vor 1900
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Extravagante Danksagungen in literarischen und wissenschaftlichen Büchern werden regelmäßig in den Massenmedien und auf Social Media zur Unterhaltung verbreitet und debattiert. Auch am Beispiel von in Danksagungen nicht erwähnten Mitarbeiter:innen und Ghostwritern werden verschiedene Auslegungen guter wissenschaftlicher Praxis und redlichen Schreibens diskutiert. Für Danksagungen interessieren sich jedoch nicht nur die Massenmedien, sondern erst recht die Wissenschaftler:innen selbst. Zwar sind akademische Danksagungen von der geistes- und geschichtswissenschaftlichen Forschung bisher kaum systematisch untersucht worden. Gleichwohl stellen sie einen von Fachkolleg:innen aufmerksam rezipierten Paratext dar, der ebenfalls der Unterhaltung dienen kann, durch den sie sich aber auch ein Bild vom jeweiligen Autor bzw. von der Autorin verschaffen. Anhand von Danksagungen wird überprüft, in welchen fachlichen Schulen sich die Autor:innen verorten, für welche Unterstützung sie sich bei wem bedanken, welche privaten Ansichten und Angelegenheiten sie preisgeben und inwiefern sie fachliche Konventionen einhalten. Umgekehrt ist dieser prüfende Blick der Kolleg:innen den Verfasser:innen von Danksagungen bekannt. Über die Geste hinaus bieten Danksagungen den Autor:innen daher die Möglichkeit, sich den Kolleg:innen als Wissenschaftler:in und (Privat-)Person zu präsentieren.
Stellen wir uns historisch Forschende der Zukunft vor, für die Fragen einer geschlechtersensiblen Sprache keine Rolle mehr spielen werden. Das Problem wird für sie seit langem obsolet geworden sein (so, wie sich im 20. Jahrhundert kaum jemand mehr fragen musste, wie man einen Hochadligen anzusprechen hatte, und im 21. Jahrhundert den Jüngeren die Anrede »Fräulein« für unverheiratete Frauen jedes Alters fremd geworden war). Stellen wir uns weiter vor, dass die historisch Forschenden sich in einem zukünftigen Jahr X für jene Menschen interessieren, die im frühen 21. Jahrhundert an Universitäten im deutschsprachigen Raum lernten. In schriftlichen Hinterlassenschaften dieser Zeit werden sie einer Vielzahl von Möglichkeiten begegnen, die Lernenden als Gruppe anzusprechen und deren Zusammensetzung mit Blick auf das Geschlecht sprachlich und typographisch zu erfassen: Student(inn)en, Student/innen, StudentInnen, Studentinnen und Studenten (oder vice versa), Studierende, Student_innen, Student*innen, Student:innen. Offensichtlich, diese Vermutung würden die Forschenden wohl anstellen, war in den Jahren um 2020 in Bezug auf die Bezeichnung geschlechtlicher Differenzen etwas in Bewegung geraten, ohne dass sich den Nachgeborenen die mit den Wörtern und Zeichen verbundenen Bedeutungen unmittelbar erschlössen. Gut möglich, dass sie zunächst ein leichter Schwindel erfassen wird, bevor sie sich an ihre sozial-, kultur- oder wissensgeschichtlichen Untersuchungen machen.
Der Bedeutungsvielfalt entsprechen unterschiedliche disziplinäre Zugriffe: Während die Soziologie und, in noch stärkerem Maße, die Psychologie der Nostalgie durchaus positive Effekte beimessen, ist sie kaum irgendwo schlechter beleumundet als in der Geschichtswissenschaft, die im Vergleich mit anderen Disziplinen bisher eher wenig Interesse an einer konzeptionellen Auseinandersetzung mit der Nostalgie gezeigt hat. Indem wir in diesem Themenheft Nostalgie-Diagnosen der Vergangenheit mit Reflexionen über die Gegenwart zusammenbringen und dabei verschiedene Zugänge inner- wie außerhalb der Geschichtswissenschaft vorstellen, wollen wir zu einem differenzierteren Umgang mit kulturellen und politischen Aspekten der Nostalgie, ihrer Ambivalenz und Bedeutungsvielfalt, beitragen sowie eine stärkere zeitgeschichtliche Einordnung des Phänomens anregen.
Europa ist ein »Kontinent der Nostalgie«. So jedenfalls betitelte der Publizist Markus Somm im November 2018 einen Artikel in der »Basler Zeitung«. »Die Europäer verzweifeln an der Gegenwart. Früher war alles besser«, lautete der Untertitel. Den Aufhänger lieferte eine repräsentative Umfrage der Bertelsmann Stiftung unter mehr als 10.800 EU-Bürger*innen über ihr Verhältnis zur Vergangenheit und die daraus resultierenden Einstellungen zu gegenwärtigen Problemlagen. Ungeachtet dessen, dass die Fragen der Bertelsmann-Studie als suggestiv und die Ergebnisdeutungen als vereinfachend kritisiert werden können, ist bemerkenswert, welchen Widerhall diese »Nostalgie-Studie« in der deutschsprachigen Presselandschaft fand. Dabei war es nicht nur das Statement »Früher war alles besser«, das zahlreiche Tageszeitungen wiederholten, sondern auch der Verweis auf die politische Wirkungsmacht des Gefühls der Nostalgie. Die Autorinnen der Studie selbst behaupteten, Nostalgie sei »ein mächtiges Mittel der Politik«. Ob die Politik dieses Gefühl instrumentalisiert oder Nostalgie in spezifischen Kontexten per se politisch aufgeladen ist, ließen sie allerdings unbeantwortet.
Seit sich die republikanische Regierungsform in Frankreich endgültig durchgesetzt hatte (1875), waren vier Gruppen von Franzosen Diskriminierungen ausgesetzt, die im Staatsangehörigkeitsrecht festgeschrieben waren: französische Frauen, die Ausländer heirateten; algerische Muslime, Eingebürgerte und Juden. Die Republik erkannte sie als Franzosen an, gewährte ihnen aber nicht in jeder Hinsicht gleiche Rechte. Heute sind diese Diskriminierungen verschwunden. Doch zwei der vier Gruppen – die Juden und die algerischen Muslime – tragen weiterhin die gelebte Erfahrung und die Erinnerung früherer Diskriminierungen, auch wenn sie inzwischen völlig gleichberechtigt sind und zum Teil Anerkennung oder Reparationen erhalten haben. Der Aufsatz soll verstehen helfen, warum dies so ist, und greift dafür auf psychoanalytische Erklärungsansätze zurück. In beiden Fällen gab es ein zweites Ereignis, das die schmerzliche Vergangenheit reaktivierte: eine Rede de Gaulles 1967 bzw. die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 1993. Dieses zweite Ereignis geschah in einer Zeit formaler Rechtsgleichheit und wies dennoch auf die Zeit der Diskriminierung zurück.
Vom Wort „Imperium“ geht eine archaische Faszination aus. Es weckt Assoziationen von herrscherlicher Willkür und roher militärischer Gewalt, von oberster Autorität, die keine Gleichberechtigten anerkennt, von kommandierender Verfügung über riesige Räume, schließlich über den Erdball an sich. Das Bildgedächtnis wartet mit Spektakulärem auf: der Brutalität des Nebukadnezar, der Dynamik Alexanders, Peter Ustinovs Kaiser Nero, Chaplins Großem Diktator im Ballett mit dem Globus, Eroberungsschlachten seit Cortez’ Vormarsch gegen die Azteken, Rückzugsgefechten bis Algier 1958 und Saigon 1975. Im Imperium kristallisiert sich der höchste Anspruch auf monopolisierte Macht. Allein aus Gründen symbolischer Politik musste daher jeder US-Präsident nach dem Zusammenbruch des strategischen Gleichgewichts der Supermächte eine imperiale Rhetorik und einen imperialen Gestus annehmen (was George W. Bush in besonders ausgeprägter Weise getan hat).
In dem letztlich gescheiterten Bemühen, seine Existenz zu sichern, zeigt das Osmanische Reich Ähnlichkeiten zum Habsburger- und zum Zarenreich. Einen deutlich imperialen Status besaß das Osmanische Reich vor allem vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, während der imperiale Charakter osmanischer Herrschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert weniger ausgeprägt war. Eine islamisch-christliche Konfrontation zur Erklärungsgrundlage des Verständnisses zwischen dem Osmanischen Reich und den anderen europäischen Großmächten machen zu wollen würde in eine Sackgasse führen; so zeigte die von Sultan Abdülhamid II. um 1900 verfolgte Option eines Panislamismus deutlich machtstrategisch-utilitaristische Züge. Nach wie vor wird in der internationalen Geschichtsforschung jedoch debattiert, wie die Elemente einer Gleichrangigkeit oder einer Marginalisierung des Osmanischen Reichs im Verhältnis zu den europäischen Großmächten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu bewerten sind. Das imperiale Erbe der Osmanen in Südosteuropa und in den arabischen Nachfolgestaaten ist umstritten und bisher nicht ernsthaft erforscht worden; ob es zu einer Erklärung der heutigen Konfrontation von Islamismus und amerikanischem Imperium beitragen könnte, wäre noch zu untersuchen.
Die inhärenten Probleme des amerikanischen Imperiums sind nur zu begreifen, wenn man sich dessen tieferliegenden inneren Widersprüchen zuwendet. Dabei rückt vorwiegend eine Schwierigkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung: Wie können die USA gleichzeitig ein Imperium und ein an eigenen Sicherheitsinteressen ausgerichteter Nationalstaat sein? Es erscheint nahezu unmöglich, die von Peter Bender ausgemachte „augusteische Schwelle“ zum dauerhaften Imperium zu überschreiten, wenn dieses Problem nicht gelöst wird – sonst droht dem amerikanischen Imperium das gleiche Schicksal wie seinem britischen Vorgänger. Diese These wird in drei Schritten hergeleitet. Erstens verfolgt der Artikel die komplizierten Linien der inneramerikanischen Diskussion über den Begriff des empire. In einem zweiten Schritt werden die zum Teil weit zurückreichenden historischen Entstehungsbedingungen des amerikanischen Imperiums untersucht; dabei ist festzuhalten, dass die USA bereits an der Schwelle zum 20. Jahrhundert den entscheidenden Schritt zum Imperium taten. Drittens wird die These von den strukturellen inneren Widersprüchen des amerikanischen Imperiums näher erläutert.
Staatssymbole sind ein unverzichtbares Attribut souveräner Nationalstaaten. Als visuelle und audiovisuelle Medien geben sie Aufschluss über den Kern staatlichen Selbstverständnisses, was sie zu einer interessanten Quelle für die historische Forschung macht. Symbole wie Flagge, Staatswappen und Nationalhymne repräsentieren den Staat nach außen und unterstreichen seine Souveränität, während sie nach innen der Integration und der Identitätsbildung dienen. Weil Staatssymbolik auf Beständigkeit angelegt ist, wird sie nur selten Modifikationen unterworfen. Meist sind es Systemwechsel, die Veränderungen der symbolischen Ordnung nach sich ziehen. In solchen Umbruchsituationen gilt den üblicherweise kaum bewusst wahrgenommenen Staatssymbolen verstärktes öffentliches Interesse. In der jüngeren Vergangenheit war dies am Beispiel der postsozialistischen Staaten gut zu beobachten. Deren Staatssymbolik lässt wie in einem Brennglas den Wandel des politischen und des Wertesystems erkennen, der seit dem Ende des Staatssozialismus stattgefunden hat.
Die Aktualität der Antiquiertheit. Günther Anders’ Anthropologie des industriellen Zeitalters
(2006)
Der Titel von Günther Anders’ philosophischem Hauptwerk, das vor 50 Jahren erschienen ist, macht es leicht, die historische Distanz, die uns heute von diesem Buch trennt, mit seinem eigenen Begriff zum Ausdruck zu bringen: Die „Antiquiertheit des Menschen“ erscheint heute selbst in vielerlei Hinsicht antiquiert. Anders’ „Gelegenheitsphilosophie“ (S. 8) blieb auf spezifische Weise an die Gelegenheit ihres Entstehens gebunden. Seine Studie „über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution“, so der Untertitel, ist damit zugleich ein Dokument der Zeitgeschichte und der Biographie ihres Autors. Als solches enthält sie aber auch Anregungen für die Zeitgeschichtsforschung, die durchaus noch aktuell sind.