Praktiken der Zugehörigkeit im Flüchtlingscamp. Die urdusprachige Minderheit in Bangladesch – der lange Schatten der indischen Teilung
- Das Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien 1947 zerteilte das Land nicht nur, sondern verursachte auch (jahrzehntelange) Migrationsbewegungen. In den Ostteil des neu gegründeten Pakistans migrierten urdusprachige Muslime, die der banglasprachigen Mehrheitsgesellschaft trotz gemeinsamer Religionszugehörigkeit überwiegend fremd gegenüberstanden. Als die Spannungen zwischen den ungleichen pakistanischen Landesteilen im Kampf um die Unabhängigkeit Ostpakistans eskalierten und daraus 1971 der neue Staat Bangladesch entstand, galten die Urdusprachigen als »Volksverräter« und verloren ihre Staatsbürgerschaft. Zum Teil bis heute leben sie mit ihren Nachkommen in mehr als 100 Flüchtlingscamps innerhalb des Landes. Der seit über 40 Jahren andauernde Wartezustand dieser Gruppe führt zu unterschiedlichen Strategien und Konflikten. Geschlecht, Bildung und besonders das Alter entscheiden über das Selbstverständnis der Campbewohner: Während sich die ältere Generation weiterhin für eine Repatriierung nach Pakistan einsetzt, fordern die Jüngeren verstärkt die bangladeschische Staatsbürgerschaft, die 2008 vom Obersten Gerichtshof des Landes formal anerkannt wurde. Dazwischen steht eine große Zahl Unentschlossener, die sich mit den Camps arrangiert hat. Der Aufsatz zeigt, dass weder Staatsangehörigkeit noch Staatenlosigkeit festgefügte Identitäten sind; Flüchtlingscamps sind zugleich Orte des Transits, der Vergemeinschaftung und der Stigmatisierung. Der praxeologische Ansatz des Diasporakonzepts bietet Zugang zu der perpetuierten migrantischen Situation der Urdusprachigen.
- The end of British colonial rule in India in 1947 not only divided the country but also caused migratory movements. Urdu-speaking Muslims migrated to the eastern part of the newly founded state of Pakistan, but largely remained foreign in a Bangla-speaking majority society despite a shared religious affiliation. As domestic political tensions between the unequal Pakistani regions mounted in the struggle for East Pakistan’s independence as Bangladesh in 1971, the Urdu-speaking people were considered ›traitors to the people‹ and stripped of their citizenship. To this day, many of them live with their descendants in more than 100 refugee camps within the country. This group has been in a state of waiting for over 40 years, resulting in different strategies and conflicts. Gender, education and especially age determine how the inhabitants of the camps view themselves. While the older generation continues to advocate repatriation to Pakistan, the younger generation is increasingly demanding Bangladeshi citizenship, their right to which was formally recognised by the country’s Supreme Court in 2008. There are also many between these two poles who are undecided and have reconciled themselves with living in the camps. The article shows that neither nationality nor statelessness are fixed identities; refugee camps are also places of transit, community-building and stigmatisation. The praxeological approach of the diaspora concept provides insight into the ongoing migrant situation of the Urdu-speaking people.