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Zu keinem Zeitpunkt wurde der „kurze Traum immerwährender Prosperität“1 intensiver und farbiger geträumt als zu Beginn der 1970er-Jahre. Mit Karl Schillers ökonomischer Globalsteuerung hatte die Große Koalition das Instrumentarium keynesianischer Konjunkturregulierung in ihre Wirtschaftspolitik integriert. Und als die Mini-Rezession von 1966/67 rasch überwunden werden konnte, schien es, als sei der kapitalistische Drache endgültig in Bande geschlagen und in einen Goldesel verwandelt. Ein langfristig stabilisiertes Wirtschaftswachstum würde steigende Einkünfte aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen bewirken und so die finanziellen Grundlagen sozialliberaler Reformpolitik dauerhaft sicherstellen. Das war die große Utopie.
Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, seit Grammophon und Telefon ist es möglich, Schallphänomene verschiedenster Art auf Tonträger zu speichern und über größere Distanzen hinweg zu verbreiten. Schallerzeugung und -wahrnehmung wurden zeitlich und räumlich voneinander entkoppelt – die Wahrnehmung bedeutungstragender und ästhetisch gestalteter Klänge wurde von der Anwesenheit schallerzeugender Personen (Sprecher, Sänger, Instrumentalisten) unabhängig. Bislang flüchtig gebliebene Situationsgeräusche konnten nun festgehalten und an ferne Rezipienten verbreitet werden – Anwesenheit und Notation waren keine Grundbedingungen mehr für die Tradierung von Musik. In den 1920er-Jahren entstand mit dem Radio zudem das erste Echtzeit-Massenmedium, das die Technologien von Telephonie und Funk kombinierte und ein großes, räumlich verstreutes Publikum gleichzeitig mit akustischen Reizen belieferte. Speichertechnologien (Schall- und Wachsplatten, später Tonbänder) erlaubten es schließlich, unterschiedlichste Schallphänomene auf ein durchgestaltetes Endresultat hin zu arrangieren, dem seine technischen Herstellungsbedingungen oft nicht anzumerken sind. Diese neuen Audiotechnologien schufen also neuartige Hörkontexte und -gelegenheiten, welche die auditive Wahrnehmung im 20. Jahrhundert entscheidend geprägt haben.
Der Begriff der „Erinnerungsorte” (lieux de mémoire) wurde in den 1980er-Jahren von dem französischen Historiker Pierre Nora geprägt. Er bezeichnet ein spezifisches Forschungsparadigma, das symbolische Repräsentationen meint, die – so nehmen Forscherinnen und Forscher an – in bestimmten Gedächtnis- und Identitätsdiskursen eine signifikante Rolle spielen. Cornelia Siebeck stellt diese Forschungsperspektive vor und beschreibt ihre Genese. Sie skizziert den Erfolg des neuen Ansatzes wie auch die kritischen Einwände und zeichnet die Rezeption und Diskussion nach. Da der inflationäre Gebrauch jedoch auch zu einer theoretisch-methodologischen Unschärfe geführt hat, befasst sie sich abschließend mit aktuellen Versuchen, das Nora'sche Konzept zu präzisieren und seine analytischen Potenziale auszubauen.
Obwohl der Begriff „Erinnerungskultur” erst seit den 1990er-Jahren Einzug in die Wissenschaftssprache gefunden hat, ist er inzwischen ein Leitbegriff der modernen Kulturgeschichtsforschung. Während er in einem engen Begriffsverständnis als lockerer Sammelbegriff „für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit – mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke” definiert wird, erscheint es aufgrund der Forschungsentwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte insgesamt sinnvoller, „Erinnerungskultur” als einen formalen Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse zu verstehen, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur.
(Version 1.0, siehe auch Version 2.0) Obwohl der Begriff „Erinnerungskultur" erst seit den 1990er-Jahren Einzug in die Wissenschaftssprache gefunden hat, ist er inzwischen ein Leitbegriff der modernen Kulturgeschichtsforschung.[1] Während er in einem engen Begriffsverständnis als lockerer Sammelbegriff „für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit – mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke" definiert wird,[2] erscheint es aufgrund der Forschungsentwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte insgesamt sinnvoller, „Erinnerungskultur" als einen formalen Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse zu verstehen, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur. Der Begriff umschließt mithin neben Formen des ahistorischen oder sogar antihistorischen kollektiven Gedächtnisses alle anderen Repräsentationsmodi von Geschichte, darunter den geschichtswissenschaftlichen Diskurs sowie die nur „privaten" Erinnerungen, jedenfalls soweit sie in der Öffentlichkeit Spuren hinterlassen haben. Als Träger dieser Kultur treten Individuen, soziale Gruppen oder sogar Nationen in Erscheinung, teilweise in Übereinstimmung miteinander, teilweise aber auch in einem konfliktreichen Gegeneinander.
Die argentinische Erinnerungskultur an die Militärdiktatur von 1976-1983 und ihre Opfer dominiert seit Jahrzehnten die Narrative der zivilgesellschaftlichen Organisationen der Angehörigen der „Verschwundenen“: die Afectados. Ihr Agieren lässt sich nicht mit (west-)europäischen Konzepten von Erinnerungskultur begreifen. Die Mitglieder der Organisationen sind zumeist von einem persönlichen oder vererbten Trauma betroffen, das ihr Engagement beeinflusst. Um sie hat sich eine affiliative Gemeinschaft beziehungsweise Bewegung gebildet, die diese Vergangenheit und das Trauma als ihre eigene Geschichte begreift.
Erinnerung und Gedächtnis
(2010)
Gedächtnis und Erinnerung gehören heute zu den Schlüsselkategorien der Geistes- und Sozialwissenschaften.Gedächtnis und Erinnerung sind geläufige Begriffe, die in der Regel nur dahingehend differenziert werden, als dass das Gedächtnis die Erinnerung erst ermöglicht. Das Gedächtnis beinhaltet in diesem Sinne eine virtuelle und manifeste Infrastruktur. Menschen brauchen dabei nicht nur ein Gehirn als organische Basis, sondern sie sind in hohem Masse auf externe Erinnerungsspeicher unterschiedlichster Art angewiesen, um jene fragilen Bewusstseinsakte zu erzeugen, die gemeinhin Erinnerung genannt werden.
Im kollektiven Gedächtnis der beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften existierten die Erfahrungen mit Krieg und Nationalsozialismus in vielfältiger Weise weiter. In der DDR lebten wie in Westdeutschland Menschen, die als Anhänger der NSDAP, Flakhelfer(innen), Soldaten oder gar SS-Mitglieder aktiv in den Krieg involviert gewesen waren. Die filmische Rezeption dieser Erinnerung in der DDR bewegte sich im Kontext entlastender und politisch funktionalisierender Strategien um Mitverantwortung und antifaschistische Wandlung. Sie als reine Propagandaprodukte zu begreifen, griffe jedoch zu kurz. Zweifellos boten dokumentarische wie fiktionale Filme in der DDR als Agenturen des kulturellen Gedächtnisses emotional wirksame Varianten an. Wenn auch die durchschnittliche jährliche Filmproduktion des DEFA-Monopols nur etwa zwischen 15 und 18 Spielfilme umfaßte, bei einem durchweg beträchtlichen Anteil von historischen Sujets, so hatte sie im Geschichtsdiskurs durchaus ein eigenständiges Gewicht und korrespondierte mit dem neuen visuellen Medium Fernsehen. Durch die modernen Massenmedien des 20. Jahrhunderts, insbesondere des Films, wird Geschichte zum Ereignis, und dem geschichtlichen Ereignis wird ein neuer Status verliehen. Geschichte gerinnt in ihnen zu Geschichten (Jacques Le Goff), die in einem Spannungszustand zu kanonisierenden Deutungen stehen. Geschichte wird greifbar als Geschichte von Individuen, von Helden, sich innerhalb einer festgefugten narrativen Struktur bewegend. Die Leistung des Films liegt deshalb in seiner besonderen Fähigkeit zur Emotionalisierung, Personalisierung und Dramatisierung von Geschichte, die anders als Literatur öffentlich unmittelbarer von einem Massenauditorium rezipiert werden kann.
Neben der mittlerweile weit verbreiteten Praxis des Reenactments spielen im katholisch geprägten Polen religiöse, aber auch säkulare Symboliken auf Friedhöfen oder im Stadtbild eine wichtige Rolle in der nicht-staatlichen kollektiven und individuellen Erinnerung. Auch Murals und besonders Graffiti sind bereits seit den 1980er Jahren moderne Ausdrucksmittel vor allem jugendlicher Akteure, die ihre Emotionen und Einstellungen durch das Bemalen oder Besprühen öffentlicher Flächen externalisieren. Im Falle der Erinnerung an den Warschauer Widerstand und Aufstand zielt die künstlerische Intervention auf konkret geschichtspolitischem Terrain auf Fragen der Interpretation des Vergangenen und dessen Wert(ung) für die Gegenwart.
Zum internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2011 ging das Fotoarchiv der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem ins Netz. Insgesamt wurden bisher etwa 150.000 Fotos digitalisiert und auf der Website zugänglich gemacht. Das Projekt basiert auf einer Kooperation mit Google. Die enorme Materialfülle eröffnet den Besuchern die Möglichkeit, neben „Ikonen der Vernichtung“ selbst neue „Bilderwelten“ aufzutun – zugleich ist das Projekt nicht frei von Startschwierigkeiten.
Obwohl die 1952 gegründete „Bild“-Zeitung seit Jahrzehnten die größte westdeutsche Tageszeitung ist, hat sich die Zeitgeschichtsforschung mit ihr bisher höchstens am Rande befasst. Der Aufsatz untersucht die Bedeutung von „Bild“, indem er die Entwicklung des Blatts in den 1950er-Jahren analysiert. In diesem Jahrzehnt errang die Zeitung ihre überragende Stellung auf dem publizistischen Markt der Bundesrepublik; in dieselbe Zeit fällt auch der erste Versuch des Verlegers Axel Springer, das Blatt mit konkreten politischen Aufträgen zu lenken. Geprüft wird, wie die „Bild“-Redaktion die Direktiven des Verlegers in den Jahren 1957/58 umgesetzt hat. Dabei wird erkennbar, dass die Boulevardzeitung als bereits etablierter Markenartikel selbst von ihrem Eigentümer nur begrenzt verändert oder in eine bestimmte politische Richtung gelenkt werden konnte. Der Beitrag plädiert dafür, die Macht von „Bild“ eher auf der lokalen Ebene zu suchen, und demonstriert diesen Ansatz am Beispiel von Hamburg. Dies ermöglicht auch allgemeinere Zugänge zur Mentalitäts- und Gefühlsgeschichte der Bundesrepublik.
Ausgehend von Theodor W. Adornos Auffassung, dass Kunst sprechen lasse, »was die Ideologie verbirgt«, werden im vorliegenden Beitrag in der DDR entstandene künstlerische Landschaftsdarstellungen als mediale Beglaubigungen eines gleichermaßen realen wie teleologisch verstandenen Sozialismus in den Blick genommen. In der DDR spielte Landschaft und ihre mediale wie ästhetische Repräsentation eines Zusammenhangs aus Natur, Kultur, Interpretation, Leben und Arbeit eine zentrale Rolle. Denn mit Landschaftsdarstellungen lässt sich der »authentische« Lebensstil einer Gesellschaft verräumlichen und ermöglicht so historische Aufschlüsse sowohl über Authentisierungsstrategien des Sozialismus als auch über die problematische Referentialität des Authentischen, einschließlich seiner Bedeutung in der politischen Kommunikation. Der Vergleich von DDR-Landschaftsdarstellungen unterschiedlicher Dekaden zeigt darüber hinaus verschiedene Strategien der Verzeitlichung des Raumes. Dies wird hier exemplarisch an zwei Filmen und einem Gemälde über Montanlandschaften untersucht: dem Spielfilm »Sonnensucher« (1958) von Konrad Wolf und der Serie »Columbus 64« (1966) von Ulrich Thein sowie dem Gemälde »Hinter den sieben Bergen« (1973) von Wolfgang Mattheuer.
Ist die aktuelle Krise schon hinreichend beschrieben, verstanden und erklärt, nur weil sich die Geschwindigkeit erhöht hat, mit der ein globales Phänomen von Wissenschaftlern durchleuchtet, von Journalisten interpretiert und von Interessengruppen instrumentalisiert werden kann? Gegenwärtig spielen sich diese kommunikativen Akte in Echtzeit ab und gönnen sich kaum den nötigen Abstand zum Ereignis. Ratlosigkeit herrschte nur in jenem kurzen Augenblick, der allen Beobachtern zum ersten Mal bewusst machte, wie ernst die Lage wirklich war: Am 4. Oktober 2008, dem Sonntag eines langen Wochenendes, traten Kanzlerin und Bundesfinanzminister vor die Presse und beteuerten, dass alle Spareinlagen notfalls durch den Staat gesichert seien. Davor und danach aber ist eine eigentümliche Paradoxie zu beobachten: Eine extrem unsichere Situation, deren genaue Dimension heute ebenso wenig zu ermessen ist wie das Ausmaß ihrer Folgen, wird fortwährend im kommunikativen Modus der Gewissheit thematisiert.
Die Allgegenwart der NS-Zeit in Massenmedien und Populärkultur ist heute nichts Besonderes mehr. Als jedoch seit Beginn der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik in rascher Folge viele neue Bücher, Filme und Ausstellungen über Adolf Hitler herauskamen, erschien dies vielen als suspekt, wenn nicht gar als gefährlich: Vor dem Hintergrund des sich formierenden Rechtsradikalismus beschwor die »Hitler-Welle« das Gespenst einer »Nazi-Nostalgie« herauf. Warum dieser von heute aus gesehen vielleicht befremdliche Begriff damals nahelag, demonstriert der vorliegende Aufsatz. Er trägt zu einer Historisierung des Nostalgie-Konzepts bei und akzentuiert dessen politische Aufladung. Zugleich benutzt er den Begriff und die Debatte, um die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in den 1970er-Jahren genauer zu ergründen. In der Konzentration auf Hitler und mit der Ausblendung der NS-Verbrechen als Gesellschaftsgeschichte stand die »Hitler-Welle« einerseits in der Kontinuität der 1950er-Jahre. Andererseits wies sie nach vorn, nämlich auf die in der Bundesrepublik 1979 ausgestrahlte US-Serie »Holocaust«, deren Resonanz ohne die vorangegangene »Hitler-Welle« kaum zu verstehen ist, sowie auf den »Historikerstreit« der 1980er-Jahre.
In den 1960er- und 1970er-Jahren führten die Satiren von Ephraim Kishon (1924–2005) die westdeutschen Bestseller-Listen an. Wie erklärt sich diese Resonanz des israelischen Autors gerade in der Bundesrepublik? Während Kishons Beliebtheit von deutschen Leser*innen (und von ihm selbst) vor allem als ironische Wendung der Geschichte bezeichnet wurde, versucht der Beitrag den publizistischen Erfolg im Kontext der frühen deutsch-israelischen Beziehungen genauer zu bestimmen, indem Akteure und Strukturen des literarischen Feldes betrachtet werden. Zum einen wird Kishons Rezeption in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund von Versöhnungsrhetoriken und Auseinandersetzungen um den jüdischen Humor interpretiert. Zum anderen beleuchtet der Beitrag die Bedeutung der beteiligten Zeitungs- und Buchverlage. Die Verlagshäuser Langen Müller (Herbert Fleissner) und Ullstein (Axel Cäsar Springer) spielten eine besondere, politisch hochgradig ambivalente Rolle. Während dieses Netzwerk Kishon vor allem als Unterhaltungsautor darstellte, äußerte er sich nach dem Sechstagekrieg 1967 immer wieder auch politisch in deutschen Medien. Kishon trug damit zu einer Politisierung bei, die bis in die Gegenwart die Rezeption israelischer Literatur in der Bundesrepublik prägt.
Die Ausstrahlung der Fernsehserie Holocaust (USA 1978) gilt als eine der wichtigsten Zäsuren in der westlichen Erinnerungskultur. Sowohl in den USA und in Westeuropa als auch in verschiedenen anderen Teilen der Welt erreichte die Serie, dass sich ein Großteil der Bevölkerung mit der Shoah auseinandersetzte, was die „Erinnerung im globalen Zeitalter“ maßgeblich förderte. Bekanntlich führte die Serie nicht nur zu einer emotionalen Vergegenwärtigung der Massenmorde, sondern auch zu einer intensiven Anschlusskommunikation über den Holocaust, die sich in anderen Medienformaten fortsetzte. Zudem setzte, wie Moshe Zimmermann argumentiert, erst mit der Fernsehserie die „Amerikanisierung des Holocaust“ und eine transnationale Form der Erinnerung ein (...)
Den Grundton setzt ein Paukenschlag: Für den Philosophen und Theologen Ivan Illich (1926–2002) war die »Zunft der Ärzte [...] zu einer Hauptgefahr für die Gesundheit geworden« (S. 9). Polemisch, metaphernreich, in einer polarisierenden und mitunter auch prophetischen Sprache trug Illich Mitte der 1970er-Jahre die These vor, dass der medizinische Fortschritt in seiner Gesamtbilanz nicht zu besseren Gesundheitsverhältnissen geführt habe. Vor allem das Krankenhaus erschien ihm als Verkörperung mannigfacher Fehlentwicklungen moderner Industriegesellschaften und ihrer Heilsversprechen. Illichs sprachgewaltige Kritik richtete sich gegen eine medikale Kultur, die durch die Macht staatlich privilegierter professioneller Experten und ihrer Versuche bestimmt sei, »alle Krankheiten mithilfe von technischen Erfindungen in den Griff zu bekommen« (S. 56). Strenger als Illich, so bilanzierte der »Spiegel«, habe »noch keiner den Medizinmännern die Leviten gelesen«.
Der vorliegende Aufsatz analysiert, wie die aus damaliger und heutiger Sicht unerwartet große Flüchtlingshilfe gegenüber den vietnamesischen »Boat People« aufkam und ihre starke Dynamik gewann. Untersucht wird, welche Rolle zivilgesellschaftliche Gruppen, die staatliche Bürokratie, politische Parteien sowie Medien dabei spielten und wie diese bei der konkreten Aufnahme von Flüchtlingen interagierten. Dabei wird erstens gezeigt, dass anfangs vor allem öffentlicher Druck die sozialliberale Regierung zu einer Aufnahme der Indochina-Flüchtlinge bewegte, sich dann aber zivilgesellschaftliches und staatliches Handeln wechselseitig ergänzten. Das zweite Argument lautet, dass der öffentliche Druck insbesondere durch mediale Kampagnen und durch christdemokratische Initiativen aufkam, die entschieden für die Aufnahme der Flüchtlinge eintraten. Eine wichtige Rolle spielte dabei, so die dritte These, dass die »Boat People« diskursiv mit der deutschen Nachkriegsgeschichte verbunden wurden – speziell mit der Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Viertens zeigt der Aufsatz, wie Techniken der Flüchtlingsaufnahme und neue Formen humanitärer Hilfe entstanden, die sich als zivilgesellschaftlicher und bürokratischer Wandel interpretieren lassen.
Anfang 1933 war die international hochangesehene Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) bereits eine vergleichsweise altehrwürdige wissenschaftliche Einrichtung. Gegründet wurde sie 1911 als Großorganisation der deutschen Spitzenforschung. Aufgrund exzellenter Arbeitsbedingungen in den Instituten der KWG konnten zahllose Spitzenforscher gewonnen werden; Namen wie Max Planck, Otto Hahn, Lise Meitner, Albert Einstein, Adolf Butenandt, Werner Heisenberg und viele andere sagen genug. Institutionell gegliedert war die KWG in fünf große Säulen.
Russians Against War, Voices Of Peace, Sound of Peace und Stand With Ukraine Charity Tour: So hießen die Konzertreihen, die russische Musiker:innen nach Beginn der Invasion zur Unterstützung des angegriffenen Nachbarlands organisiert haben. Bekannte Künstler:innen wie Noize MC, Monetotschka, Zemfira oder Oxxxymiron spielten in Berlin, Helsinki, London, Istanbul, Prag, Tbilisi, Tallinn und Warschau. Viele der auftretenden Künstler:innen haben seit Jahren Schwierigkeiten, in Russland Konzerte zu spielen. Die meisten haben nach dem 24.02.22 das Land verlassen, einige sind zu ausländischen Agenten erklärt worden. Im europäischen Ausland spielen sie die Lieder, die in Russland niemand hören soll – und die über Youtube doch ein Publikum finden. Sie singen über ihr Heimatland, das von einem „Amok laufenden alten Gnom“ (Oxxxymiron) beherrscht wird, die Ukraine mit Gewalt überzieht und der Welt mit dem Atompilz droht. Sie beklagen Propaganda und Lüge, Zensur und Unterdrückung, Militarisierung und Kriegskult. Die Musiker:innen sammeln Geld für ukrainische Geflüchtete und rufen auf den europäischen Bühnen die zwei Worte, die in Russland nicht gesagt werden dürfen: нет войне, Nein zum Krieg.
Nach Hobsbawm hätte sich der westliche Welfare State ohne die Existenz eines sozialistischen Gegenmodells und ohne die Bedrohung, die dieses Modell für die westlichen Mächte darstellte, niemals so umfassend entwickelt. Dies ist eine Grundannahme, die schon öfter aufgegriffen und verbreitet worden ist. Sie scheint auch deshalb berechtigt zu sein, weil mehrere Beobachter den Zusammenhang zwischen dem Ende des Kommunismus und dem Niedergang des Sozialstaats unterstrichen haben. Zwar hat man schon seit Ende der 1970er-Jahre von der Krise des Sozialstaats gesprochen, aber erst in den 1990ern wurde die zentrale Bedeutung der Sozialpolitik für die Stabilität und Prosperität der westeuropäischen Staaten infrage gestellt. International wurden Stimmen laut, die die Relevanz und Nützlichkeit einer International Labour Organization und die Legitimität von internationalen Arbeitsnormen anzweifelten. Parallel dazu wurde 1994 die World Trade Organization gegründet, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Liberalisierung des internationalen Handels zu fördern, was mit Deregulierung und sozialem Dumping einherging. Aber Gleichzeitigkeit heißt nicht Kausalität. Es muss daher noch untersucht werden, welche Verbindungen es zwischen den drei Punkten des Dreiecks gab: Staatssozialismus im Osten, westliche kommunistische Parteien und westliches Sozialstaatmodell.
Im Gegensatz zu ähnlich gelagerten Ordnungsbegriffen wie „Masse" oder „Klasse", die in der Bundesrepublik nach 1945 relativ schnell aus dem sozialwissenschaftlichen Vokabular wie aus der politischen Sprache und dem Alltagsgebrauch verschwanden, erfreut sich der Elite-Begriff nach wie vor einer großen und sogar zunehmenden Beliebtheit bei Wissenschaftler/innen, Publizist/innen und Politiker/innen. In der politisch-publizistischen Sprache der Bundesrepublik changiert die Bedeutung des Begriffs zwischen Ansprüchen auf den Vorbildcharakter der Eliten-Mitglieder einerseits und der individuellen Leistungsauslese andererseits, während im anglo-amerikanischen Raum die Akkumulation gesellschaftlicher Macht im Vordergrund steht.
Eliten
(2022)
Neu in einer aktualisierten Version 2.0: Dem Begriff der „Elite“ wohnt eine begriffliche Unschärfe inne, der Morten Reitmayer in seinem Artikel auf den Grund geht. Beginnend bei frühen Elite-Theorien, die die Unterscheidung von Elite und Nicht-Elite als wichtigste gesellschaftliche Trennlinie betrachteten, wendet er sich zentralen Termini zu und grenzt Funktions- und Machteliten voneinander ab. Zentral für Reitmayer sind auch die fruchtbaren kritischen Ansätze von Bourdieu, die für ihn eine potenzielle Bereicherung der Erträge der Eliten-Forschung bereithalten.
Der untergegangene Staatssozialismus war eine Gesellschaft der Gleichen. Mit ihrer Gleichheit war es aber so eine Sache. Wie es in Orwells „Farm der Tiere“ heißt: „Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher.“ Trotz dieses Einwandes erscheint manchem die Unterscheidung zwischen vergangener Gleichheit und heutiger Ungleichheit plausibel, weil es seit 1989/90 eine rasante soziale Ausdifferenzierung gab. Sie hat den Staatssozialismus nachträglich in ein milderes Licht getaucht. Der vorliegende Essay wird sich mit dem sozialen Wandel und der Entstehung der gegenwärtigen Ungleichheit in Osteuropa beschäftigen – die einigen als gerecht, anderen aber als ungerecht erscheint. Um genauer verstehen zu können, was die Ungleichheit für die Politik und den Alltag in diesen Gesellschaften bedeutet, soll gefragt werden: Wie stand es mit Gleichheit und Ungleichheit im Spätsozialismus? Welche Art von sozialer Ungleichheit bildete sich nach 1989 heraus, und welche Aufgaben für deren politikwissenschaftliche und zeitgeschichtliche Analyse lassen sich identifizieren?
Das Thema Migration hat auch in der Museumslandschaft Konjunktur. Auf Konferenzen werden Formen der Erinnerung von Einwanderung diskutiert, Ausstellungen nehmen sich europaweit verstärkt des Themas an, und in neugestalteten oder überarbeiteten Dauerausstellungen wird der Komplex zum integralen Bestandteil musealer Präsentationen. Neben Migration als Thema für das Museum steht dabei zunehmend die Gründung eigenständiger Institutionen im Raum. Der neuartige Typ Migrationsmuseum soll dabei, seinen Vordenkern gemäß, die übergeordnete Relevanz des Themas signalisieren, einen Erinnerungs- und Repräsentationsort schaffen sowie eine Plattform zur Auseinandersetzung über heutige Einwanderungsgesellschaften bieten. Die Gründung solcher Migrationsmuseen betreiben derzeit Initiativen in Deutschland, der Schweiz und Frankreich.
Ende der 1970er Jahre tauchte »Preußen« in beiden deutschen Staaten wieder auf. Die »Preußenrenaissance« wurde bislang vor allem als geschichtspolitisches und intellektuellengeschichtliches Phänomen betrachtet. Preußen wurde aber auch, das zeigt der Blick auf die formative Phase der Preußenkonjunktur um 1980, in breiten Bevölkerungsschichten populär. Der nach 1989/90 betriebene Versuch indes, Preußen zur Traditionsstiftung für das vereinigte Deutschland zu nutzen, scheiterte auf lange Sicht. Heute ist Preußen, jenseits der Hohenzollerndebatte, nurmehr punktuell im Rhythmus der Jahrestage präsent.
Ausgehend von aktuellen Debatten über neue (oder erstmals so definierte) Bedrohungen, vermittelt diese Einleitung zunächst einen Überblick über die Geschichte von Sicherheitsbegriffen und -vorstellungen in politisch-gesellschaftlichen Debatten in Europa seit der Frühen Neuzeit. Darüber hinaus werden Grundzüge der damit verbundenen politischen Reaktionen dargelegt. Auf dieser Grundlage widmet sich der zweite Abschnitt mit Bezug auf Christopher Daases Überlegungen dem Konzept der "Sicherheitskultur". Dabei wird argumentiert, dass sich dessen Dynamik im Hinblick auf die Geschichte Russlands bzw. der Sowjetunion und Deutschlands aus den fortwährend entstehenden Herausforderungen ergibt, die jeweils neue Definitionen der Risiken, Normen und Werte erfordern. Deshalb sind die Wahrnehmungen, Vorstellungen und Verständnisse von "Sicherheit" in den jeweiligen historischen Kontexten untersuchen. Insgesamt wird damit für Studien plädiert, die "Sicherheitskulturen" dynamisch fassen und Diskurse ebenso untersuchen wie die politisch-sozialen Handlungspraktiken konkreter Akteure.
Für den 17. Dezember 1958 hatte die Abteilung Wissenschaften des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu einer Besprechung „im Großen Sitzungssaal des Zentralhauses der Einheit“ gebeten, auf der sich im Beisein des Staats- und Parteichefs die Elite der ostdeutschen Historikerschaft versammelte. Unter den Eingeladenen waren Institutsdirektoren, Universitätsprofessoren und Parteihistoriker, und sie waren zusammen- gekommen, um zusammen mit der politischen Führung des Landes über die Stellung der DDR-Geschichtswissenschaft gegenüber ihrer bundesdeutschen Schwesterdisziplin zu beraten. Um in die einzelnen Aspekte des Themas einzuführen, waren prominente Referenten gewonnen worden, und der Parteichef selbst trug zu der Frage vor, wie die Beziehungen zwischen Geschichtswissenschaft und Politik unter seinem Bonner Amtskollegen geregelt seien: „Die Historiker [...] arbeiten gegenwärtig für die Durchführung des psychologischen Krieges, und Adenauer hat sie ganz hübsch an die Strippe genommen. Welches ist die Aufgabe, die Adenauer ihnen gestellt hat? Adenauer hat diese ganzen Historiker zusammen genommen und ihnen klar gemacht, daß sie beweisen müssen die geschichtliche Notwendigkeit der europäischen Integration und die Rolle Westdeutschlands in der NATO. Und sie schreiben alle tapfer in dem Sinne, wie ihnen das angeordnet wurde, alle, angefangen bei Ritter bis hin zum letzten Schulmeister in den Dörfern. [...] Die ganze Geschichtsschreibung, wie sie dort im Westen betrieben wird, dient dieser Aufgabe. Es gibt dort eine einheitlich ideologisch-politische Leitung der gesamten Geschichtsforschung. [...] Die Geschichtsschreibung Westdeutschlands ist auf die Durchführung des psychologischen Krieges abgestellt und darauf, daß im Jahre 1961 die Rüstung der westdeutschen NATO-Truppen fertig ist, und bis zu dieser Zeit muß die entsprechende ideologische Verseuchung in Westdeutschland erreicht sein. Das ist dort exakt ausgearbeitet.“
Gewalt verändert alles, und wer sich ihr aussetzt, wird für lange Zeit ein Anderer sein. Die Maßstäbe für Normalität verschieben sich, und was man für selbstverständlich halten konnte, erscheint im Licht der Gewalt seltsam fremd; Außergewöhnliches wird zum Alltäglichen. Nie wieder, erinnert sich der amerikanische Schriftsteller Denis Johnson, habe er die Gewaltexzesse vergessen können, deren Zeuge er im September 1990 in Liberia geworden war.
Quelle: Verlag
Die Forschungsrichtung der Sound Studies ist in den Geistes- und Kulturwissenschaften angekommen. Während bis vor wenigen Jahren noch häufig moniert wurde, dass der Gegenstand Sound in der kultur- und medienwissenschaftlichen Forschung notorisch unterrepräsentiert sei, lässt sich die Fülle der international erscheinenden Publikationen, die das Resultat eines zuletzt stark angewachsenen Interesses an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Phänomenen, Praktiken und Bedeutungen auditiver Kultur bilden, heute kaum mehr überblicken.
Existierten in der Gesellschaft der DDR überhaupt Eliten? Die Antwort auf diese Frage ist umstritten. Wenn es Eliten gab, was machte sie dazu, wie agierten sie, wer gehörte zu ihnen? Andererseits, wenn sie fehlten, wer oder was befand sich an ihrer Stelle und warum? Oder gab es in der sozialen Struktur der sozialistischen Gesellschaft gar keine adäquaten Funktionen und Positionen, die sich einer Elite zuschreiben ließen? Solche Fragen verweisen auf ein kontrovers diskutiertes Thema, dem sich im Laufe der neunziger Jahre auch die zeithistorische DDR-Forschung verstärkt zuwandte. Die in diesem Sammelband vereinten Beiträge sind aus dieser Diskussion hervorgegangen.
Der vorliegende Band vereint methodisch-theoretische Überlegungen zur sozialhistorischen Netzwerkanalyse und empirische Einzelstudien zum Phänomen der Netzwerke im Realsozialismus. Er lädt dazu ein, die Substrukturen der realsozialistischen Gesellschaften zu analysieren. Netzwerke sind definitorisch nur schwer zu erfassen und lassen sich nicht immer scharf gegenüber Begriffen wie Patronage, Seilschaft, Arrangement etc. abgrenzen. Die Autoren der Beiträge experimentieren quasi mit dem Netzwerkbegriff auf der Grundlage ihrer jeweiligen empirischen Ergebnisse. Dabei kommt es zu Überschneidungen mit den Netzwerkbegriffen der Wirtschaftsgeschichte, der Organisationssoziologie und der Politikwissenschaften. Auf den ersten Blick scheinen sich einige der vorliegenden Untersuchungen wenig auf den Netzwerkbegriff zu beziehen. Auf den zweiten Blick jedoch, und das macht die Spezifik des Bandes aus, untersuchen sie Sonderformen von Netzwerken. Die Netzwerke in staatssozialistischen Systemen wurden, anders als etwa in westlichen Unternehmen, nicht aufgrund kalkulierter Effizienzkriterien installiert und aktiv betrieben, sondern dienten in der Regel dazu, eine Vielzahl von Defiziten zu kompensieren.
Nach 1989 dauerte es einige Jahre, bis diese beiden in Geschichte- wie in den benachbarten Gesellschaftswissenschaften angesiedelten Paradigmen zu einem konstruktiven Verhältnis wechselseitiger Ergänzung fanden. Davon profitieren nun auch die neuen Ansätze zur Erforschung der Geschichte des Kalten Krieges. Die hier vorgelegte Sammlung von Aufsätzen ist im Umfeld eines Forschungsprojektes entstanden, das Teil dieser Konjunktur ist und am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam seit 2001 das Verhältnis von Massenmedien und Kaltem Krieg bearbeitet. Es handelt sich um Zwischenergebnisse aus individuellen Einzelforschungen. Arbeiten zu weiteren Untersuchungsgegenständen, deren Ergebnisse in einem weiteren, umfangreicheren Band zur Kulturgeschichte des Kalten Krieges in Europa zusammengefasst werden, dauern noch an. Die folgenden Thesen zur gesellschafts- wie mediengeschichtlichen Interpretation des Kalten Krieges halten gleichwohl in aller Vorläufigkeit und Kürze einige Grundannahmen wie auch erste allgemeine Befunde der gemeinsamen Projektarbeit fest.
Ursprünglich anlässlich der Eröffnung des Humboldt-Forums geplant, fiel die Konzeption dieses Themenschwerpunkts in ein Jahr, das, bereits während es noch stattfand, zum einschneidenden Epochenjahr, ja zur historischen Zäsur erklärt wurde. Geprägt von der Lebens- und Arbeitswirklichkeit, den öffentlichen und akademischen Debatten dieses Ausnahmejahres, dehnte sich auch dieses Dossier aus, und sollte nicht länger allein (zeitgeschichtliche Perspektiven auf) postkoloniale Restitution in Deutschland thematisieren, sondern die Besonderheiten und Schwerpunkte seines Entstehungsjahres spiegeln, das postkoloniale Fragen immer wieder und auf mannigfaltige Weise in den Vordergrund spielte. An dieser Stelle möchte ich den unter erschwerten Bedingungen arbeitenden Autor:innen, deren Texte ich im Folgenden einzeln vorstellen werde, herzlich danken.
Für alle modernen Gesellschaften stellt die aus transnationaler Migration resultierende interkulturelle Begegnung eine fundamentale Herausforderung dar. Obwohl die DDR eindeutig als Ausreise- und nicht als Einwanderungsgesellschaft charakterisiert werden kann, galt dies auch für den SED-Staat. In der historischen DDR-Forschung ist jedoch dem Umgang mit Fremden und den Bedingungen des Fremd-Seins in der staatssozialistischen Diktatur bislang eher geringe Aufmerksamkeit gewidmet worden. Der vorliegende Band setzt - wie das ihm zugrunde liegende Forschungsprojekt „Fremde und Fremd-Sein in der DDR“ - an diesem Desiderat an.
Drei Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung im Oktober 1990 rücken deren oft nur schwer überschaubare Nachgeschichten mit Macht wieder ins Blickfeld von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Fortbestehende Ost-West-Differenzen sowie populistische Wahlerfolge werden als Symptome einer noch immer nicht erreichten „Inneren Einheit“ gedeutet. Dementsprechend finden sich Behauptungen und Vermutungen über „Ostdeutsche“ derzeit wieder gehäuft – sei es in Talkshows, in Zeitungen, im Internet, auf Familienfesten oder auch am Stammtisch. Sehr schnell wird dabei die ostdeutsche Vergangenheit zur Erklärung gegenwärtiger Probleme sowie fortbestehender Differenzen herangezogen. Während ein Lager die mentalen Langzeitfolgen sowie das schwierige Erbe der repressiven SED-Diktatur hierfür verantwortlich macht, verweisen andere vehement auf die durch neoliberale Transformationsstrategien ausgelösten, schockartigen Umbruchserfahrungen nach 1990. Gerade jenseits dieser beiden geschichtspolitischen Pole lohnt ein differenzierter Blick auf die jüngste Vergangenheit. Die Frage steht im Raum, was die zeithistorische Forschung zu dem Thema Neues beitragen kann. In diesem Dossier wollen wir eine facettenreiche Bestandsaufnahme aktueller geschichtswissenschaftlicher Forschungen zu Beginn des erwartbaren Jubiläumsreigens 2019/20 wagen und eruieren, welche neuen Deutungsangebote es gibt. Zugleich geht der Blick über die eigene Disziplin hinaus, indem danach gefragt wird, was andere von der Geschichtswissenschaft erwarteten oder erhofften.
1955 schrieb die amerikanische Anthropologin Margaret Mead in einem von der UNESCO herausgegebenen Band mit dem Titel Cultural Patterns and Technical Change, man müsse in der Entwicklungsarbeit in »Übersee« darauf achten, dass die Menschen, deren alltägliche Lebenswelt sich durch die »Entwicklungshilfe« schnell und einschneidend verändere, möglichst geringen psychischen und sozialen Schaden nehmen. Gerade bei den technischen Umbrüchen könne es in der »Heilsgewissheit schneller Veränderungen« zu unvorhergesehenen Störungen kommen. Beispielsweise könnten Traktoren in den ländlichen Gebieten der »Dritten Welt« auf die Bauern erschreckend und terrorisierend wirken, Stress auslösen und zu psychischen Problemen führen. Mead war zu jener Zeit für die 1948 gegründete World Federation of Mental Health (WFMH) tätig, eine Körperschaft der UNO, in deren Rahmen sich gleich mehrfache Entwicklungswelten überlagerten. Die dort verfolgten Diskurse und Praktiken zielten darauf ab, die psychische Innenwelt als Resonanzraum und potentiellen Störfaktor von technischen Entwicklungsprozessen zur Geltung zu bringen. Zugleich machte man nicht nur das seelische Wohlbefinden der »zu Entwickelnden« zum Gegenstand der Sorge, sondern wollte auch durch Seminare und Anleitungsbücher friktionsfreie Kommunikationsräume schaffen, in denen ein »friedliches Zusammenleben« zwischen Entwicklungsexperten, Counterparts und Anwohnern vor Ort möglich würde – so äußerte sich jedenfalls der Leiter der WFMH, der ehemalige Militärpsychiater John Rawlings Rees. Fundamentale Zweifel an den Entwicklungszielen der Technisierung und an der Hierarchisierung der Verhältnisse in der Entwicklungsarbeit äußerten Mead und Rees trotz aller Warnungen vor psychischen Schäden nicht. Vielmehr ordneten sie sich in eine Expertengemeinschaft ein, in der Fachvertreter verschiedener Disziplinen – der Psychologie, der Soziologe, der Anthropologie und der Geschichtswissenschaft, vor allem aber der Ökonomie und der Ingenieurwissenschaften – neue Weltentwicklungsstrategien erarbeiteten, mit deren Hilfe die sozioökonomische Ungleichheit auf der Erde zum Verschwinden gebracht werden sollte.
„Berlin, die Insel der Freiheit“, müsse „politisch und wirtschaftlich so widerstands- und leistungsfähig gemacht werden“, dass es als „Vorort der freien Welt“ auf den Osten Berlins ausstrahle. Nichts geschehe im Westteil der Stadt, was im Sowjetsektor nicht verglichen und gewertet würde, bemerkte der Regierende Bürgermeister Walther Schreiber (CDU) im April 1954. Nur wenige Monate später formulierte der ostsektorale Magistrat wie folgt: In Berlin „existieren auf engstem Raum zwei Ordnungen nebeneinander. Die Menschen haben täglich unmittelbare Vergleichsmöglichkeiten. Vom demokratischen Sektor muß daher eine magnetische Kraft ausstrahlen, daß alle Werktätigen Berlins diesem Beispiel echter Demokratie zu folgen bereit sind.“ Kaum einen Zeitgenossen des Jahrzehnts nach der politischen Spaltung Berlins im Jahre 1948 überraschten diese im Kern sehr ähnlichen Aussagen, obwohl hinter ihnen einander diametral entgegengesetzte gesellschaftliche Ordnungen und politische Interessen standen. Beide Teile Berlins trennte und verband ein allgemeines Phänomen: der Konflikt zwischen dem parlamentarischen, rechtsstaatlich verfassten liberalen Westen und der östlichen kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Muster.
Für eine junge Generation, die an der Schwelle zu einem neuen Millennium ins Erwachsenenalter eingetreten ist, dürfte es mittlerweile kaum noch nachzuvollziehen sein, wie fraglos das tägliche Leben weiter Teile der Bevölkerung in den frühen Jahren der Bundesrepublik Deutschland noch mit einer religiösen Praxis verflochten war, die maßgeblich von den großen Volkskirchen geprägt und geleitet wurde. Konfessionslosigkeit war in den meisten Regionen Westdeutschlands ein misstrauisch beäugtes Ausnahmephänomen, kirchliche Riten von der Geburt bis zur Beerdigung weithin ebenso selbstverständlich wie in vielen Bundesländern eine konfessionell geprägte staatliche Volkschule, die von der großen Mehrheit der Kinder und Jugendlichen besucht wurde. Die Konfession strukturierte auch das politische Leben in erheblichem Maße, und namentlich die katholische Kirche zögerte nicht, den zahlreichen Gläubigen an den Wahlsonntagen deutlich zu machen, wo das Kreuzchen zu setzen war.
Die Welt der Gegenwart zeichnet sich durch ein dichtes Netz von globalen, grenzübergreifenden Aktivitäten aus, zu denen die ungeheure Zahl von über 61.100 internationalen Organisationen ebenso beiträgt wie die Veranstaltung internationaler Konferenzen und Kongresse. Der stolze Hinweis auf die Partizipation an internationalen Organisationen gehört zur Selbstdarstellung moderner Außenministerien, und das politische Potenzial von Nichtregierungsorganisationen in der ganzen Breite zwischen WEF-Gegnerschaft und Olympischen Spielen prägt das heutige Verständnis von Internationalität. Angesichts dieser vielfältigen und weltumspannenden Netzwerke ist die Anzahl der derzeit 193 von der UNO anerkannten souveränen Staaten lächerlich gering - und dennoch gibt es keinen Grund, von einem Ende des Nationalstaates zu sprechen.
Über "Internationale Geschichte" ist in der deutschen Geschichtswissenschaft nur selten systematisch nachgedacht worden. Methodische Reflexionen und theoretische Anstrengungen galten seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts vorwiegend der Sozialgeschichte, seit den achtziger Jahren auch der noch politikferneren historischen Anthropologie. Neuerdings wird auch das Verhältnis zwischen Sozialgeschichte und Kulturgeschichte intensiv diskutiert; Mentalitätsgeschichte ist zu einem beliebten Programmpunkt geworden. Wer hingegen über internationale Beziehungen geschrieben hat, über Außenpolitik, die Geschichte des internationalen Systems oder die wechselseitige Beeinflussung von Staaten und Gesellschaften, kurz: über Krieg und Frieden, über Herrschaft und Abhängigkeit zwischen den Völkern und Nationen, hat in der Regel wenig Anstrengungen auf die explizite Darlegung seiner theoretischen Annahmen und seiner Verfahrensweisen verwendet.
Der Entwicklung der Einkommen in den Ostblockländem lag ein Widerspruch zwischen den ideologischen und legitimatorischen Grundlagen des ihnen eigenen staatssozialistischen Systems auf der einen und den wirtschaftlichen Erfordernissen auf der anderen Seite zugrunde. Die in diesen Staaten herrschenden kommunistischen Parteien vertraten den Anspruch, die sozialistische Utopie von materieller Gleichheit und Gerechtigkeit verwirklichen zu können. Jedoch wurde diese Idee von den Führungen jener Parteien auch instrumentalisiert, um ihre Macht zu legitimieren. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit faszinierte an dieser Vision besonders die Annahme, auf der Basis gesellschaftlichen Eigentums und gesamtwirtschaftlicher Planung Vollbeschäftigung garantieren zu können. Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit wurde für den Staatssozialismus zu einem wesentlichen Wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Ziel und damit zu einer weiteren legitimatorischen Grundlage. Auf dem sozialisierten Eigentum an den Produktionsmitteln beruhte auch die Vorstellung, daß die Arbeitskraft - im Unterschied zum Kapitalismus, für den das Marx herausgearbeitet hatte - ihren Warencharakter verlieren werde. Da alle Gesellschaftsmitglieder Eigentümer der Produktionsmittel seien, müßten sie ihre Arbeitskraft nicht mehr an die Besitzer der Produktionsmittel verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der damit letztlich zu verwirklichende Gleichheitsanspruch war jedoch nicht absolut, sondern stand latent im Widerspruch zu dem Erfordernis, auch in diesem als Alternative zur liberalen Wettbewerbswirtschaft gedachten System Wirtschaftswachstum inklusive Produktivitätssteigerung zu gewährleisten.
Die Frage, wie es vom „Einholen wollen“ der Ära Ulbricht zum - letztlich gescheiterten - „Aufholen müssen“ unter Honecker/Mittag kam, ist die Frage nach der Fähigkeit der DDR-Planwirtschaft, mit technischen Neuerungen umzugehen, Industrieinnovationen zu ermöglichen. Die offensichtlich unzureichende Innovationsfähigkeit der DDR-Planwirtschaft ist zweifellos eine der zentralen Ursachen dafür, daß die DDR im Wettbewerb mit der Bundesrepublik Deutschland unterlag. Der folgende Aufsatz, Zwischenergebnis eines größeren Projektes am FSP Zeithistorische Studien, versucht, sich dem komplexen Problem der Ursachen für die Innovationsschwäche der DDR am Beispiel der seit den 1960er Jahren in allen entwickelten Industrieländern auf der Tagesordnung stehenden Modernisierung des Werkzeugmaschinenbaus durch Innovationen auf dem Gebiet numerischer Steuerungen zu nähern. Dabei wird - mit Spur - davon ausgegangen, daß die damit ermöglichte flexible Automatisierung eines der zentralen Probleme der Bewältigung der wissenschaftlich-technischen Revolution in den 1960er bis 1980er Jahren war und die Ausstattung der Werkzeugmaschinen mit mikroelektronischen Steuerungen ein mehr als eine Branche betreffender innovativer Vorgang darstellte.
The introduction to this issue on historical surveillance studies argues for an integrated understanding of surveillance that focuses on the interconnectedness of the state, economy and sciences within the context of different forms of technological revolution. It suggests reading contemporary diagnoses of ‘total surveillance’ from a long-term historical perspective beginning in the seventeenth century. In this light, surveillance is not limited to intelligence history or state control. Rather, it produces patterns of order and data that can be deployed for political processes like urban planning, welfare policy, crime prevention, or the persecution of political opponents. Furthermore, surveillance is also part of the economy, encompassing market and consumption research, advertising, and workplace monitoring. Research into the political and the economic aspects of surveillance should be combined. After defining the term ‘surveillance’ and differentiating between security and surveillance studies, the article provides an overview of different empirical studies in this new historiographical field. It concludes with shortsummaries of the articles collected in this issue.
Over the last few years the 1970s have come into the focus of historians in Britain, France and Germany. The recent historiographical debates on the decade largely remain anchored in national contexts however. A comparative analysis of French and British narratives about the 1970s shows the degree to which historical interpretations of the decade remain shaped by contemporary perceptions, political strategies and historiographical traditions. This article argues that we need a real transnational historical dialogue in order to question and deconstruct the implicit assumptions which shape our interpretations of the decade.
Over the last few years the 1970s have come into the focus of historians in Britain, France and Germany. The recent historiographical debates on the decade largely remain anchored in national contexts however. A comparative analysis of French and British narratives about the 1970s shows the degree to which historical inter-
pretations of the decade remain shaped by contemporary perceptions, political strategies and historiographical traditions. This article argues that we need a real transnational historical dialogue in order to question and deconstruct the implicit assumptions which shape our interpretations of the decade.
»Menschenrecht ist, sich einander als Wesen zu behandeln, die sich im Innern gleich und von Außen ähnlich, nur durch die Ungerechtigkeit so unkenntlich geworden sind.« Wer würde heute diesem Diktum eines vergessenen deutschen Publizisten aus dem Jahr 1789 widersprechen wollen? Die Menschenrechte gehören in der Gegenwart zu den wichtigsten Glaubensartikeln liberaler Demokratien. Wer die Menschenrechte anzweifelt, stellt sich anscheinend außerhalb der Grenzen einer universellen Moral im Zeitalter von Weltinnenpolitik. Oft erscheint das individuell-unveräußerliche »Recht auf Rechte« (Hannah Arendt) wie eine überhistorisch-naturrechtliche Selbstverständlichkeit. Die Menschenrechte sind die Doxa unserer Zeit, jene Überzeugungen einer Gesellschaft, die als verinnerlichte, evidente Ordnung stillschweigend vorausgesetzt werden und den Raum des Denkbaren und Sagbaren umgrenzen. Gestritten wird heute nur noch darum, wie man die Menschenrechte diesseits und jenseits des Nationalstaates zur Geltung bringen könnte. Ob sie überhaupt eine sinnvolle rechtliche oder moralische Kategorie für unser politisches Handeln darstellen, steht gleichsam außer Frage. Ziel der in diesem Band versammelten Autoren ist es, historisch zu verfolgen, wie die Menschenrechte in den globalen Krisen und Konflikten des vergangenen Jahrhunderts diese universelle Evidenz gewonnen haben.
Jeder weiß, was „die Umweltbewegung“ ist – bis man aufgefordert wird, sie zu definieren. Im Vergleich mit anderen sozialen Bewegungen zeichnen sich Umweltbewegungen seit jeher durch eine besondere Unschärfe aus, die Forscher und Kommentatoren regelmäßig irritiert. Hinter dem Kollektivsingular „Umwelt“ verbirgt sich ein breites Themenspektrum: vom Artenschutz bis zur Pflege des Landschaftsbildes, von der Umweltverschmutzung bis zur Ressourcenschonung. Zudem fehlt ein mächtiges Zentralorgan: Die Organisationen der Umweltszene sind nicht nur in Deutschland ein unübersichtliches Geflecht von regional und thematisch heterogenen Verbänden. Weiter lässt sich eine zentrale Konfliktlinie, anlog etwa zum Gegensatz von Arbeit und Kapital, für ökologische Fragen nur mit Mühe konstruieren. Schließlich greift eine Fixierung auf Verbände offensichtlich zu kurz. Mit Hingabe kultivieren Aktive zum Beispiel den Archetyp des Mahners und Warners, der sich um die Alltagsprobleme zivilgesellschaftlicher Organisation nicht sonderlich kümmert.
Moskau, Anfang Februar 1974. Der Moskau-Gor’kij-Nachtzug, der die sowjetische Hauptstadt mit der 450 Kilometer weiter nordöstlich gelegenen Industriestadt verband, hatte an diesem Abend eine Schar illustrer Fahrgäste – darunter die bekannte Jazzband »Melodija« unter Georgij Garanjan, ein ganzes Symphonieorchester, bekannte Musikkritiker und zahlreiche Musikenthusiasten. Sie alle folgten dem Dirigenten Gennadij Roždestvenskij, der bereits einen Tag zuvor angereist war, um in Gor’kij (heute Nižnij Novgorod) die letzten Vorbereitungen für die Uraufführung einer Symphonie zu treffen. Ein vielversprechender Komponist mit dem Namen Alfred Schnittke (russ. Al’fred Garrievič Šnitke, 1934–1998) hatte sein erstes symphonisches Werk vorgelegt. Schon sein Abschlusswerk am Moskauer Konservatorium, das Oratorium »Nagasaki« (1958), hatte für Aufsehen und heftige Diskussionen gesorgt. Eine Vielzahl kammermusikalischer und konzertanter Werke war seitdem zur Aufführung gekommen. Die erste Symphonie eines solchen Komponisten versprach aufregende Klänge und neue Perspektiven für die künftige Musikentwicklung. Gespannt warteten die Zuhörer nach ihrer Ankunft im Konzertsaal des Kremls von Gor’kij, welche musikalischen Eindrücke sie erleben würden. Sie wurden nicht enttäuscht.