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Atomisierung, Entmündigung, Zwangsorganisation. Arbeitsrecht und Arbeitsverfassung im Dritten Reich
(2013)
Die Arbeitsverfassung des Dritten Reiches zielte in ihrem Kern auf die "vollkommene Atomisierung der deutschen Arbeiterklasse", so der sozialdemokratische Politikwissenschaftler Franz Leopold Neumann 1942 in seinem berühmten "Behemoth". Und in den Deutschland-Berichten der SOPADE hieß es bereits 1935: "Das Wesen der faschistischen Massenbeherrschung ist Zwangsorganisation auf der einen, Atomisierung auf der anderen Seite." Atomisierung und eine zugleich repressive wie sozialpaternalistische Integration der Arbeitnehmerschaft in eine rassistisch definierte "deutsche Volks- und Leistungsgemeinschaft" - in diese Formel lassen sich auch die Grundintentionen fassen, nach denen das NS-Regime die neue Arbeitsverfassung und ebenso das Arbeitsrecht zu strukturieren versuchte. Was aber heißt dies konkret? Wie erfolgreich waren das Hitler-Regime und die nationalsozialistischen Arbeitsrechtler bei der Verwirklichung dieser Ziele? Zu diskutieren ist in diesem Zusammenhang außerdem, ob (und inwieweit) sich die Arbeitsmarktkonstellationen, (sonstige) Tarifverhältnisse und innerbetriebliche Sozialbeziehungen auf Dauer überhaupt autoritär-zentralistisch regulieren lassen.
Aspekte einer Theorie der auditiven Kultur. Ästhetische Praxis zwischen Kunst und Wissenschaft
(2010)
In den letzten Jahren wurde viel über die Situation in
den Geisteswissenschaften diskutiert, zur Debatte stand ein Paradigmenwechsel – die Idee der Geisteswissenschaften sollte durch die der Kulturwissenschaften ersetzt werden. Das Bestreben, die aktuellen Lebensverhältnisse in ihren kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Erscheinungsformen zum Thema der Wissenschaft zu machen, hatte zunächst, so könnte man die Entwicklung im 20. Jahrhundert zusammenfassen, die Neugründung von Wissenschaften zur Folge. Dazu gehören, mit unterschiedlichen Akzentuierungen und Orientierungen, Politologie und Soziologie ebenso wie etwa auch die Anthropologie. Diese Entwicklung setzte sich jedoch weiter fort. Die aktuelle Diskussion resultiert daraus, dass nun auch Bereiche erfasst sind, in denen traditionell ein anderes Wissenschaftsverständnis herrscht, nämlich das der Geisteswissenschaften.
Verlagstext, s. http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-04503-6.html: "In seinem kurzen Leben behauptete sich der Historiker und Politiker Arthur Rosenberg (1889-1943) auf verschiedenen Gebieten. Geboren und aufgewachsen im kaiserlichen Berlin, erwarb er sich früh einen guten Ruf als Althistoriker. Nach dem Bruch mit seinem Herkunftsmilieu, dem assimilierten jüdischen Bürgertum und der deutschnationalen Gelehrtenwelt, wurde er ab 1918 ein führender kommunistischer Politiker, der dem Reichstag und der KPD-Spitze angehörte und dort ultralinke Positionen vertrat. Mitte der zwanziger Jahre gelangte er zu einer realistischeren politischen Haltung und verließ 1927 die KPD. In den folgenden Jahren profilierte er sich als Zeithistoriker und unabhängiger Marxist. Er starb 1943 im New Yorker Exil. Seine Bücher über Aufstieg und Fall der Weimarer Republik, zur Geschichte des Bolschewismus und über Demokratie und Sozialismus übten und üben noch immer einen bemerkenswerten Einfluss auf die intellektuellen Debatten zu diesen Themen aus. Die vorliegende Biographie Arthur Rosenbergs zeichnet auch seine wechselvollen Positionen zum Judentum und zum Zionismus nach."
Armut in China. Anspruch und Wirklichkeit der chinesischen Agrarpolitik seit den 1950er-Jahren
(2022)
Es sind vor allem die Erfolge bei der Überwindung der Armut, die der von der chinesischen Kommunistischen Partei unter Xi Jinping geführten Regierung Legitimation im Inneren und internationale Reputation verschaffen. Diese Erfolge werden von Institutionen wie der Weltbank oder der UNESCO bestätigt, die in ihren Veröffentlichungen die Zahl von über 800 Millionen Menschen nennen, die in China ab 1978 »aus der Armut gehoben worden« seien. Aber wie plausibel sind solche Erfolgsmeldungen? Die Analyse einer Vielzahl von Quellen zur Entwicklung der Armut seit den 1950er-Jahren zeigt, dass die Armutsdaten unzuverlässig und widersprüchlich sind. Des Weiteren wird deutlich, dass die sich wandelnden Strategien für die Landwirtschaft nicht das Ziel hatten, die Armut zu überwinden. Vielmehr sollte die staatliche Agrarpolitik vor allem billige Arbeitskräfte und finanzielle Ressourcen für Investitionen in Industrie und Infrastruktur bereitstellen. Nicht die agrarpolitischen Maßnahmen des chinesischen Staates, sondern die ländliche Bevölkerung selbst sorgte durch vielfältige Aktionsformen und Anpassungsstrategien für eine bescheidene Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Entgegen dem ersten Augenschein in den glitzernden Metropolen ist China weiterhin kein reiches Land. Nach wie vor bildet die Armut der Landbevölkerung die strukturelle Voraussetzung für das industrielle Wachstum.
Armut
(2023)
Allgemein betrachtet, beschreibt Armut einen Zustand am unteren Ende einer sozialen Hierarchie, der sich mit eingeschränkten Ressourcen sowie verminderten Mobilitäts- und Lebenschancen verbindet. In diesem Beitrag wird zunächst ein Überblick über gebräuchliche definitorische Annäherungen gegeben, ehe die bisherigen Schwerpunkte (zeit-)historischer Beschäftigung nachgezeichnet werden. Hiervon ausgehend, werden Perspektiven und Desiderate der gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen Armutsforschung erörtert, und zwar unter Berücksichtigung der methodisch-konzeptionellen wie heuristisch-quellenkritischen Herausforderungen und Chancen, die sich mit einer Zeitgeschichte der Armut verbinden.
Als bekannt wurde, dass Sebastião Salgado als erster Fotograf den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2019 bekommt, hatte ich das Gefühl, dass er medial vor allem durchgewinkt wurde, obwohl seine Art zu fotografieren innerhalb der Fotografie und Fototheorie stark polarisiert, weil er wie kaum ein zweiter Künstler die Fotografie mit ihren Dichotomien konfrontiert. Er ist Amateur und Profi, Fotojournalist und Kunstfotograf; er produziert nicht nur Fotografie, er vertreibt und kuratiert sie auch; er ist – zusammen mit seiner Frau – seine eigene Agentur und thematisch sowohl konservativ und religiös, als auch an zeitgenössischen Diskursen interessiert. Andere Dualismen sind die zwischen barock und schwarz-weiß, zwischen emotional und ästhetisch distanziert. Sie zeigen sich auch in der Rezeption, je nachdem, von welcher Seite er betrachtet wird. Denn dokumentarische Praktiken werden im Fotojournalismus anders diskutiert als im Kunstbetrieb.
The internationalization of ideas is an old idyll, and an old anxiety. “The invasion of ideas has followed on from the invasion of the barbarians”, the aged François-René de Chateaubriand wrote in 1841, in his last reflections on the new “universal society” which was no more than a confusion of needs and images”: “when steam power will have been perfected, when, together with the telegraph and the railways, it will have made distances disappear, there will not only be commodities which travel, but also ideas which will have recovered the use of their wings”. This universe of fluttering and floating ideas is at first sight exhilarating for intellectual history. A world in which ideas soar across the frontiers of distance and nationality is also a world full of ideas, and a world of opportunity for intellectual history. But all is not, I fear, as encouraging as it appears. The international or transnational turn which is such a powerful preoccupation of present historical scholarship may even, in the end, be subversive of the old enterprise that Marx described disobligingly in 1847 as “sacred history – the history of ideas”.
Das Ausstellungskonzept „Talents“ ist ein Förderprogramm für junge Fotografen und Kunstkritiker. Es wird seit 2006 jährlich von c|o Berlin ausgeschrieben und vom Gründungspartner Deutsche Börse AG finanziell unterstützt. Das Thema der Ausschreibung ist jeweils vorgegeben und besitzt in der Regel einen weiten Interpretationsrahmen. Die Jury dieses Talentwettbewerbs besteht aus Kuratoren, Bildwissenschaftlern, Journalisten und Fotografen. Bewertet wird, laut Selbstbeschreibung, die Umsetzung des vorgegebenen Themas in ein „inhaltlich und ästhetisch qualitativ hochwertiges“ Werk.
Die Ausschreibung mit dem Thema „Memories“ gewann – neben den weiteren Preisträgern Iveta Vaivode, Marc Beckmann, Krzysztof Pijarski – der 1981 in Halle geborene Emanuel Mathias. Seine Arbeit mit dem Titel „Kunst, Freiheit und Lebensfreude“ ist derzeit in den Ausstellungsräumen von c|o Berlin in der Nähe des Bahnhof Zoo zu sehen.
Szenen aus einem Werbeclip sind mit der russischen Invasion Realität geworden: Taxifahrer und Geologiestudenten, Väter und Söhne, Programmierer und Vorarbeiter, Fußballfans und Nachbarn verteidigen mit Waffen ihre Heimat, wo russische Bomben Wohngebiete, Krankenhäuser, Kirchen und Museen treffen. Für Gesellschaften jenseits der Ostgrenze der EU ist es atemberaubend solche Taten anzusehen. Zugleich bemühen sich hier viele, Hilfe zu leisten durch Geld- und Sachspenden, Hilfsdienste an Bahnhöfen und Angebote für die Aufnahme des größten Flüchtlingsstroms, den Europa seit 1945 gesehen hat. Auch die Wissenschaft ist nicht untätig geblieben.
Zugleich hat dies alles historische Dimensionen. Dementsprechend haben Historiker:innen in der Ukraine ein Soundarchiv gegründet, um die Auswirkungen des Krieges in Podcasts zu dokumentieren. Hier spielt das renommierte Center for Urban History in Lwiw eine zentrale Rolle; es sammelt zugleich private Aufnahmen vom Kriegsalltag für sein Urban Media Archive. Und es hat ein Oral History Projekt gestartet, um die Erfahrungen der ersten Kriegstage weiter zu dokumentieren. Aber auch in Kiew und anderen Städten scannen Archivar:innen fieberhaft die Bestände – Bomben- und Granatangriffen zum Trotz.
Dabei ist nicht zu vergessen, dass all diese Menschen nicht nur Kämpfer:innen und Geflüchtete sind. In ihren Heimatstädten stehen Lebensräume, Erinnerungsorte und Gedächtnisspeicher unter Beschuss, die ihr Leben geprägt haben. Sie bei der Bewahrung und dem (Wieder-)Aufbau dieser Speicher zu unterstützen, ist die Kernaufgabe einer europäischen Geschichtswissenschaft.
Archiv der Poeten. Eine Anthologie zur Geschichte des lyrischen Sprechens – und der Aufnahmetechnik
(2011)
Mit der Erfindung des Phonographen durch Thomas Alva Edison im Jahre 1877 wurde möglich, was bis dahin ins Reich der Fantasie gehörte: die Speicherung von Schall und Klang. Damit wurde wiederholt und jederzeit abrufbar, was zuvor nur in seiner flüchtigen Einmaligkeit zu vernehmen war: die Stimme, oder konkreter: Gesungenes und Gesprochenes. Gereimtes war es, was Edison als Beweis für das Funktionieren seiner Technik in den Schalltrichter des Sprechapparates hineinrief: „Mary had a little lamb. Its fleece was white as snow. And everywhere that Mary went, the lamb was shure to go.“ Auch wenn diese Aufnahme nicht mehr existiert, da sich die ersten Wachswalzen bloß ein- bis zweimal abspielen ließen, kann man von der Geburt der Tonaufnahme aus dem Geiste des Gedichts sprechen.
Like any political, economic, or social happening, the building of architecture can be understood as an historical event. But unlike those other, particularly discrete, types of events, an architectural “event” takes on a concrete form that not only preserves the moment of its beginning but also registers, to a palpable extent, further developments within its context - a process that can be understood as the development of scars upon the architectural surface. It is no coincidence, then, that Reinhart Koselleck used an architectural metaphor to describe the layering of "geschichtliche Zeiten" (historical times) that emerge between "Vergangenheit" and "Zukunft" (past and future), "Erfahrung" and "Erwartung" (experience and expectation): „Wer sich im Alltag von geschichtlicher Zeit eine Anschauung zu machen sucht, der mag auf die Runzeln eines alten Menschen achten oder auf Narben, in denen ein vergangenes Lebensschicksal gegenwärtig ist. Oder er wird sich das Nebeneinander von Trümmern und Neubauten in Erinnerung rufen, und er wird auf den augenfälligen Stilwandel blicken, der einer räumlichen Häuserflucht ihre zeitliche Tiefendimension verleiht, oder er wird auf das Neben-, Unter- und Übereinander unterschiedlicher modernisierter Verkehrsmittel schauen [...].“
Arbeitsverfassung
(1998)
Die Regeln, nach denen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber als soziale Kontrahenten formieren und ihre Interessen zur Geltung bringen, und ebenso die Modalitäten, nach denen die Arbeitsbeziehungen einem realen oder fiktiven gesamtgesellschaftlichen Interesse zu- und untergeordnet werden, berühren in allen hochindustrialisierten Gesellschaften immer auch den Kern des politischen Gesamtsystems. Zugleich spiegeln die jeweiligen Arbeitsverfassungen das Selbstverständis der herrschenden Eliten wie die allgemein-politischen Konstellationen. Dies gilt nicht zuletzt für die drei deutschen Gesellschaftssysteme, die hier zur Debatte stehen.
»Kern/Schumann I und II« sind wichtige Quellen für den Wandel der Arbeitswelt, allerdings können die Studien aufgrund ihres spezifischen Untersuchungsdesigns nur auf bestimmte geschichtswissenschaftliche Fragen Antworten geben: Sie konzentrierten sich auf Erwerbsarbeit und besonders auf die industrielle Stammbelegschaft. Begrenzt erkennbar sind deshalb Erfahrungen von Migranten und Frauen sowie unterschiedliche Beschäftigungsarten und -bereiche. Hierzu versprechen andere SOFI-Studien mehr Auskunft.[52] Die Vorstellung von »Kern/Schumann I und II« in diesem Beitrag ist verbunden mit einem Plädoyer, die große Vielfalt der SOFI-Studien für Zwecke der Geschichtswissenschaft zu nutzen.
Die Geschichte der mittel- und osteuropäischen Arbeiterschaft in der Zeit vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der kommunistischen Parteidiktaturen gehört nicht zu den besonders gut erforschten Segmenten moderner Arbeitsgesellschaften. Dabei schlagen nicht so sehr quantitative Defizite und methodische Probleme zu Buche. Vielmehr wirken noch immer Wahmehmungsmuster aus der Zeit des Kalten Krieges nach. Die seit den fünfziger Jahren entwickelten Argumentationslinien ließen die Arbeiter in den Ländern und Gesellschaften des sowjetischen Blocks aus der westlichen Perspektive zumeist in einem mehr oder weniger manifesten Dauerkonflikt mit den Parteiregimes erscheinen. Diese wiederum beanspruchten, nicht nur selbst ein Teil der Arbeiterklasse zu sein, sondern auch als deren Avantgarde bei der Erfüllung einer historischen Mission aufzutreten. Ihre offizielle Historiographie war auf dieses Erklärungsmuster festgelegt. Solche apologetischen Positionen wurden nach 1989 nahezu völlig aufgegeben. Allenfalls im Verweis auf soziale Sicherheit der Arbeiterexistenz im Realsozialismus finden sich Anklänge daran. Statt dessen neigte sich das Pendel in die Richtung eines „historischen Turpismus“. In seinem Licht erschien der Arbeiteralltag im sowjetischen Macht- und Einflußbereich als permanente Misere. Solche bipolaren, an den einfachen Koordinaten des Kalten Krieges orientierten Interpretationen traten seit Mitte der neunziger Jahre gegenüber einer differenzierteren Sicht auf die Arbeitergeschichte Mittel- und Osteuropas etwas zurück. Inzwischen dominiert eine eher ambivalente Perzeption. Ihr zufolge war der Arbeiterschaft durchaus ein gegen die Parteidiktaturen gerichtetes Resistenzpotential eigen, doch blieb sie auch um Arrangements mit den Machteliten nicht verlegen.
Als Brigitte Reimann, die literarische Chronistin des Aufbaus von Hoyerswerda-Neustadt, 1968 die Stadt nach einem knappen Jahrzehnt wieder verließ, schreibt sie voller Verwunderung: „Merkwürdig, wie man sein Herz an diese öde Landschaft gehängt hat, an diese unmögliche Stadt, an die Leute, an - Gott weiß was. Wenn ich denke, daß nur ein paar Blöcke in einer Sandwüste standen, als wir hierherkamen, und jetzt ist es eine Stadt von fast sechzigtausend Einwohnern, und das Kombinat ist ein riesiger Komplex geworden.“ Nicht nur die sensible Schriftstellerin besaß ein zwiespältiges Verhältnis zu dieser Stadt, sondern dieses Gefühl zwischen Zuwendung und Ablehnung ist heute noch bei der Aufbaugeneration verbreitet; der Stolz auf das Geleistete herrscht vor, wobei die triste Gegenwart zur Verklärung der Vergangenheit beiträgt. Der Chefarchitekt von Hoyerswerda betrachtete sein Werk bereits 1963 mit einer gewissen Trauer: „Er hat sich seine Stadt auch anders vorgestellt. Er sagt, er habe sich vorgestellt, er werde eine wunderschöne Stadt bauen und später, wenn er alt ist, zuweilen aus Dresden rüberkommen, die Straße entlanggehen und in seiner Stadt Kaffee trinken. Die Mittel für die zentralen Bauten sind rigoros gestrichen worden.“
Nach zwölf Jahren Naziherrschaft war Deutschland, von außen betrachtet, ein in hohem Maße befremdendes Land. Beobachter aus den Reihen der Alliierten maßen das nazistischer Barbarei anheimgefallene, hochindustrialisierte Land fast zwangsläufig mit ethnologischem Blick - so auch der zum Zeitpunkt der Befreiung 28-jährige US-amerikanischen Nachrichtenoffizier Daniel Learner, der Anfang April 1945 eine Informationsreise durch die von den Ame1ikanern bereits besetzten Teile des Ruhrgebiets unternahm. Seine Eindrücke faßte er in einem Bericht zusammen.
Arbeitergeschichte
(2010)
Mit dem „rheinischen“ Kapitalismus ist in den vergangenen Jahren auch das bundesdeutsche Modell der Sozialpartnerschaft in die Krise geraten. Dies wirft neue Fragen nach seiner Entstehung als eines westeuropäischen Sonderfalls auf. Ein wichtiges, bisher jedoch wenig beachtetes Problem bestand in der ideellen und institutionellen Einbindung der Industriearbeiter, die der neuen bundesdeutschen Ordnung zunächst vielfach distanziert gegenüberstanden. Anhand einer Fallstudie zur kommunistischen Bewegung im Ruhrgebiet beleuchtet der Aufsatz den mentalen und habituellen Wandel der Arbeiterschaft nach 1945 sowie die institutionellen Konsequenzen dieses Wandels. Die deutsch-deutsche Systemkonkurrenz mit dem „Arbeiterstaat“ DDR hatte dabei besondere Bedeutung. Die „nationale“ Deutschlandpolitik der DDR zerstörte einerseits ungewollt das kommunistische Betriebsmilieu und förderte den Niedergang direkten, autonomen Betriebshandelns. Andererseits verstärkte die kommunistische Herausforderung Bemühungen um eine positive Einbindung der Arbeiterschaft durch Gewerkschaften, Industrie und Staat. Angesichts einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber der politischen Reife der Arbeiter und in Abwehr der SED-Politik erneuerte sich die gewerkschaftliche Arbeit; sie verstand sich zunehmend als institutionalisierte Konfliktbewältigung durch professionelle Verbändepolitik. Infolgedessen waren die westdeutschen Gewerkschaften nicht länger Weltanschauungsgemeinschaften.
Wo liegen heute die Perspektiven einer Geschichte der Industriearbeit? Über einige Jahre hinweg ging von diesem Themengebiet wenig Reiz aus: Gewiss gab es einige wichtige Detailstudien, aber große methodische Neuerungen blieben weitgehend aus. Letztlich kann dieser Befund nicht verblüffen, da gerade die 1970er und 1980er Jahre ein – damals in diesen Ausmaßen neues – Interesse an der Arbeiter- und Industriegeschichte hervorgebracht hatten, das gleichzeitig von methodischer Innovation mit Strahlkraft auf die gesamte Geschichtswissenschaft geprägt gewesen ist. In Deutschland konnte sich überhaupt erst im Zuge dieser Entwicklung die Sozialgeschichte etablieren.
Über die Jahrhunderte wurde Arbeit in Europa zur ethischen Pflicht, zum Lebenssinn und zum Menschenrecht aufgewertet. Auf diesem Hintergrund gewann die Kritik an der schlechten Realität der Arbeit im Kapitalismus im 19. Jahrhundert ihre große historische Kraft. Sie verband sich mit der Hoffnung und dem Versprechen, in einer zukünftigen klassenlosen Gesellschaft Gerechtigkeit, Solidarität und Menschenwürde für alle zu verwirklichen. Der Arbeiter und die Arbeiterklasse galten als Motoren des historischen Fortschritts, als Träger einer historischen Mission, auch und gerade im Bolschewismus. Das 20. Jahrhundert hat diese Hoffnungen weitgehend zerstört. Aber überlebt nicht doch manches davon in der heutigen Arbeitsgesellschaft, die sich derzeit grundlegend verändert und deren Zukunft gestaltet werden kann?