der Nostalgie durchaus positive Effekte beimessen, ist sie kaum irgendwo schlechter beleumundet als in der Geschichtswissenschaft, die im Vergleich mit anderen Disziplinen bisher eher wenig Interesse an einer konzeptionellen Auseinandersetzung mit der Nostalgie gezeigt hat. Indem wir in diesem Themenheft Nostalgie-Diagnosen der Vergangenheit mit Reflexionen über die Gegenwart zusammenbringen und dabei verschiedene Zugänge inner- wie außerhalb der Geschichtswissenschaft vorstellen, wollen wir zu einem differenzierteren Umgang mit kulturellen und politischen Aspekten der Nostalgie, ihrer Ambivalenz und Bedeutungsvielfalt, beitragen sowie eine stärkere zeitgeschichtliche Einordnung des Phänomens anregen.
For centuries, nostalgia denoted homesickness, but current dictionary definitions indicate that these two concepts have parted ways and acquired discrete meanings. However, it is one thing to demonstrate that contemporary definitions of nostalgia and homesickness are distinct; it is another to show that the way people think about nostalgia and its characteristics corresponds to this lexicographic knowledge. In 2012, Erica G. Hepper and colleagues therefore asked laypeople to identify which features they considered most characteristic of the construct ›nostalgia‹ and found that respondents conceptualised nostalgia as a predominantly positive, social, and past-oriented emotion. In nostalgic reverie, one brings to mind a fond and personally meaningful event, often involving one’s childhood. The person tends to see the event through rose-coloured glasses and may even long to return to the past. As a result, he or she feels sentimental, typically happy but with a hint of sadness.
Nostalgie wird oft in kulturellen und, mehr noch, popkulturellen Kontexten diskutiert. Gelegentlich – und gerade in den letzten Jahren wieder – findet sich der Begriff jedoch auch in politischen Zusammenhängen. So wird er dazu verwendet, politische Entwicklungen zu erklären: etwa das britische EU-Referendum, die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, das Erstarken der AfD in Deutschland oder den Aufstieg neuer Autoritarismen im östlichen Europa. Viele Beobachter*innen stellen einen in ihren Augen alarmierenden Zusammenhang zwischen Politik und Vergangenheitssehnsucht her. Aus ihrer Sicht resultieren die Effekte einer ungebremsten Globalisierung in einer gefährlichen Rückwärtsgewandtheit. Statt über sozioökonomische Konstellationen und Interessen erklären sie Politik emotional und psychologisch, wobei sie Nostalgie repathologisieren.
»In den Musennestern, wohnt die süße Krankheit Gestern« – so schreibt Uwe Tellkamp im pathossatten Roman »Der Turm«, dem literarischen Abgesang auf die DDR. Er schildert darin ein Refugiumsbürgertum, das sich gegen die Zumutungen der DDR in den Villen der Dresdner Elbhänge eingenistet hat – Zumutungen, die nun offenbar mit der DDR nicht untergegangen sind, denn seit einiger Zeit gehört Tellkamp selbst zu einem rechtsintellektuellen Milieu ostdeutscher Neodissidenten, die sich von einem wie auch immer gearteten Mainstream ausgegrenzt fühlen. Sie erinnern an die DDR, beklagen ihr geistiges Exil, und einige von ihnen tragen zur Normalisierung der extremen Rechten in Ostdeutschland bei.
Denkmäler haben wieder Konjunktur – nicht nur in der Kontroverse um Erinnerungs- und Ehrungszeichen im öffentlichen Raum, die einen kolonialgeschichtlichen oder rassistischen Hintergrund besitzen. In der letzten Zeit wurde zwar heftig darüber gestritten, ob derartige Denkmäler, die im Konflikt oder sogar Widerspruch zum heutigen Wertekonsens stehen, erhalten bleiben, kommentiert oder ergänzt werden, ins Museum wandern oder besser ganz verschwinden sollten. Neben der Debatte über die Entrümpelung der deutschen Denkmallandschaft werden aber auch Vorschläge für eine Neumöblierung des öffentlichen Gedenkraumes gemacht. Alternative oder zusätzliche Denkmäler werden ins Gespräch gebracht, initiiert und auch errichtet, die dem gesellschaftlichen Selbstverständnis der Gegenwart besser entsprechen, es genauer zum Ausdruck bringen und gleichzeitig mitprägen sollen. Dazu gehören nicht zuletzt Denkmäler, die an Migration und Zuwanderung erinnern.
Die TV-Serie »Holocaust« hat die deutsche Erinnerungskultur maßgeblich geprägt. Dabei war die Serie umstritten, unter anderem wegen ihres fiktionalen Charakters und wegen teilweise ahistorischer Stellen. »Wenn die nicht mal das richtig machen, dann stimmt auch alles andere nicht«, lautete ein Vorwurf an die amerikanischen Serienmacher. Das deutsche Fernsehen antwortete auf »Holocaust« mit Projekten, die eine besondere Form von Authentizität für sich reklamierten: Verfilmungen nach einer wahren Begebenheit, für deren Authentizität Zeitzeug*innen bürgten. Die TV-Serie »Ein Stück Himmel« war die größte Antwort auf »Holocaust« Anfang der 1980er Jahre. Sie erzählt das Überleben des jüdischen Mädchens Janina David. Der Aufsatz schildert, inwiefern Adaptionen zulasten von Authentizität gehen. Das TV-Team stand vor großen Herausforderungen, eine ansprechende Form von seriellem Erzählen mit Authentizität in Einklang zu bringen. Entsprechend gab es am Set heftige Kontroversen. Deutlich wird: Authentizität ist ein skalierbarer Wertbegriff. Er basiert auf verschiedenen Zuschreibungen, mit denen Akteur*innen ihre unterschiedlichen Interessen zur Realisierung oder Vermarktung der Serie argumentativ aufladen.
Kaum eine Ausstellung hat eine derartige Aufmerksamkeit auf sich gelenkt wie diese. In der Zeitgeschichtsforschung ist die durch sie und mit ihr herbeigeführte epochale Zäsur unbestritten. Im Jahr 1981 bildete die Ausstellung „Preußen – Versuch einer Bilanz“ den Höhepunkt einer regelrechten „Preußenwelle“. Bereits gegen Ende der 1970er Jahre war ein gestiegenes Interesse der Öffentlichkeit an „deutscher“ Geschichte festzustellen.
Die Debatte um die Preußen-Ausstellung im Westberliner Martin-Gropius-Bau und die Frage eines nationalen Geschichtsortes öffnete aber ebenso ein Fenster für die Erschließung des „Prinz-Albrecht-Geländes“, dessen Geschichte Anfang der 1980er Jahre (fast) vollkommen unbekannt war und an dessen Ort sich heute das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors befindet. Der „History Boom“ ging einher mit einem „Memory Boom“. Vielmehr noch: Beide verliefen nicht lediglich parallel, sondern sind verschränkt.
Ich möchte aufzeigen, dass beide – Preußen-Ausstellung und Topographie des Terrors – in den zeitgenössischen Debatten um den Umgang mit Vergangenheit verbunden sind. Doch zunächst skizziere ich knapp Vorgeschichte und Entstehung der Preußen-Ausstellung.
Zur Bonn-Nostalgie Westdeutschlands gehörte die Anhänglichkeit an das Provisorium der Nachkriegszeit, verbunden mit der Absage an staatliche Symbole und internationale politische Verantwortung. Nach dem Umzug nach Berlin kam die Prussifizierung der deutschen Nation. Sie fand ihr Sinnbild in der Rekonstruktion des Schlosses in der Hauptstadt. Von 2013 bis 2020 konnten sich die Berliner allmählich auf die neue Kulisse einstellen. Zuvor, von 2006-2008 konnte man sich vom Palast der Republik verabschieden. Der Abbau dauerte fast drei Jahre, weil das Gebäude aufgrund seiner hohen Asbestbelastung nicht einfach weggesprengt werden konnte. Mit dem Palast der Republik verschwand mit der DDR Geschichte auch der historische Ort, an dem 17 Jahre zuvor die deutsche Einheit beschlossen wurde.
Er ist einer der bedeutendsten Sozialhistoriker in Deutschland. Jürgen Kocka (Jg. 1941) beeinflusste die Geschichtswissenschaft seit den 1970er-Jahren maßgeblich und gilt zusammen mit Hans-Ulrich Wehler (1931-2014) als Begründer der „Bielefelder Schule“, die für eine Historische Sozialwissenschaft eintrat. Mit gerade 32 Jahren war Kocka 1973 an die nur wenige Jahre zuvor gegründete (Reform-)Universität Bielefeld berufen worden. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2009 war er Professor für die Geschichte der industriellen Welt an der Freien Universität Berlin. Seit 1992 baute er als Leiter den Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien in Potsdam auf, aus dem das heutige Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam hervorging. Außerdem war er Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung sowie Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 1975 gründete er die Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft, die er bis 2008 mitherausgab. Für sein Wirken ist er vielfach ausgezeichnet worden, u. a. mit dem Leibniz-Preis der DFG, dem Historikerpreis der Stadt Bochum, dem Internationalen Holberg-Gedenkpreis und dem Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland.
Jürgen Kocka hat etliche Bücher zur Geschichte der Arbeit und der kapitalistischen Klassengesellschaft, zu Arbeitermilieu und Bürgertum usw. im 19. und 20. Jahrhundert veröffentlicht und unzählige Artikel in Sammelbänden und Fachzeitschriften verfasst.
Anlässlich des Inkrafttretens der Reichsverfassung Bismarcks am 16. April 1871 sprach Yves Müller mit Jürgen Kocka über die Geschichte Preußens und des Kaiserreichs, die Demokratisierung in Deutschland, über unser Verhältnis zur Nation und aktuelle Tendenzen der Geschichtsschreibung. Das Interview bildet den Auftakt zu einem z|o-Themenschwerpunkt zur Erinnerungs- und Rezeptionsgeschichte Preußens und des Kaiserreichs, der fortlaufend ergänzt wird.
The debates about what to do with collections from colonial contexts, and how to deal with them, have developed pace and unexpected momentum in the last three years. This is especially true for artifacts from the African continent, whether they are in museums or collections in Europe, North America, or elsewhere outside the continent. But the same is true under different circumstances, and we do not want to pass over this, for colonial collections and museums in Africa. Let's take a closer look at both in light of recent debates.
The discussions about whether, to whom and when under which circumstances a return, or rather indeed: an unequivocal restitution is appropriate or not, have recently experienced differentiations. This applies already to the preconditions of most restitutions, namely the opening and making accessible of the inventories. While some think that in principle everything should be put online, another opinion maintains that whenever possible, the creators or original holders should have their say beforehand, especially in the case of 'sensitive' objects such as those containing human remains, of a sacred nature, or photographs of contexts of violence. This has also brought other issues into focus – questions about the various forms of rights of disposal, about the forms and functions of museums in Africa, and in Europe and elsewhere.
„Mit Angst, Hass und entgrenzter Gewalt – und nicht mit Sektflaschen begann die Deutsche Einheit für Linke, Deutsche mit Migrationshintergrund, Ausländerinnen und Ausländer in vielen ostdeutschen Städten“, kommentierte unlängst Christian Bangel den 3. Oktober 2020 in DIE ZEIT. „Das war nicht nur ein schlechter Start der Deutschen Einheit. Es war ein Fanal für die neuen Zeiten.“ Tatsächlich bekamen die rechten Gewalteskalationen im Übergang von der DDR zur vereinigten Bundesrepublik, die von körperlicher Bedrohung und Herabsetzung bis zu tödlichen Angriffen reichten – zuletzt immer mehr Aufmerksamkeit. In manchen Regionen hatte diese „Gewalt der Vereinigung“ vor allem für nicht-weiße Personen, Wohnungslose und Linke eine permanente Bedrohungslage geschaffen.
Unter #Baseballschlägerjahre forderte Bangel vorletztes Jahr dazu auf, die Erinnerungen an die Vereinigungsgewalt zu teilen. Innerhalb einer Woche sammelten sich mehrere hundert kurze Einzelberichte an; im November 2020 veröffentlichte der RBB in Kooperation mit ZEIT ONLINE daran anknüpfend zusätzlich sechs Kurzfilme, die Schlaglichter auf einzelne Orte werfen und Geschichten von Bedrohung, Terror und Angst erzählen. Es gibt aber auch einige autobiographische Romane. Jene, die zu dieser Zeit ihre Jugend in Ostdeutschland erlebten, erzählen davon, wie sie angegriffen, bedroht und zusammengeschlagen wurden: Clemens Meyer in „Als wir träumten“ (2007), Peter Richter in „89/90“ (2015), Manja Präkels in „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (2017).
Die autobiografischen Texte stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages, da sie eine neue Perspektive auf die Erfahrung der Transformationsprozesse der Vereinigung eröffnen und sich mit einem anderen Phänomen der postsozialistischen Gesellschaft in Zusammenhang bringen lassen: der Abwanderung. Die enthemmte rechte Gewalt war für die in diesem Beitrag ausgewählten Berichtenden ein wichtiger Anlass, den Osten zu verlassen.
Die Fotografin Vera Lentz (*1950 in Lima) schuf ikonische Bilder des internen bewaffneten Konflikts in Peru von 1980 bis 2000, der von einer hemmungslosen Gewalt geprägt war, die sowohl von der maoistisch-kommunistischen Partei Sendero Luminoso / Leuchtender Pfad, der Guerillaorganisation MRTA, den verschiedenen peruanischen Sicherheitskräften sowie von Paramilitärs verübt wurde. Knapp 70.000 Menschen wurden in Peru getötet. Beide Parteien begingen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und verstießen gegen das humanitäre Völkerrecht. Beide Seiten mordeten vor allem Indigene und Arme. Die Fotografien von Vera Lentz zählen zu den nachhaltig verstörenden Bildern der seit 2003 und noch bis zum Jahr 2026 laufenden Ausstellung „Yuyanapac“, mit der die peruanische Wahrheits- und Versöhnungskommission über den bewaffneten internen Konflikt aufzuklären versucht.
Zeitzeugin / Zeitzeuge
(2022)
Zeitzeug*innen sind nicht mehr wegzudenken aus der deutschen und internationalen Erinnerungskultur. Der Artikel von Steffi de Jong beschäftigt sich mit der Frage, wie die Zeitzeug*in zu einer derart populären Figur werden konnte. Der erste Teil behandelt den Begriff der Zeitzeug*in, im zweiten wird eine mögliche Genealogie von der Französischen Revolution bis ins digitale Zeitalter vorgeschlagen, und im dritten Teil geht es um die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Zeitzeug*in als Quelle, als Untersuchungsgegenstand und als Geschichtsvermittler*in, um schließlich in einem Ausblick nach der zukünftigen Rolle von Zeitzeugenschaft zu fragen.
Die »Wende« als Form der Kolonisierung? Zur Genese und Aktualität eines populären Deutungsschemas
(2023)
Bei der Lektüre des 2023 erschienenen Bestsellers »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung« von Dirk Oschmann sowie beim Nachvollzug der bisweilen heftigen Diskussionen, die dieses Buch ausgelöst hat, bekommt man unweigerlich das Gefühl, einer Orientalismus-Debatte 2.0 beizuwohnen. Zur Erinnerung: Edward Saids 1978 publiziertes Buch »Orientalism«, in dem ausgehend von primär wissenschaftlicher Wissensproduktion die koloniale Zurichtung und Erfindung des Orients beschrieben und kritisiert wird, gilt gemeinhin als einer der Gründungstexte postkolonialer Kritik. Tatsächlich lesen sich die Ausführungen des Leipziger Literaturwissenschaftlers Oschmann stellenweise so, als ob Ostdeutschland und die Ostdeutschen einem westdeutschen Zugriff quasi hilflos ausgeliefert wären. Gerade diese Zuspitzung wurde von einigen Kommentator*innen kritisiert, ähnlich wie bei der Orientalismus-Debatte im Anschluss an Said. Überhaupt fällt auf, dass Oschmann, wenngleich er sich nicht systematisch mit postkolonialer Theorie auseinandersetzt, so etwas wie eine postkoloniale Rhetorik in Anschlag bringt. Zum Beispiel heißt es an einer Stelle, »dass die Art und Weise, was und wie über ›den Osten‹ öffentlich geredet, geschrieben und gesendet wird, in Form von konstant negativen Identitätszuschreibungen und Essentialisierungen, komplett vom ›Westen‹ beherrscht und durchherrscht ist«. Zudem fällt auf, dass zwar auch der Kolonisierungsbegriff nicht systematisch zum Einsatz kommt, gleichwohl aber der Kolonialismus als historische Referenz erwähnt wird: »Dem Osten […] ›Demokratiefeindlichkeit‹ vorzuwerfen, ist nicht nur zynisch, sondern folgt obendrein einem seit Jahrhunderten eingeführten Herrschafts- und Diskursmuster, mit dem der westliche Kolonialismus verschiedener Couleur seine Hegemonie zu begründen sucht.« Ostdeutschland also als westdeutsche Kolonie? Und postkoloniale Kritik als Analyse-Tool für postsozialistische Dynamiken?
Da das Recht und damit auch der Strafvollzug dem Aufbau des Sozialismus dienten, ist anzunehmen, dass diese sozialistische Moral auch in den Gefängnissen vermittelt werden sollte. Wie wurde also in den DDR-Haftanstalten mit gleichgeschlechtlicher Sexualität und nicht-normativen Verkörperungen von Geschlecht umgegangen? Dieser Frage geht der Beitrag am Beispiel des Ost-Berliner Frauengefängnisses nach.
Oral History
(2023)
Seit gut vierzig Jahren bereichert die Oral History die geschichtstheoretischen und methodischen Debatten der deutschsprachigen Zeitgeschichte. Zwar ist die anfängliche Skepsis gegenüber der Oral History längst einer breiten Akzeptanz und (teils unreflektierten) Anwendung gewichen. Doch was diese Methode und Forschungsperspektive genau ist und welchen historiografischen (Quellen-)Wert sie hat, ist noch nicht abschließend geklärt. Unser Beitrag zu dieser Diskussion fragt danach, welche Entwicklung die Oral History genommen hat, welche internationalen und -disziplinären Einflüsse bedeutsam sind, welche theoretischen und praktischen Konzepte ihr zugrunde liegen und was ihre Zukunft prägt.
Oral history has been enriching the theoretical and methodological debates of German-language contemporary history research for over forty years. While early skepticism towards oral history has long since given way to its broad (and sometimes uncritical) acceptance and application, there is still much debate about what exactly it is as both a method and a research field, and what value for historiography – and as source material – it has. In our contribution to the debate, we explore how oral history has developed over time, which international and interdisciplinary influences have proven significant, its underlying theoretical and methodological concepts, and which factors might shape its future.