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Als Francis Fukuyamas Essay „The End of History?“ im Sommer 1989 in der Zeitschrift „The National Interest“ erschien, brach ein Sturm der Empörung los. Die Vorstellung von einem „Ende der Geschichte“ hatte zwar gerade Konjunktur; so kamen in der Bundesrepublik 1989 gleich zwei Bücher heraus, die dieses Thema kritisch beleuchteten. Meist gründete das Interesse an einem „Ende der Geschichte“ allerdings auf einer postmodernen Position. Vilém Flusser oder Jean Baudrillard etwa behandelten unter diesem Schlagwort den Verlust von Sinn- und Wirklichkeitsbezügen in der multimedialen Kommunikationsgesellschaft. Fukuyama hingegen knüpfte an eine andere Tradition mit politisch konservativem Hintergrund an, wie sie beispielsweise von Arnold Gehlen, Ernst Jünger und Hendrik de Man vertreten worden war. Vor allem berief er sich auf den russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève, der Hegels „Phänomenologie des Geistes“ als Setzung eines Endpunkts der Geschichte gedeutet und später die amerikanische Lebensart als die Lebensform des Menschen nach dem Ende der Geschichte bezeichnet hatte.
Als Francis Fukuyamas Essay „The End of History?” im Sommer 1989 in der Zeitschrift „The National Interest” erschien, brach ein Sturm der Empörung los. Die Vorstellung von einem „Ende der Geschichte” hatte zwar gerade Konjunktur; so kamen in der Bundesrepublik 1989 gleich zwei Bücher heraus, die dieses Thema kritisch beleuchteten. Meist gründete das Interesse an einem „Ende der Geschichte” allerdings auf einer postmodernen Position.
»Haben Sie ganz persönlich das Gefühl sozialer Sicherheit für sich und ihre Familie? Ja? Mehr ja als nein? Mehr nein als ja?«, oder: »Ich weiß nicht?«. Mit dieser Frage begann das Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften 1983 eine Umfrage zum Einfluss der Sozialpolitik auf die Gewährleistung sozialer Sicherheit in der DDR. Die 1.261 befragten Männer und Frauen sollten sich dazu äußern, was soziale Sicherheit für sie persönlich bedeutete, und erklären, ob sie den einzelnen Bürger, den Staat, die eigenen Kinder, die Sozialversicherung oder die Betriebe für die Gewährung derartiger Sicherheiten in der Verantwortung sahen. Sie waren aufgerufen, das soziale Sicherungssystem der DDR mit dem der Bundesrepublik zu vergleichen, und wurden daraufhin befragt, welche sozialen Gruppen künftig besonders gefördert werden sollten. Schließlich sollten sie erklären, ob sie Aussagen zustimmten wie »Es gibt zu viele Leute, die unsere sozialpolitischen Maßnahmen ausnutzen, um sich Vorteile zu verschaffen« oder »Da jeder seinen Arbeitsplatz sicher weiß, lässt die Arbeitsdisziplin zu wünschen übrig«.
Fraenkels »Doppelstaat« als Rechtsgeschichte. Arbeitsrecht und Politik während der NS-Diktatur
(2019)
Ernst Fraenkels Buch »Der Doppelstaat«, 1941 in den USA erschienen und erst 1974 auf Deutsch publiziert, weist trotz seiner zentralen Stellung in der Forschung zur NS-Herrschaft eine lückenhafte Rezeptionsgeschichte auf. Der Aufsatz plädiert dafür, das Werk als Rechtsgeschichte zu verstehen. Am Beispiel des Arbeitsrechts wird aus einer praxeologischen, Fraenkel folgenden Perspektive deutlich gemacht, wie und warum sich die Grenzen zwischen Normen- und Maßnahmenstaat verschoben. Diese Kategorien bezeichnen nicht etwa den Gegensatz zwischen Staat und Partei; vielmehr ist genauer nach dynamischen Grenzüberschreitungen und Rechtsaneignungen zu fragen. Dargelegt wird, wie das privatrechtliche Gepräge des Arbeitsrechts staatlich durchdrungen wurde, sodass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer von Subjekten zu Objekten des Rechts der Arbeit wandelten. Möglich wurde dies nur durch das maßnahmenstaatliche Handeln sämtlicher Instanzen aus Verwaltung, Justiz und Polizei. »Treuhänder der Arbeit« und Gestapo dehnten das System der »Arbeitserziehungslager« immer weiter aus. Das Recht verlor sukzessive seine herrschaftsbeschränkende Funktion und geriet zu einem Herrschaftsmittel. Nicht mehr die Gerichte kontrollierten die Verwaltung, sondern die Behörden lenkten die Gerichts- und Rechtspraktiken.
Anfang 2014 konnte der rund 50.000 Aufnahmen umfassende Nachlass des Fotografen Wolfgang G. Schröter (1928–2012) zusammen mit zahlreichen Arbeitsabzügen, Belegexemplaren, der Handbibliothek und biographischen Dokumenten von der Deutschen Fotothek für das »Archiv der Fotografen« übernommen werden. Schröter gehörte zu den paradigmatischen Ausnahmefotografen der frühen DDR. Unter Nutzung der Methoden von Wissenschafts- und experimenteller Fotografie entwickelte er eine eigene Bildsprache, die avantgardistische internationale Fotografie-Entwicklungen aufgriff, ohne diese zu imitieren. Schröters frühe farbfotografische Experimente wurden 1977 im Zuge der Nobilitierung der Fotografie als künstlerisches Medium in der Hallenser Ausstellung »Medium Fotografie« gewürdigt. Bis heute werden seine Aufnahmen in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt.
Fotografierte Kuriosität
(2024)
Dieses Foto ist aus ganz verschiedenen Gründen auffällig: Helene, die Frau auf Skiern links im Bild, ist sehr schick und untypisch für ihr Vorhaben gekleidet. Sie trägt eine Mütze mit einer auffälligen Schleife und einen Kurzmantel mit Schößchen und Pelzkragen. Im Bildvordergrund sind zwei schlittenartige Gefährte mit Lenker und Bremse zu sehen. Auf einem davon sitzt ein junger Mann, hinter ihm eine junge Frau mit Trillerpfeife im Mund und auf dem anderen ein Junge. Sie sind nahezu gleich angezogen: dunkle Hosen, Schutz an den Schienbeinen, heller Pullover mit Schal und Mütze oder Rollkragen, helle Handschuhe. Am rechten hinteren Bildrand steht ein Junge auf Skiern hinter einer Kamera auf einem Stativ und blickt durch den Sucher auf eine Gruppe von Kindern im Hintergrund, die etwas unsortiert auf ihren Schlitten sitzen.
Zum 70. Jahrestag des Warschauer Aufstands ließ die Landeszentrale für politische Bildung in Hamburg in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsbereich Public History der Universität Hamburg, dem Museum des Warschauer Aufstands in Warschau sowie dem Verlag Leica Fotografie International eine historisch-fotografische Ausstellung unter dem Titel „Auf beiden Seiten der Barrikade. Fotografie und Kriegsberichterstattung im Warschauer Aufstand 1944“ erarbeiten. Die Ausstellung wurde am 1. Oktober 2014 im Mahnmal St. Nikolai in Hamburg eröffnet und ist seitdem an mehreren Orten in Deutschland präsentiert worden.
Ausgangspunkt für dieses Projekt war die Entdeckung, dass neben deutschen Fotografen, die den Aufstand dokumentiert haben – Mitglieder der Propagandakompanien (PK) der Wehrmacht und SS, die seit den 1930er Jahren standardmäßig mit Leica-Kameras ausgestattet wurden –, auch die Mehrzahl der Fotograf*innen unter den polnischen Kriegsberichterstatter*innen (PSW – Prasowi Sprawozdawcy Wojenni) mit einer Leica in Warschau fotografierte.
Fotograf gesucht
(2024)
Immer, wenn man (historische) Fotos und Fotoalben verstehen möchte, ist eine der zentralen Fragen: Wer hat das Foto gemacht? Nur selten geben private Alben darüber direkt Auskunft. Gleichzeitig geben die Fotos Hinweise, um zumindest Vermutungen anzustellen. Die Beziehung zwischen fotografierender und fotografierter Person ist ein wesentlicher Teil des Entstehungszusammenhangs. Sie kann uns Aufschluss über Hierarchien, Freiwilligkeit oder Zwang und Intention(en) des Fotos geben. Versuchen wir, den Fotografen zu finden.
Fotoausstellung: „Robert Lebeck. 1968“. 3. März bis zum 22. Juli 2018 im Kunstmuseum Wolfsburg
(2018)
Fotokunst. Fotojournalismus. Zeitgeschichte. Keine Frage: Nicht in jeder Fotografie Robert Lebecks findet sich diese Trias gebündelt. Aber selbst auf solchen Aufnahmen, die auf den ersten Blick eher unscheinbar erscheinen, tritt mindestens einer jener drei Teilaspekte hervor. Als Lebeck beispielsweise am 21. Juni 1968 in Wolfsburg ankommt, um anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der einstigen Wirtschaftswunderstadt eine Reportage für den „Stern“ zu realisieren, fotografiert er unter anderem ein Straßenschild. Ist das Fotokunst? Fotojournalismus? Oder gar Zeitgeschichte? Es geht, so mein Eindruck, tatsächlich um letzteres: Denn Robert Lebeck fotografiert vor der Kulisse des Volkswagenwerks das Straßenschild der Heinrich-Nordhoff-Straße – ihm ist nicht entgangen, dass der Rat der Stadt Wolfsburg nach Nordhoffs Ableben im April des Jahres stante pede eine Straße nach dem langjährigen Generaldirektor benannt hat. Aber woher war Lebeck dies bekannt?
Ein Schwerpunkt der Sammlung des Jüdischen Museums Berlin sind sogenannte Familienkonvolute, die starke biografische Bezüge aufweisen und dem Museum von Stifterinnen und Stiftern aus der ganzen Welt geschenkt wurden. Neben anderen Objekten umfassen diese Bestände viele Dokumente und zahlreiche Fotografien, darunter um die 400 Fotoalben.
Fortschritt und Entwicklung
(2012)
Daniel Speich Chassé plädiert in seinem Beitrag für eine globalgeschichtliche und selbstreflexive Analyse der Konzepte Fortschritt und Entwicklung. Die Annahme, Fortschrittlichkeit zu besitzen und diese anderen Kollektiven zu bringen, war eine der zentralen Legitimationsstrategien des europäischen Kolonialismus. Nach 1945 trat der Entwicklungsbegriff stärker in den Vordergrund, der vermeintlich unterentwickelte Kollektive mit Inhabern höherer Entwicklungsstufen auf eine gemeinsame Zeitachse des Fortschritts stellte und den Ausgleich dieser Differenz zum gemeinsamen Zukunftshorizont erhob. Nach Speich Chassé kann die Geschichtswissenschaft auf beide Konzepte kaum verzichten, da historischer Wandel ohne diese Prozessbegriffe schwer zu beschreiben ist.
Der Kampf gegen Kindersterblichkeit wurde für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den 1970er-Jahren noch wichtiger als zuvor. Armut, Bevölkerungswachstum, Dekolonisierung und Menschenrechte waren prägende Themen auf der Agenda Internationaler Organisationen. In der WHO kam der »Teufelskreis« aus Mangelernährung und Krankheiten in den Blick. 1978 machte die WHO die Bekämpfung von Durchfall-Erkrankungen – eine der häufigsten Todesursachen bei Kindern – zum Gegenstand eines globalen Programms. Bei der Ausgestaltung verschränkten sich medizinische Wissensproduktion, sozialwissenschaftliche Annahmen und politische Deutungskämpfe über adäquate Maßnahmen und Prioritäten. Neben Angehörigen medizinischer Berufe rückten Mütter als Akteurinnen in den Mittelpunkt. Betont wurde ihre Verantwortung für die Prävention von Kindersterblichkeit und Mangelernährung. Insbesondere das Stillen wurde aufgewertet, weil es gegenüber anderen Formen der Säuglingsernährung belegbare Vorteile für die gesundheitliche Entwicklung hatte. Während dies den Blick auf die Handlungsmacht von Frauen schärfte, konnte es zugleich eine Festschreibung auf die (exklusive) Rolle von Müttern in der Kinderpflege bedeuten. Programme gegen Mangelernährung und Kindersterblichkeit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erlauben somit eine Analyse von Geschlechterverhältnissen in Entwicklungspolitik, Medizin und sozialer Praxis.
The fight against child mortality became even more important for the World Health Organisation (WHO) in the 1970s than before. Poverty, population growth, decolonisation and human rights were defining issues on the agenda of international organisations. At the WHO, the focus turned to the ›vicious circle‹ of malnutrition and disease. In 1978, the WHO made the fight against diarrhoeal diseases – one of the most frequent causes of death among children – the subject of a global programme. Medical knowledge production, social science assumptions and political battles over appropriate measures and priorities were intertwined in the design of the programme. In addition to members of the medical profession, mothers were now acknowledged as central actors with a responsibility for the prevention of child mortality and malnutrition. Breastfeeding in particular was valorised due to its proven advantages for child health development compared to other forms of infant nutrition. While this sharpened the focus on women’s agency, it could also imply a fixation on the (exclusive) role of mothers in child care. Programmes to combat malnutrition and child mortality in the last third of the 20th century thus allow an analysis of gender relations in development policy, medicine and social practice.
Seit einigen Jahren steht die Geschichte der nationalsozialistischen Zeit weniger stark im Mittelpunkt der historischen Forschung, wåhrend der Geschichte der Bundesrepublik und der DDR zunehmende Aufmerksamkeit gewidmet wird, ja als Reaktion auf die Wiedervereinigung geradezu ein Ûbergewicht der DDR-Forschung zu verzeichnen ist. Dabei scheint die historische Perspektive des Diktaturvergleichs den Blick auf das Alltagsleben und die soziale Lage der Bevölkerung der DDR eher unterbelichtet zu haben, obwohl vor allem Lutz Niethammer und seine Mitstreiter mit der Entfaltung der Oral History wesentlich dazu beigetragen haben, diese Lücke im bislang stark von Westdeutschland her geprägten Bild der DDR auszufüllen.
Der Kalte Krieg ist zu Ende. Unabhängig davon, auf welches Jahr man seinen Beginn datiert - auf 1943, 1945, 1946 oder das Jahr der „offiziellen Kriegserklärung“ 1947: Der Untergang der Sowjetunion 1991 markiert das Ende eines fast fünfzigjährigen Konflikts. Man kann sich wohl am ehesten darauf einigen, dass dieser Konflikt primär eine Auseinandersetzung zwischen zwei unvereinbar erscheinenden Weltanschauungen mit jeweils konkurrierenden Gesellschaftsentwürfen war, die rasch den Charakter einer „totalen“ Auseinandersetzung annahm und nahezu alle Bereiche des öffentlichen und zum Teil auch des privaten Lebens okkupierte. Mit Ausnahme der atomaren Waffen, die sich aufgrund ihres langfristigen Zerstörungspotenzials als nicht einsetzbar erwiesen, kam alles Verfügbare zur Anwendung, um diesen Konflikt zu gewinnen. Der Kalte Krieg, so kann man zusammenfassen, war eine weltweite politisch-ideologische, ökonomische, technologisch-wissenschaftliche und kulturell-soziale Auseinandersetzung, die ihre Auswirkungen bis in den Alltag zeigte. Nur in der „Dritten Welt“ wurde der Kalte Krieg schließlich auch als konventionelle militärische Auseinandersetzung geführt.
Wie stellen sich aktuelle Tendenzen in der Zeitgeschichtsschreibung dar – im Vergleich mit dem auffällig gewachsenen Interesse literarischer Autoren für zeitgeschichtliche Themen? Welche Konvergenzen sind zu verzeichnen, und welche textsortenbedingten Differenzen bleiben? Sind die zeitgeschichtlichen Erzählmuster in diesem Umfeld vorwiegend konstant, oder gibt es strukturelle Veränderungen? Worauf lassen sich diese eventuell zurückführen?
Over the last few years, there has been an increasing interest in the concept of Fordism. It is no longer only used to describe a specific form of the organization of production. Rather, scholars stress the importance of a broader understanding. In my article, I pick up these discussions by showing, first, that a concept of Fordism only makes sense if the effects of the emerging consumer societies are seriously taken into account. Second, I argue in favor of a body history of Fordism, giving rise to the question as to what extent we might be able to speak of »Fordist bodies«. With reference to debates about periodization, third, I discuss how such an account fits into the history of industrialized societies since the late 19th century. By focusing on the discussion about post-Fordism, I argue that there is certainly some evidence for a »break« in the course of the 1960s and 1970s. Particularly from the perspective of body history, however, there are also indications that a reevaluation of the Fordist features of late 20th century societies is also called for.
Es ist an sich nicht ungewöhnlich, daß eine gesellschaftliche Epoche erst als solche abgegrenzt und auf einen Begriff zu bringen ist, wenn die ihr innewohnenden, bestimmenden Merkmale an Bedeutung verlieren. Damit verlieren sie zugleich ihre scheinbare Natürlichkeit, aber auch ihren ideologischen Charakter. So ist die in den letzten Jahren belebte Diskussion um den Fordismus als eine Folge der Entwicklung zu sehen, die als postfordistisch bezeichnet wird.
Fordismus und Sklavenarbeit. Thesen zur betrieblichen Rationalisierungsbewegung 1941 bis 1944
(2008)
Die arbeitsorganisatorischen und fertigungstechnischen Innovationen, die sich mit den Namen Henry Ford und Frederick W. Taylor verbinden, und ebenso die Gesellschaftsvisionen namentlich des US-amerikanischen Automobilkönigs haben das kurze 20. Jahrhundert entscheidend geprägt, auch und gerade im deutschen Raum. Hier wurde der Fordismus während der Goldenen Zwanziger Jahre, die nach der Währungsstabilisierung 1923/24 begannen und (spätestens) mit dem Schwarzen Freitag, dem 25. Oktober 1929, endeten, allerorten intensiv debattiert.
Flüchtlingslager dienen weltweit der kurzfristigen Unterbringung von geflüchteten Menschen und der Bereitstellung von Schutz und Unterstützung insbesondere nach weitreichenden Fluchtbewegungen in Aufnahmeländer. Dem erhofften Übergangscharakter von Lagern, ihrer Kurzfristigkeit mit provisorischen Infrastrukturen stehen jedoch reale Entwicklungen gegenüber. Aufnahmesituationen dauern zunehmend lang an, sodass Lager über viele Jahre bis hin zu Jahrzehnten genutzt werden und sich zu restriktiven Lebensräumen der Menschen entwickeln.
Der Begriff »Flucht« beschreibt, wie es im Editorial des vorliegenden Hefts heißt, einen »Handlungszusammenhang in asymmetrischen Machtverhältnissen«, aber auch verschiedene Räume und Orte, die verlassen, durchquert oder als Ziele angesteuert werden. Romane und andere literarische Texte zu diesem Thema können dazu beitragen, dem »Eigen-Sinn« mehr Gewicht zu verleihen, aber auch den Flüchtenden selbst und ihrer Wahrnehmung von Flucht, Vertreibung und Akzeptanz oder Ablehnung eine Stimme zu geben. Was genau ist aber der »Eigen-Sinn« der Literatur? Seit 2015 boomt eine unter dem Schlagwort »Flüchtlingsliteratur« verhandelte Prosa, die die Lebenswege von Flüchtenden und Geflüchteten unterschiedlicher Kulturen in den Blick nimmt. Doch welchen Mehr- und Eigenwert hat die Literatur? Sind die Dokumentationen, die zahlreichen journalistischen und wissenschaftlichen Beiträge nicht ausreichend?
Vertreibung, Flucht und Wanderungsbewegungen sind Phänomene, die es wohl zu allen Zeiten gegeben hat. Vor dem Beginn der Ära der Nationalstaaten wurden Flüchtlinge und Einwander*innen nicht selten als Bereicherung empfunden, da sie Informationen über andere Länder und Kulturen, Sitten und Gebräuche mitbrachten. Im Mittelalter war in Europa eine universalistische Philosophie vorherrschend, die Flüchtlingen im Allgemeinen positiv gegenüberstand. Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden im späten 18. Jahrhundert bekanntlich auch von Flüchtlingen gegründet, die Europa verlassen hatten, weil sie hier kein Recht auf Religionsfreiheit gefunden hatten oder in anderer Hinsicht unterdrückt worden waren.
Mit der Wende des Zweiten Weltkrieges und dem beginnenden Rückzug der Wehrmacht entstand für die Menschen, die in den besetzten Gebieten mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten, eine neue Situation. Die Rückkehr der alten Machthaber, in deren Augen sie Landesverräter waren, würde ganz sicher Repressionen für sie bedeuten. Dabei war die Motivation zur Zusammenarbeit irrelevant, ja sogar der Grad der Freiwilligkeit. Kollaboration wird hier also im ursprünglichen Wortsinne von Zusammenarbeit gefasst. Ob diese erzwungen, aus Not, taktisch, opportunistisch oder aus Überzeugung erfolgte, oder gar als Kooperation zu kennzeichnen ist, spielte für die Angst vor Vergeltung keine primäre Rolle...
Flucht in den Strandurlaub?
(2024)
Das Fotoalbum der Familie Lindenberger enthält – für ein solches keineswegs unüblich – auch einige Fotografien aus Urlauben am Meer. So sieht man dreimal Joseph Lindenberger am Strand, einmal im Badeanzug lesend auf einer Decke sitzend, ein weiteres Mal im Bademantel in einem Boot sitzend und zu guter Letzt in Hemd und Krawatte sich auf ein Boot stützend. Im Hintergrund der ersten beiden Bilder, die in einem Doppelabzug vorliegen, sieht man ein auf Stelzen gebautes, langes Strandhaus, das vermutlich zu einer Landungsbrücke weiter ins Meer hinein führt. Eine ebensolche kann man im Hintergrund des dritten Bildes sehen, dessen Aufnahmeperspektive auf das Meer gerichtet ist. Die drei Bilder eignen sich für eine über das Biografische hinausreichende Betrachtung.
Ganz gegensätzlich zum teils immer noch lebendigen Vorurteil vom weltfremden Historiker, der lieber in staubigen Archiven wühle als sich im Netz zu tummeln, waren gerade die Geschichtswissenschaften sehr früh dabei, als in den 1990er-Jahren erste Versuche stattfanden, die Potenziale von Netzpublikation und -kommunikation auch für die Geisteswissenschaften fruchtbar zu machen. Viele der damaligen Initiativen haben sich – nicht zuletzt durch das Engagement Einzelner – bis heute gehalten, sich stetig weiterentwickelt und sind inzwischen Plattformen geworden, die wichtige Rollen im Arbeitsalltag der Wissenschaftler spielen, denken wir etwa an „H-Soz-u-Kult“ oder an die „sehepunkte“.
Ein 16mm-Film, aufgenommen im Frühsommer 1941. Familie und Hausangestellte haben sich im Garten der Villa Regenstreif im 18. Wiener Gemeindebezirk versammelt. Die Anwesenden sind festlich gekleidet, sie plaudern und scherzen beim Nachmittagskaffee. Fröhliche Stimmung herrscht auch in den darauffolgenden Aufnahmen eines gemeinsamen Essens. Dann ein harter Schnitt: Ein Lastwagen, bepackt mit Koffern, fährt ab. Die drei Söhne der Familie sitzen auf der Ladefläche, sie winken der Kamera entgegen. Daraufhin sieht man die beiden jüngeren Buben in Anzug und Krawatte – sie treten auf der Terrasse drei unbekannten Personen gegenüber. Dem Mann, von dessen Jackettkragen das NSDAP-Abzeichen blitzt, schütteln sie höflich die Hand und überreichen ihm ein Körbchen. Darin befinden sich die Schlüssel zur Villa Regenstreif. Mit ihrer Übergabe wird die Enteignung durch die Nationalsozialisten und die Vertreibung der Familie aus dem Elternhaus endgültig vollzogen – und zwar vor laufender Kamera.
Geschichtserzählungen haben derzeit eine Konjunktur, die einzigartig ist in der Geschichte der deutschen literarischen Kultur. Der Zusammenbruch der DDR und die deutsche Vereinigung gaben ihr zusätzlichen Auftrieb, doch handelt es sich offenkundig nicht um einen kurzfristigen Wachstumsschub, sondern um eine „Trendperiode“, die in West- und Ostdeutschland, in der alten Bundesrepublik und in der DDR nach einzelnen Vorläufern in den sechziger Jahren anlief und seit nunmehr vierzig Jahren mit einer wachsenden Zahl von Titeln und Auflagen anhält.
„History, in general, only informs us what bad Government is“, schrieb Thomas Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und dritte Präsident der USA, im Juni 1807. Mit der rund drei Jahrzehnte zurückliegenden Loslösung vom britischen Mutterland, mit der Revolution und der Gründung der Republik hatte sich die Frage danach, was „gute“ von „schlechter“ Regierung unterscheide, in Nordamerika mit besonderer Dringlichkeit gestellt. Schließlich hatte man in den ehemaligen Kolonien bewusst den Despotismus verabschiedet und eine Gesellschaftsordnung auf den Weg gebracht, die das Glück des Einzelnen, Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu ihren Grundsätzen erhob. Damit wurden die leitenden Prinzipien der Aufklärung in der politischen und gesellschaftlichen Realität auf die Probe gestellt. John Adams, ein weiterer „Gründervater“ und später zweiter Präsident der Republik, hatte schon einige Monate vor der Unabhängigkeitserklärung geschrieben, mit der Revolution lösten sich sämtliche autoritär strukturierten Herrschaftsverhältnisse, und zwar nicht nur diejenigen zwischen Mutterland und Kolonien, sondern auch die zwischen Herren und Sklaven, Lehrjungen und Meistern oder Eltern und Kindern. Angesichts solcher Veränderungen empfand Adams - wie viele andere auch - nicht nur Freude und Zuversicht, sondern zugleich ein gewisses Unbehagen. Man musste neue Formen der Regierung finden, die die Menschen ohne imperativen Zwang derart führten, dass sie in einer freiheitlichen Ordnung funktionierten.
Programmzeitschriften stellen eine vielseitige Quelle für die Gesellschafts- und Kulturgeschichte dar. Die Rundfunk- und Familienzeitschrift „HÖR ZU“ steht für den wohl legendärsten ökonomischen Erfolg einer illustrierten Zeitschrift in der Bundesrepublik Deutschland. In den 1960er-Jahren wurde die Programmzeitschrift bei einer Auflage von mehr als vier Millionen Exemplaren bei einer wesentlich höheren Nutzungsrate von jedem dritten Bundesbürger gelesen. Der Beitrag zeigt, wie „HÖR ZU“ das Reformklima in der Bundesrepublik von Mitte der 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre medial verarbeitete. Nach einer Betrachtung der Vorgeschichte und der innerredaktionellen Veränderung des Blattes unter dem Chefredakteur Hans Bluhm steht die Be-richterstattung über Fernsehstars und -prominente im Mittelpunkt. Dabei wird untersucht, welche neuen Wert- und Denkmuster im Bereich von Ehe, Familie und privater Lebensführung postuliert wurden.
Der Aufsatz behandelt die Gewaltfaszination innerhalb von zwei politisch konträren Intellektuellenmilieus in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Durch eine Gegenüberstellung der Konservativen Revolution der 1920er- und der Neuen Linken der 1960er-Jahre werden Ähnlichkeiten und Unterschiede in den intellektuellen Verhaltensstilen, Denkfiguren und argumentativen Grundmustern herausgearbeitet und jenseits von Skandalisierung und Apologie kontextualisiert. So können einerseits ideengeschichtliche Analogien zwischen beiden Bewegungen aufgezeigt werden, etwa in einem Überlegenheits- und Sendungsbewusstsein sowie in der Behauptung einer bevorstehenden Epochenwende. Andererseits resultierte aus den verschiedenen inhaltlichen Positionen eine unterschiedlich ausgeprägte Handlungsbereitschaft. Während sich die Weimarer Rechtsintellektuellen mehrheitlich als interessierte, wiewohl passive Beobachter von naturwüchsigen Krisenzuständen sahen, verstanden sich nicht wenige Protagonisten der westdeutschen Neuen Linken als handelnde Subjekte eines welthistorischen Entscheidungskampfes - wenngleich auch hier letztlich nur eine Minderheit den Weg aktiver Gewaltausübung einschlug.
Seit über neunzig Jahren wird über Inhalt und Reichweite des Faschismus-Begriffs gerungen. Fernando Esposito beleuchtet die Entstehung des italienischen Faschismus kursorisch und gibt einen Einblick in das Selbstverständnis der Akteure. Er stellt die Faschismusforschung im Zeichen des Kalten Kriegs vor, erörtert die Ansätze der neueren Faschismusforschung und ihre Themenfelder, um dann in einem abschließenden Fazit den Mehrwert des Faschismusbegriffs vor Augen zu führen.
Die Debatte über den Generationenvertrag hat bisher die Generationenbeziehungen in der Familie vernachlässigt. Geld- und Zeittransfers zwischen erwachsenen Familiengenerationen bilden eine informelle Versicherung gegen Lebenslaufrisiken (z. B. Arbeitslosigkeit oder Scheidung), eine Unterstützung für Elternschaft und eine Quelle von Pflegeleistungen für abhängige alte Menschen. Sie tragen überdies zur Integration der Altersgruppen und Generationen in einer alterssegregierten Gesellschaft bei. Die Fähigkeit der Familie, diese Leistungen zu erbringen, wird jedoch durch den ökonomischen, demographischen und sozialen Wandel gefährdet.
Auf der Grundlage des Survey of Health, Agehig and Retirement in Europe (SHARE) gibt der Beitrag eine Übersicht über die Struktur der Familien-Netzwerke der älteren Europäer, beschreibt die Transfermuster zwischen den Generationen und erklärt die Aktivierung von Unterstützung als Funktion des Eintretens von Lebenslaufrisiken. Die Ergebnisse zeigen eine hohe Verbreitung von Mehrgenerationenfamilien und einen Nettotransfer von den älteren Eltern zu ihren erwachsenen Kindern.
Im Hinblick auf Konsequenzen für die Politikgestaltung geht der Beitrag davon aus, dass familiale Unterstützung für die Hilfeleistenden (vor allem Frauen) kostspielig ist und zu individuellen und politischen Dilemmata führen kann. Politische Maßnahmen sollten neue Formen der Verbindung von Pflege- und Erwerbstätigkeit unterstützen und als Generationenpolitik gestaltet werden, d. h. nicht nur auf die primären Zielpersonen gerichtet sein, sondern auch auf deren Unterstützer.
Welche besondere Sorgfalt bei der redaktionellen Verwendung von historischen Fotos nötig ist, konnte man zuletzt im Kontext des 90. Jahrestages des Reichstagsbrandes im Februar 2023 beobachten. In vielen Tageszeitungen, Dokumentationen oder Fernsehberichten wurde an das Ereignis erinnert, denn bis heute sind die Hintergründe der Brandstiftung umstritten. Wenn über ein solches historisches Ereignis und dessen Deutung berichtet wird, stellt sich in vielen Zeitungs- und Online-Redaktionen zwangsläufig die Frage nach der Bebilderung. Im Kontext des Reichstagsbrandes kommt es dabei häufig zu ungenauen oder falschen Darstellungen, da es nur sehr wenige Aufnahmen gibt, die tatsächlich am Abend des 27. Februars 1933 entstanden sind und den brennenden Reichstag zeigen. In den einschlägigen Bildagenturen werden darüber hinaus aber auch vermeintlich „echte“ Fotos vertrieben, die einer genauen Überprüfung bedürfen.
Der Beitrag beschäftigt sich mit den Gladiatoren-Darstellungen des französischen Salon-Künstlers Jean-Léon Gérôme, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit nahezu fotorealistischen Inszenierungen des antiken Alltagslebens große Berühmtheit erlangte. Herausgearbeitet werden die Authentizitätsstrategien des Künstlers, die als grundlegend für die Popularität seiner Werke bis ins 21. Jahrhundert betrachtet werden. Gérômes Vorgehen ist äußerst medienreflexiv und operiert mit einer Verschränkung von Authentizitätszuschreibungen auf mehreren Ebenen. Ein entscheidender Schritt zur Authentizitätssteigerung ist der Medientransfer von der Malerei zur Skulptur, der abschließend in zeitgenössische Praktiken der Wissensproduktion eingeordnet wird.
Dieser Text handelt nicht von antisemitischen Bildern, sondern von Bildern, die im Kampf gegen Antisemitismus eingesetzt werden. Genauer gesagt, geht es um das Plakat der internationalen Tagung „An End to Antisemitism“, die vom 18. bis zum 22. Februar 2018 in Wien stattfand. Auf diesem Plakat ist eine Grafik zu sehen, die das Sündenbock-Motiv visualisiert und somit die Funktions- und Wirkungsweise von Antisemitismus kritisch zu veranschaulichen versucht.
Experten, Stiftungen und Politik. Zur Genese des globalen Diskurses über Bevölkerung seit 1945
(2008)
Der Aufsatz untersucht die weltweite Popularisierung des bevölkerungspolitischen Diskurses und leistet damit einen Beitrag zur kritischen Historisierung gegenwärtiger Deutungsmuster. Wie und warum entwickelte sich ein zunächst nur von wenigen Experten als Problem wahrgenommenes Phänomen zu einem globalen Diskurs über die Gegenwart und Zukunft der Menschheit? Im Kontext von Kaltem Krieg und Dekolonisierung rückte das Bevölkerungswachstum in der „Dritten Welt“ in den Mittelpunkt demographischer Überlegungen. Amerikanische Stiftungen, überzeugt von der humanitären und sicherheitspolitischen Relevanz des Bevölkerungswachstums, setzten sich massiv für eine globale biopolitische Steuerung ein. Seit Beginn der 1960er-Jahre beeinflussten die Stiftungen und die „epistemische Gemeinschaft“ der Bevölkerungsexperten dann auch maßgeblich das Handeln der US-Regierung. Schließlich schwenkten die Vereinten Nationen um 1970 ebenfalls auf eine neo-malthusianische Politik ein. Damit entwickelte sich die Steuerung des Bevölkerungswachstums zu einem zentralen, weithin unstrittigen, aber doch interessengeleiteten Aspekt von Weltinnenpolitik.
Expansion und Imperium
(2002)
Bevor im Jahre 1983 die Veröffentlichung des ersten Bandes von Wolfgang Reinhards "Geschichte der europäischen Expansion" den Expansionsstudien in der deutschen Geschichtswissenschaft erstmals einen epochenübergreifenden Rahmen gab, zerfiel das Gebiet in mehrere, nur schwach untereinander verbundene Teilströmungen, die sich vor allem durch ihre leitenden Fragestellungen unterschieden.
Exilforschung
(2012)
Exilforschung untersucht die Vertreibung aus dem nationalsozialistischen Deutschland und die damit verbundenen kulturellen und sozialen Transfers. Claus-Dieter Krohn widmet sich in seinem Beitrag der Geschichte der Exilforschung und verweist darauf, dass diese mit ihrem schon in den 1930er-Jahren vorbereiteten Konzept der Akkulturation als ein Wegbereiter der Postcolonial Studies zu gelten hat. Die dezidiert transnationale Perspektive der Exilforschung ist dabei offen für komparative Analysen heutiger Migrationsprozesse und Exile.
Europäisierung
(2010)
In Ihrem Beitrag werfen Ulrike v. Hirschhausen und Kiran Klaus Patel einen kritischen Blick auf "Europäisierung" als empirischen Prozess und analytischen Begriff. Entsprechende sozialwissenschaftliche Diskussionen haben Historiker bislang weitgehend ignoriert - zu Unrecht, so von Hirschhausen und Patel. Beide sehen hier ein lohnendes Feld der Zeitgeschichte, dem sie sich mit einem konstruktivistischen Ansatz nähern: Nur dort, wo historische Akteure konkrete Phänomene als "europäisch" wahrgenommen und benannt haben, kann Europäisierung als Herstellung einer "vorgestellten Gemeinschaft" erforscht werden, ohne mit normativen Voranahmen über einen europäischen "Wesenskern" operieren zu müssen.
Europäische Zeitgeschichte beruht auf unterschiedlichen Meisterzählungen, zu denen sie in einem Wechselverhältnis steht. Sie sollte von einem geografischen Begriff von Europa ausgehen, der den Westen wie den Osten gleichermaßen umgreift und keine vorgegebenen ,europäischen Werte" annimmt. Quellenzugang, Fragestellungen und regionaler Forschungsstand variieren beträchtlich. Während die wirtschafts- und politikhistorische Integrationsforschung zu Westeuropa institutionalisiert ist und abgesicherte Ergebnisse aufweist, fehlt dies für die osteuropäische Integration noch weitgehend. In dem Aufsatz werden darüber hinaus unterschiedliche Sektoren einer ver-gleichenden europäischen Geschichte benannt. Hier zeichnen sich neue Wege ab, die zum Teil auch gesamteuropäische Ansätze verfolgen. Durch den Pluralismus von Integrations- und vergleichender Geschichte könnten eindimensionale Meistererzählungen differenziert werden.
„Was machen Sie eigentlich noch außer Afrika?“, fragte mich vor einigen Jahren ein jeder Ironie unverdächtiger Professor für Neuere, also vor allem deutsche Geschichte. Denn noch immer gilt in der „Zunft“ deutscher Historiker zwar als breit ausgewiesen, wer seine Forschungsschwerpunkte etwa im Kaiserreich und in der DDR-Geschichte hat - die Beschäftigung mit fast 50 Ländern südlich der Sahara (oder analog etwa mit Lateinamerika) über mehrere Jahrhunderte hinweg wird in der Regel als exotisches Laster angesehen, dem allenfalls ergänzend zu frönen sei. Nun ist Provinzialismusschelte auf die Dauer für alle Beteiligten ermüdend; der Nachweis etwa, dass hierzulande ausgerechnet methodisch als besonders progressiv daherkommende Fachorgane sich als regional besonders introspektiv, nämlich germanozentrisch erwiesen haben, ist ohnehin längst - und sine ira et studio - geführt worden.
„Auf einer Weltkarte ist Europa kaum zu sehen“ - so lautet der erste Satz eines Essays zur europäischen Geschichte, den der französische Historiker Fernand Braudel in den 1980er-Jahren verfasste und der erst kurz nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Braudel beschränkt sich nicht darauf, jene geographische Ausgangsposition des Kontinents weiter zu erläutern, die in den vergangenen Jahrhunderten den Schauplatz vielfältiger europäischer Geschichte bildete. Vielmehr zeigt er, wie sehr Europa beständig „über seine räumlichen Grenzen hinausgegriffen“ habe. Braudels Europa ist auch im ausgehenden 20. Jahrhundert noch fast überall, obwohl der Kontinent mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und im Zuge der Dekolonisation vermeintlich in seine alten Grenzen zurückverwiesen worden war.
Wer der Vorstellung, der Nationalstaat sei «the skin that contains the experience of the past», ihre Selbstverständlichkeit nehmen möchte, muß Alternativen zu einer Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung im Rahmen von Nationalstaat, Nationalgesellschaft und Nationalkultur vorschlagen. An solchen Vorschlägen mangelt es nicht. Sie gehen, grob unterschieden, in drei Richtungen: erweiterte Nationalgeschichte, Europäische Geschichte, Weltgeschichte.
In der gegenwärtigen Krise europäischer Integration richtet sich der kritische Blick der Historiker auch auf problematische Ursprünge „Europas“ im 20. Jahrhundert, und hier besonders auf die NS-Zeit. Die zeitweilige deutsche Hegemonie über den Kontinent während des Zweiten Weltkriegs, die mit millionenfachen Massenmorden verbunden war, wurde in Teilen der Literatur als Ausdruck antieuropäischer Ideologie und Praxis bezeichnet, die Anwendung des Integrationsbegriffs auf die nationalsozialistische Herrschaftsausübung dagegen scharf kritisiert, ja sogar als „Pseudowissenschaft“ abgetan. Im Kontext des vorliegenden Themenhefts und im Licht neuerer Forschungen soll hier noch einmal gefragt werden, ob und wie sich die Zeit des Nationalsozialismus und besonders des Zweiten Weltkriegs als Teil europäischer Integrationsgeschichte interpretieren lässt.
Nach einer langen Unterbrechung kehrte die „Geschichte Europas“ im Zweiten Weltkrieg mit Macht auf die Agenda der internationalen Geschichtsschreibung zurück. Erste Anzeichen hierfür hatte es bereits in der krisenhaften Zuspitzung der 1930er-Jahre gegeben. Nicht aber die Historiographie, sondern die Propaganda im weitesten Sinne bestimmte zunächst die Richtung. Als deutungsmächtig erwies sich in Großbritannien insbesondere die Stimme Robert Vansittarts, des ehemaligen beamteten Unterstaatssekretärs im britischen Außenministerium, der seit 1940 über den britischen Rundfunk ein düsteres Gesamtbild der deutschen Vergangenheit zeichnete. In sechs Radiosendungen mit dem Titel „Black Record“ listete er eine Geschichte der deutschen Aggressionen seit den Tagen des Tacitus auf.
Der „Normalfall Migration“ (Bade/Oltmer 2004) ist in Forschung und Publizistik längst ein Gemeinplatz geworden und dennoch – die Ankunft eines Bruchteils der globalen Fluchtbewegungen stürzte Europa in den letzten Jahren nicht zum ersten Mal in eine politische und legitimatorische Krise. Von nie dagewesener Fluchtmigration war die Rede und vielerorts drohte wieder einmal der Untergang des Abendlands oder zumindest umfassendes Chaos (exemplarisch dokumentierend: Neumann 2015). Angesichts der verbreiteten – und empirisch gerechtfertigten – Etikettierung des 20. Jahrhunderts als „Jahrhundert der Flüchtlinge“ (Opitz 1999) erstaunt diese kurzsichtige Wahrnehmung, ebenso vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Bedeutung, die Migration für die europäische Geschichte nicht nur des 20. Jahrhunderts spielte (Bade 2000; Moch 1992). Flucht- und Gewaltmigration ist vielleicht nicht der migrationshistorische Normalfall, aber ein wiederkehrendes Phänomen (Oltmer 2017). Gleiches gilt für die Debatten um die Aufnahme von „echten“ und die Abwehr von vermeintlich „falschen“ Flüchtlingen. Die Unterscheidung, welche Migrationsformen eher als Flucht und welche eher als freiwillige Bewegung zu sehen seien, ist – und war – stets interessengeleitet. Zugleich ist die Entscheidung zur Migration in aller Regel einer Vielzahl von Motiven unterworfen, die mal eher Zwangs-, mal eher den Charakter freiwilliger Entscheidung haben (Tilly 1978; Lucassen, Lucassen 2005). Hierzu gehören insbesondere auch Folgewanderungen, die nach dem Ausweichen vor direkter Gewalt den weiteren Weg bestimmen.
In der jüngeren zeithistorischen Forschung haben die europäischen Dimensionen des Nationalsozialismus an Konturen gewonnen. War die Historiographie der „Deutschen Katastrophe“ ein nationales Projekt sui generis und die ältere Forschung lange vorrangig auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft im Deutschen Reich selbst konzentriert, so rücken nun transnationale Fragen verstärkt ins Blickfeld. Im Sinne einer histoire croisée der europäischen Zwischenkriegszeit werden vergleichende wie verflechtungsgeschichtliche Ansätze enger aufeinander bezogen. Das Forschungsfeld hat sich dabei geöffnet – hin zu einer Gewaltgeschichte Europas im 20. Jahrhundert.
1988 publizierte Thomas Nipperdey Religion im Umbruch, einen Vorabdruck des Religionskapitels aus dem I. Band seiner Deutschen Geschichte 1866–1918. Das kleine Bändchen zur Religionsgeschichte des Kaiserreichs gilt seitdem als erster, folgenreicher Anstoß für ein neues Interesse deutscher Historiker an den komplexen Religionsgeschichten der Moderne. Unter dem Einfluß von Modernisierungsdogmatikern, die gesellschaftliche Wandlungsprozesse als progressive Rationalisierung aller Lebensbereiche vorgestellt hatten und deshalb «die Moderne» durch Megatrends wie «Säkularisierung», «Dechristianisierung» oder «Entkirchlichung» bestimmt sahen, hatten die Vertreter der klassischen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte die Prägekraft religiöser Lebenswelten in modernen Gesellschaften weithin ignoriert und Glaubensorganisationen wie insbesondere die Kirchen bestenfalls als repressive Moralagenturen, «schwarze Polizei» oder herrschaftslegitimatorische Büttel eines autoritären Obrigkeitsstaates in den Blick genommen.
Die Industriestadt Schlobin (Gebiet Homel) liegt im Südosten der Republik Belarus und galt im August 2020 als eine der Hochburgen der Protestbewegung gegen das Lukaschenka-Regime. Zwei der vielen Schlobinern und Schlobinerinnen, die sich gegen die Diktatur auflehnten, waren der 18-jährige Jauhen Kachanouski und der drei Jahre ältere Dzmitryj Hopta. Am 5. Februar 2021 wurden sie wegen Beteiligung an „schweren Unruhen“ und „Widerstand gegen die Miliz (Polizei)“ vom Rayongericht Schlobin zu einer Haftstrafe verurteilt: Kachanouski, der noch im August festgenommen worden war, soll dreieinhalb Jahre im Gefängnis verbringen; Hopta, der vor dem Prozess auf freiem Fuß geblieben war, zwei Jahre. Obschon Hopta milder als Kachanouski bestraft wurde, rückte vor allem der 21-jährige Schlobiner ins Blickfeld belarusischer Medien: Die in Schlobin als regimetreu und hart bekannte Richterin Iryna Pradun stellte sich auf die Seite des wenig überzeugenden Staatsanklägers Andrej Anoschka, der die drastischen Haftstrafen für die Angeklagten (dreieinhalb Jahre für Kachanouski und zweieinhalb Jahre für Hopta) gefordert hatte. Während Kachanouski seine Schuld bestritten und außerdem über polizeiliche Folter berichtet hatte, zeigte sich Hopta reumütig, wodurch seine Haftstrafe etwas verkürzt wurde. Hoptas geistige Behinderung und die Tatsache, dass sich der Beschuldigte seit Jahren in psychiatrischer Behandlung befindet, wurden hingegen außer Acht gelassen.
Ist der Fall Hopta eher ein Betriebsunfall der „übereifrigen Provinzjustiz“ oder verdeutlicht er vielmehr, dass die belarusische Diktatur in ihrer Repressionspolitik eine weitere rote Linie überschritten hat? Welche Rolle spielen Menschen mit Behinderung im Kontext der Protestbewegung? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages.